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Über „Leonardo im Labor“. Teil II

Text: Peter Tepe | Bereich: Über „Kunst und Wissenschaft“

Übersicht: Die Rezension besonderer Art von Leonardo im Labor – Kunst & Wissenschaft im 21. Jahrhundert. Herausgegeben von Sabine B. Vogel. In: Kunstforum International, Bd. 277, Oktober 2021, S. 50–189 wird mit Teil II fortgesetzt.

Meine Besprechung, die wegen der Fülle des Materials auf vier Teile angelegt ist, weist folgende Besonderheiten auf:

• Die wichtigsten Punkte werden mithilfe von Zitaten relativ ausführlich dargestellt, damit auch diejenigen, welche nicht dazu kommen, den Band zu lesen, erfahren, was auf dem Feld Kunst und Wissenschaft geschieht.

• Um den Überblick zu erweitern, wird auf w/k-Beiträge zu den von Sabine B. Vogel behandelten speziellen Themen verwiesen.

• An einigen Stellen wird skizziert, welche Vertiefungen mit der in w/k angewandten Methode möglich sind. Aufgrund der letzten beiden Punkte ist mein Text mehr als eine Rezension üblicher Art.

• Teil II bezieht sich auf die Seiten 92–139. Teil III wird in Kürze folgen.

4. Gespräch mit der Gruppe Troika

 „Eines der frühen Werke ist unsere Elektrosonden-Installation ‚Elektroprobe’. Im Herzen befindet sich ein magnetisches Mikrofon, das wir Elektroprobe nennen. […] Für die Installation haben wir elektronische Objekte, Kameras, Laptops, Bildschirme, Uhren und ähnliches aufgestellt. Sobald das mechanisierte Mikrofon darüber schwebte, hört man das unheimliche Summen, Murmeln und Pfeifen einer ansonsten kaum wahrgenommenen Klanglandschaft – es ist wie unheimlicher, interner Dialog zwischen scheinbar lebendigen Objekten.“ (94)

„‚Limits of a Known Territory‘ ist eine ortsspezifische Installation von Troika, die 200 Quadratmeter eines Innenraums in eine dämmrige, scheinbar verlassene Umgebung verwandelt, die mit Wasser geflutet ist. Die Galerie hallt von dem variablen Klang von elf Wasserströmen wider, die von der Decke tropfen und sich auf unterschiedliche und ungewohnte Weise verhalten […]. Der Besucher navigiert durch den Raum, indem er über Trittsteine geht, die auf dem Boden verstreut sind.“ (96)

„Wir haben im Laufe der Jahre gelernt, mit Wissenschaft und Technologie zu spielen und in sie einzugreifen“ (94). „Als Künstler*innen interessieren wir uns für die Veränderungen, die die Technologie bewirkt hat, und wie diese Veränderungen unsere Vorstellungen von Raum, Zeit und Kultur kontinuierlich beeinflussen.“ (95) Der Gruppe geht es um die „Auswirkung, die [die Technologie] auf unser Weltbild hat“ (96). Ihre Kunst reflektiert diese Veränderungen – auch kritisch, wie die Rede von „einer übermäßig rationalisierten Gesellschaft“ (95) zeigt. In die w/k-Systematik kann das im Vorfeld einer intensiveren Analyse als technologiebezogene Kunst eingeordnet werden.

5. Gespräch mit Martin Walde

„Ich wollte für ein größeres Ausstellungsprojekt einen Boden produzieren, der unter der Oberfläche, die unstrukturiert gleichmäßig schwarz erscheint, in verschiedenen Weichheit- bzw. Härtegraden definiert ist. Man blickt auf eine 20 mal 20 Meter messende Bodenfläche. Bewegt man sich in den Raum hinein, nimmt man den Boden einmal hart, dann weicher wahr. Irgendwo in der Mitte zum Beispiel ist der Boden schlammig weich.“ (102)

Dieses Projekt, das der Kooperation eines Künstlers mit Wissenschaftlern/Technikern/Firmen zugeordnet werden kann, sollte mit der Firma Bayer realisiert werden, was aber nicht gelang.

Zum künstlerischen Konzept heißt es: „‚Swamp/Soft Floor‘ stellt das Verfestigte, das Erstarrte und das Monumentale als einen dominanten gesellschaftlichen Wert in Frage.“ (102) Im Medium der Kunst wird nach einer Alternative dazu gesucht, die, würde sie gefunden, auch für andere Zwecke genutzt werden könnte.

In „Kooperationen mit Spezialisten“ hat Martin Walde

„Materialien, die eine Formung im ‚weichen‘ […] Aggregatzustand ermöglichen, verschiedene verfahrenstechnische Methoden entwickelt, zum Beispiel zähflüssiges Silikon formfest in Schwebe zu halten. Da Silikon bei Feuchtigkeit besonders gut aushärtet, kann das händisch geformte Silikonobjekt im Gel verbleiben, bis es ausgehärtet ist. Diese Methode ermöglicht die kontrollierte Formung ohne Gussform und ohne großen Zeit- und Arbeitsaufwand – ein Objekt wie die ‚Tales of PP‘ kann so in drei Minuten entstehen. Bei den Objekten des prozessualen Arbeitskomplexes ‚Solvent Scale‘ führte die Suche nach einer Realisierungsmöglichkeit in enger Zusammenarbeit mit dem Glastechniker Bernd Weinmayer zu einer neuen Glasformungsmethode. Bernd Weinmayer nennt sie 3D-Fusing.“ (102f.)

Im Teamwork entstehen so Neuentwicklungen, die Walde für seine künstlerische Arbeit nutzt. Ein damit verwandtes Projekt wird in Helmut Rickes w/k-Beitrag vorgestellt:

Renato Santarossa: Glas-Kooperationen

„Ich arbeite viel mit skulpturalen, installativen Formen, die unfertig wirken […]. Das ist eine bewusst von mir gesetzte und entwickelte Strategie, um eine performative Interaktion des Publikums zu fördern. Die meisten dieser Arbeiten mit offenen Enden haben sich auf diese Weise nach jeder Konfrontation mit der Öffentlichkeit verändert, ohne den Anspruch einer endgültigen ‚Lösung‘.“ (104)

Waldes künstlerisches Programm lässt somit im Einzelfall mehrere Ergebnisse zu. Zur künstlerischen Strategie gehört es in einigen Fällen auch, bei den Rezipienten „eine Veränderung von Handgriffen zu provozieren“ (104).

„In einer Reihe von skulpturalen Arbeiten suche ich nach Möglichkeiten, Zwischenstufen der Aggregatzustände von flüssig – fest zu stabilisieren und diese auch für Anwendungen nutzbar zu machen.“ (106) Walden spricht hier „von der Entwicklung von prä-inventiven Strukturen, die zunächst abstrakt und ohne Aufgabenstellung die Ergebnisse aneinanderreiht und erst in der Folge ihr jeweiliges Potential betrachtet.“ (106) „Dennoch können diese Entwicklungen für Lösungsstrategien und Erfindungen genutzt werden. Aber die Ambition meiner Kunst ist es nicht, Erfindungen zu machen.“ (106)

Walde hat auch „ein neuartiges Druckverfahren für Fotografien“ (105) entwickelt:

„UMT basiert auf einfachen chemisch-physikalischen Grundlagen, nutzt und vernetzt wissenschaftliche Erkenntnisse für eine individuelle Nutzung und stellt standardisierte Dienstleitungen für ‚know how‘ und die damit verbundene Materialität durch die Industrie in Frage.“ (106)

Das allgemeine Interesse an der Infragestellung des Standardisierten zeigt sich somit auch beim Druckverfahren.

6. Text von Kathrin Busch

In den Abschnitten 6–10 wird das Thema künstlerische Forschung behandelt. Ich nutze die Gelegenheit, meine in der w/k-Reihe Über Konzepte der künstlerischen Forschung stattfindende Auseinandersetzung fortzuführen, um meine Position weiter auszubauen.

Kathrin Busch gehört zu den wichtigsten Theoretikerinnen der künstlerischen Forschung. Im Artikel

Über Konzepte der künstlerischen Forschung 2.2

der im Mythos-Magazin erschienen ist, findet sich ein kritischer Kommentar zu Buschs Aufsatz Wissenskünste. Künstlerische Forschung und ästhetisches Denken; diese Kritik wird im Folgenden angewandt.

In der künstlerischen Forschung hat „das Wissen, das sie in sich aufnimmt und zur Kunst macht, eine wiedergängerische Form: Als gesichertes wird es zum Verschwinden gebracht und kehrt als ungewisses, spekulatives oder phantasmatisches zurück.“ (109) Mit der künstlerischen Forschung „werden alle Varianten des Erkennens, seien es philosophische Einsichten oder wissenschaftliche Ergebnisse, zum Material von Kunst, das sie traktiert und verschiebt.“ (109)

Das sich lässt sich vor allem auf das beziehen, was in w/k als wissenschaftsbezogene Kunst bezeichnet wird: Im Rahmen unterschiedlicher individueller Kunstprogramme, die jeweils auf spezifische Gestaltungsziele ausgerichtet sind, wird auf Theorien/Methoden/Ergebnisse dieser oder jener Wissenschaft – einschließlich der Philosophie – zurückgegriffen. Daraus ergibt sich eine Kritik an von Busch formulierten Thesen: Die künstlerische Arbeit am „Stand des Wissens“ verwandelt die Kunst nicht „in eine Erkenntnisform eigenen Rechts“ (109), sondern nutzt das jeweilige Wissen zu künstlerischen Gestaltungszwecken, was in Einzelfällen, die genauerer Untersuchung bedürfen, mit dem Gewinn von Erkenntnissen verbunden sein kann. Daher halte ich es nicht für zutreffend zu sagen, dass die Kunst in der künstlerischen Forschung „in ein Gefüge von Wissenspraktiken ein[tritt], dessen gesamter Charakter sich dadurch transformiert.“ (109)

„[D]er künstlerischen Forschung wirft man vor, sie reduziere Kunst darauf, ein Medium kritischen Wissens zu sein. Dabei gilt es zu verstehen, dass hier umgekehrt das Wissen als Medium der Kunst fungiert. Es wird mit den formgebenden Mitteln der Kunst bearbeitet und virtualisiert.“ (109)

Auch hier setze ich die Akzente anders:

• Kunstproduktion aller Art beruht stets auf bestimmten Hintergrundannahmen, z.B. weltanschaulicher und soziopolitischer Art. Aus solchen Hintergrundannahmen werden dann künstlerische Ziele gewonnen. Als die jeweilige Kunstpraxis prägend kann sich auch eine kritische Theorie dieser oder jener Art erweisen.

• Bei der Analyse von Kunst und speziell von Formen künstlerischer Forschung, die von bestimmten kritischen Überzeugungen (die z.B. aus der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule oder der Machtanalytik Michel Foucaults stammen können) getragen werden, sind zwei Zusammenhänge zu unterscheiden: Einerseits ist eine solche Form der Kunst aufgrund ihrer Abhängigkeit von bestimmten Hintergrundüberzeugungen „ein Medium kritischen Wissens“. Andererseits werden die jeweiligen Hintergrundüberzeugungen „mit den formgebenden Mitteln der Kunst bearbeitet“. Das eine schließt das andere nicht aus.

„Mit dem Essay teilt die künstlerische Forschung eine implizite Wissenschaftskritik. Sie bezieht sich heute nicht mehr nur wie bei Adorno auf den Anspruch der Gewissheit, Systematik und Universalität, sondern auch auf jene neuen, die Kreativität beanspruchenden fluiden Wissenspraktiken, die auf Innovation ausgerichtet sind.“ (109)

• Nach meiner Auffassung ist nicht dem Essay als solchen eine „implizite Wissenschaftskritik“ zuzuschreiben – diese Haltung findet sich nur bei einigen Essayisten.

• Zwar sind Künstlerinnen und Künstler, die sich der künstlerischen Forschung zurechnen, auf Innovation ausgerichtet, aber das gilt auch für Künstler anderer Art. Darüber hinaus streben z.B. auch die Erfahrungswissenschaften in den verschiedenen Disziplinen nach innovativen Erweiterungen der Erkenntnis.

7. Die von Kathrin Busch ausgewählte und kommentierte Bildstrecke

In diesem Abschnitt bringe ich meine Einschätzung von Künstlerinnen und Künstlern, die sich der künstlerischen Forschung zurechnen oder von anderen als Vertreter der künstlerischen Forschung eingeordnet werden, zur Geltung. Bei allen Formen der Kunst im Allgemeinen und der künstlerischen Forschung im Besonderen bin ich bestrebt, die ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen, Konzepte, Ziele zu erschließen. Anhand der beiden ersten Beispiele, auf die mich beschränke, skizziere ich eine Anwendung der Methode allein auf der Grundlage des Textes und der Bilder, die natürlich weiterer Ausarbeitung bedürften.

Mareike Bernien/Alex Gerbaulet: Ghostly Extractions (2020)

„Eine leuchtende Figur in nächtlicher Landschaft: gespenstisch und surreal – sie steht für die Spur radioaktiver Strahlung“; Gegenstand des Films Ghostly Extractions „sind unter anderem die Abbaugebiete in der ehemaligen DDR, in denen von 1946 bis 1990 unter strenger Geheimhaltung […] Uranerz für das Atomprogramm der UdSSR gewonnen wird.“ (110)

Es handelt sich um einen von einer kritischen Haltung genauer zu bestimmender Art (welche eine ausgeformte kritische Theorie sein kann, aber nicht muss) getragenes filmisches Experiment, welches „[d]as Erzgebirge als zentrale politische Landschaft des Kalten Krieges“, die geologische Konstellation, „eine im Untergrund agierende Umweltbewegung und das ‚Gespenst des Kommunismus‘“ (110) thematisiert.

Das „filmessayistische Projekt“ unterscheidet sich von einem auf Aufklärung über die relevanten Zusammenhänge ausgerichteten Dokumentarfilm:

„Es setzt bei der Unsichtbarkeit des radioaktiven Stoffes an und kartiert dessen sichtbare Folgen, wenn er im Schreckgespenst atomarer Vernichtung, in den Lungengeschwüren der ehemaligen Arbeiterschaft und den Abraumhalden des Tagebaus Sichtbarkeit erlangt.“ (110)

Mit der kritischen Grundhaltung ist eine spezifische künstlerische Strategie verbunden, die sich für die „sich auf Bildträgern visualisierende[] Zersetzungskraft“ interessiert; dabei experimentieren Bernien/Gerbaulet „mit UV- und Infrarotstrahlungen“, „mit fluoreszierenden Stoffen, die sie anleuchten, um poetische Bilder der Heimsuchung zu schaffen“ (110).

Ich weise auf zwei w/k-Beiträge hin, die sich hier anschließen lassen:

Helmut Schweizer: Wissenschaftskritische Kunst

Helmut Schweizer – eine Annäherung

Uriel Orsow: Theatrum Botanicum (2015–2018)

„Orlows künstlerische Botanik setzt, anders als der systematisierende Zugriff der Wissenschaft, beim Singulären an. Seine Einzelstudien gehen von der befremdlichen Tatsache aus, dass der Botanische Garten von Kapstadt mit seiner europäischen Klassifikation das indigene Pflanzenwissen vollständig unterschlägt.“ (112)

Vor dem Hintergrund einer kritischen Theorie des Kolonialismus kann es zu einem künstlerischen Ziel werden, einen kritischen Blick auf die Konzeption des Botanischen Gartens von Kapstadt zu werfen und den Finger auf die Vernachlässigung des indigenen Pflanzenwissens zu legen. Künstlerische Forschung ließe sich in einem solchen Fall genauer bestimmen als kolonialismuskritische Kunst, die von spezifischen theoretischen Annahmen getragen wird. Aus einer solchen Perspektive lässt sich eine Vielzahl von Kunstprojekten ableiten. Ein Beispiel:

„Eine weitere Arbeit zur Migrationsgeschichte afrikanischer Pflanzen folgt dem Weg der Geranie in die blühenden Beete Floridas und auf die Balkone Mitteleuropas, wo sie, weil man ihre Herkunft aus Afrika vergessen hat, für Heimat stehen.“ (112)

Die Heterogenität des Werks wird von Busch darauf zurückgeführt, dass Orlow „sich sowohl dem wissenschaftlichen Ideal der Konsistenz wie dem Anspruch einer einheitlichen künstlerischen Sprache widersetzt.“ (112)

Auf die Texte zu Karina Nimmerfall, Lawrence Abu Hamdan und Henrik Olesen werde ich später eingehen.

8. Gespräch mit Alexander Damianisch

„An der Universität für Angewandte Kunst in Wien leitet Alexander Damianisch das Zentrum Fokus Forschung. Dort werden Projekte im postgradualen Feld von Kunst und Wissenschaft entwickelt und koordiniert.“ (122)

Bezogen auf ein Förderprogramm heißt es: „Es geht darum, eine Forschung zu ermöglichen, die als conditio sine qua non künstlerische Praxis hat“ (122). Das entspricht dem, was andere Forschung in der Kunst nennen. Dabei gibt es nach Damianisch „eine Entwicklung zum Cross- und Interdisziplinären. Es scheint erfolgversprechend, sich an die Grenzen und darüber hinauszuwagen.“ (122f.) Das gilt aber auch für andere Formen der Kunst.

Wie wichtig sind begriffliche Artikulationsformen […]?“ (122)

„Oft hilft die Verschriftlichung bei der Planung, bei der Umsetzung und bei der Dokumentation, sicher was die Kommunikation über diese (oder andere) Schritte anbelangt, oft aber auch bezüglich der inneren Orientierung im Prozess der Forschung selbst.“ (123)

Hier ist indes zu unterscheiden zwischen Programmen der freien Kunst, welche auf begriffliche Artikulationsformen zurückgreifen, und Regelungen an Kunsthochschulen, die z.B. von Abschlussarbeiten eine bestimmte Art der Verschriftlichung verlangen.

Künstlerische Forschung (KF) bezieht „sich auf alle möglichen bestehenden Genres der Künste“, kann aber wohl nicht – wonach gefragt wird – „als neues Genre wie Malerei oder Bildhauerei“ (123) verstanden werden. Nach meiner Auffassung lässt sich die als künstlerische Forschung bezeichnete künstlerische Praxis zwanglos als neuartige und in vielen Varianten auftretende Kunstrichtung oder -strömung begreifen. In diesem Sinne kann man sagen, dass „sich die bildende Kunst durch KF“ (123) verändert. Im Einklang damit steht Damianischs Verteidigung der „Idee der Autonomie der Kunst“: „Die Autonomie der Kunst wird durch KF gestärkt“ (124).

„Führt KF zu Veränderungen in den Wissenschaften, etwa durch neue Präsentationsweisen? Ich hoffe schon“ (124). Hier klingt ein wichtiges Thema an, wobei ich zwei Ebenen unterscheide:

• Hat künstlerische Forschung als spezifische Kunstpraxis Auswirkungen auf die wissenschaftliche Forschung – auf die Theoriebildung, die Methoden, die Ergebnisse in dieser oder jener Disziplin? Wird das behauptet, so bedarf es in jedem Einzelfall des Nachweises.

• Hat künstlerische Forschung Auswirkungen auf die Präsentation wissenschaftlicher Forschungsergebnisse? Einige, die sich als künstlerische Forscher verstehen, präsentieren wissenschaftliche Forschungsergebnisse auf eine künstlerische oder zumindest kunstnahe Weise. Das ist zweifellos möglich; Vor- und Nachteile sind abzuwägen. Siehe dazu vier w/k-Beiträge:

Kunstbezogene Wissenschaft – ein neuer w/k-Bereich

Vorlesungstheater

Zirkuskünste in Berlin um 1900­ – multimedial, experimentell und unerforscht

Zirkuskünste in Berlin um 1900 – Teil II

9. Gespräch mit Lutz Hengst

Lutz Hengst zufolge gibt es „einen neuen Start forschungsaffiner Kunst im späten 19. Jahrhundert […]. Georges Seurats konsequente Rezeption optischer Theorien für pointillistische Gemälde kann als ein Beginn [künstlerischer Forschung, P.T.] gelten“ (128). Ich schlage vor, den Pointillismus genauer als Form der wissenschaftsbezogenen, auf Theorien/Methoden/Ergebnisse einer bestimmten Wissenschaft zurückgreifenden Kunst zu bestimmen.

„Besonders die Adaption und auch Verfremdung von Verfahren unterschiedlicher Fächer, das systematische Sammeln, Ordnen und Testen von Objekten, die dokumentierte Recherche sowie deren werkzentrale Positionierung – das zählt zum Haupt-Anlage- und Ausdrucksrepertoire, durch das sich künstlerische Forschung definieren lässt. Intentional reicht das Spektrum von Kritik über Ironie bis zu Kollaboration und eigenem Wissensgewinn.“ (128)

Damit werden Besonderheiten einiger Formen der künstlerischen Forschung als Kunstpraxis zutreffend bestimmt.

„Wofür benötigen Künstler*innen ein Doktorat? Faktisch benötigt wird der Titel da, wo mit der Institutionalisierung entsprechende akademische Berufsprofile entstehen.“ (128) Zunächst sollte der Entstehungszusammenhang geklärt werden. Hier hat der Bologna-Prozess eine Hauptrolle gespielt: Wird die Gliederung des Studiums in die Etappen Bachelor, Master und Promotion auch auf Kunsthochschulen übertragen, so drängt sich die Frage auf, ob hier ein neuartiges Promotionsstudium eingeführt werden sollte. Einige bildungspolitische Konzepte der künstlerischen Forschung wollen das tun und liefern Begründungen für die Einführung einer Künstlerpromotion – siehe dazu meine Reihe Über Konzepte der künstlerischen Forschung im Mythos-Magazin.

In w/k kann der Beitrag

Socially Engaged Practice-Based Research: A PhD Pathway for Artists

zur Vertiefung genutzt werden. Hengst hat sich „in [s]einer Zeit an der Berliner Universität der Künste für die Vergabe eines neuen und spezifischen PhD-Grades eingesetzt.“ (129) Im bildungspolitischen Diskurs sind die vorgelegten Begründungen kritisch zu prüfen; darauf gehe ich jetzt nicht näher ein. Sind mit der Institutionalisierung der künstlerischen Forschung als Bildungstheorie, als Kunsttheorie und als Kunstpraxis neue „akademische Berufsprofile“ entstanden, so kann es sein, dass an einer Künstlerpromotion kein Weg mehr vorbeiführt.

Hengst unterscheidet dann zwei Varianten:

„Soll künstlerische Forschung das Unbeachtete oder Defizitäre wissenschaftlichen Forschens adressieren, können bewusstes Modifizieren oder auch das Umgehen von Methoden gerade zielführend sein.“ (129)

Das lässt sich auf das von Elke Bippus, Dieter Mersch, Hannes Rickli und anderen vertretene Verständnis künstlerischer Forschung beziehen; siehe dazu

Über Konzepte der künstlerischen Forschung 2.1. Zu Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens.

Über Konzepte der künstlerischen Forschung 2.1. Zusammenfassung.

Das Folgende beziehe ich demgegenüber auf die vor allem von Henk Borgdorff vertretene Position:

„Wird hingegen künstlerische Forschung als ein akademisches Programm verstanden, das auf ein Gleichziehen mit Wissenschaft zielt, so ist sie an der Regeleinhaltung zu messen. Das dürfte allerdings kaum ganz ohne Einbuße von Freiraum und Eigenständigkeit zu haben sein.“ (129)

Siehe dazu:

Über Konzepte der künstlerischen Forschung 1. Zu Anton Rey/Stefan Schöbi (Hg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven.

Über Konzepte der künstlerischen Forschung 1. Zusammenfassung.

Auf die Frage, ob künstlerische Forschung als „neues Genre“ aufzufassen ist, antwortet Hengst:

„Als Sammelbegriff bietet sich zunächst der Begriff der konzeptuellen Kunst an, der Werke einfasst, die methodisch erschließende, studienhaft entwerfende und systematisierende Teile mindestens gleichrangig neben ein final extrahiertes Exponat stellen. Konzeptuelle Kunst ließe sich so als Gattung bezeichnen, innerhalb derer künstlerische Forschung ein Genre wäre, eines, das inzwischen einen sehr hohen eigenen Entwicklungsgrad erreicht hat.“ (129)

Das gilt jedoch nur für einige Formen der als Kunstpraxis verstandenen künstlerischen Forschung – zumindest dann, wenn man sich an den Selbsteinordnungen der Künstlerinnen und Künstler orientiert. Nicht alle Werke der so verstandenen künstlerischen Forschung enthalten „methodisch erschließende, studienhaft entwerfende und systematisierende Teile“.

Auf die Frage, ob künstlerische Forschung in den Wissenschaften zu Veränderungen führt, „etwa durch neue Präsentationsweisen“, lautet die Antwort: Seminare an der Universität Hamburg, „wie wir sie dort mit einer material- und feldforschenden Künstlerin wie Schirin Kretschmann haben, verändern unsere Perspektiven.“ (131) Auf wissenschaftlicher Ebene sollte versucht werden, diese Veränderungen genauer zu bestimmen – und dabei auch zu klären, ob es sich um für diese oder jene Wissenschaft direkt relevante Perspektivveränderungen handelt.

Richtig ist, dass „Mischformen künstlerischen und wissenschaftlichen Produzierens […] heute an vielen Stellen zu entdecken“ (131) sind. In w/k wird zwischen wissenschaftsbezogener Kunst und kunstbezogener Wissenschaft unterschieden. Auf die w/k-Beiträge zur kunstbezogenen Wissenschaft habe ich bereits hingewiesen.

„Im Hamburger Kunstverein fand 1875 die Ausstellung Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung statt. Aus diesem Titel und kuratorischen Ansatz entwickelte der Kunst- und Kulturwissenschaftler Lutz Hengst seinen Begriff der Spurkunst, den er als Alternative für jenen der Künstlerischen Forschung versteht.“ (127)

„Den Begriff habe ich an ein kuratorisches Projekt Günter Metkens aus dem 1970er Jahren angelehnt. Unter der Überschrift Spurensicherung zeigte er unter anderem Arbeiten von Christian Boltanski und Nikolaus Lang, für die ein mikrogeschichtlicher Zugang auf biographische Alltagszeugnisse charakteristisch war. Unverändert hilfreich sind die Begriffe, um alle Formen künstlerischer Forschung anzusprechen, die von historischen Beständen ausgehen. Neben Künstler*innen, die in der genannten Linie weiterarbeiten, denke ich an Projekte wie die von Forensic Architecture. Deren Beitrag zur documenta 14 umfasste die detailgesättigte Rekonstruktion des Tatortgeschehens eines NSU-Mordes, war damit also politisch aktueller als weite Teile der in gewisser Weise privatisierenden Spurkunst der 1970er Jahre.“ (132)

Hengsts Antwort auf die Frage, was er unter Spurkunst verstehe, zeigt, dass er den Begriff nicht (oder nicht mehr) „als Alternative für jenen der Künstlerischen Forschung“ auffasst, sondern als genauere Bestimmung derjenigen Formen der künstlerischen Forschung, „die von historischen Beständen ausgehen“.

Sehen Sie künstlerische Forschung in der Tradition des forschenden Künstlers als ein zeitgenössisches Leonardo da Vinci-Modell? […] [I]n dem Punkt der Überschneidung ausgeprägten Forschergeistes mit künstlerischer Produktivität bleibt Leonardo sicher eine Leitfigur. Eine sinnvolle Zielsetzung heutiger künstlerischer Forschung kann aber kaum, wie es ein Thema Leonardos war, die ingenieurtechnische Optimierung oberitalienischer Flussläufe sein. Zu sehen wäre sie für mich zum Beispiel im recherchebasierten Augenfälligmachen der ökologischen Krise von Gewässern“ (132).

Siehe dazu die beiden w/k-Artikel von Swaantje Güntzel:

Plastikmüll im Meer

Swaantje Güntzel: Meeresbiologie

10. Gespräch mit Katrin Hornek

Der österreichische Sedimentologe Michael Wagreich sprach die Wiener Künstlerin Katrin Hornek an,

„gemeinsam in dem interdisziplinären Projekt ‚The Anthropocene Surge‘ zusammenzuarbeiten. Ziel des vom WWFT auf vier Jahre geförderten Vorhabens ist es, die räumliche und zeitliche Entwicklung des Anthropozäns in den Wiener Sedimentschichten zu bestimmen – eines Zeitalter, das menschlich dominiert ist.“ (136)

Hornek erläutert das Vorhaben:

„Durch die von Menschen geprägten Sedimente will das Projekt ein Argument liefern, dass das Anthropozän nicht nur wenige Sekunden in der Erdgeschichte dauert, sondern massenhaft Material ab- und umgelagert wird […]. Wir versuchen, Daten zu liefern als Beitrag zur international geführten Diskussion um die Festlegung des Beginns dieser neuen Epoche.“ (136)

Das ist ein wissenschaftliches Projekt. Zu diesem gehören unter anderem die Analyse von „Bodenproben“ und „Grabungsdaten der Wiener Stadtarchäologie“ (136). „Unsere Geologin im Team Maria Meszar untersucht die Ausschüttungen auf geochemische Signale, also zum Beispiel auf Blei, das schon von den Römern verwendet wurde“ (136).

„Was ist dabei deine Aufgabe als Künstlerin?“ (137) Das ist eine wichtige Frage bei allen Projekten, die primär wissenschaftlich ausgerichtet sind, denn diese Aufgabe kann von der Künstlerin selbst und von anderen unterschiedlich bestimmt werden. „Ich habe mich lange sehr schwergetan, meine Rolle in dem Projekt zu finden.“ (137) Gut nachvollziehbar ist, dass Hornek auf Konferenzen „nicht im Modus der wissenschaftlichen Repräsentation über etwas sprechen“ (137) möchte.

„Ich habe zum Beispiel zu einer Konferenz historischen Ton mitgebracht, der als Aushubmaterial von einer Baustelle 1969 beim Bau der U-Bahn am Karlsplatz stammt […]. Auf der Konferenz habe ich allen Teilnehmer*innen einen Klumpen Ton in die Hand gegeben und sie auf eine Imaginationsreise durch die verschiedenen Modellierungen des Wiener Untergrunds mitgenommen.“ (137)

Das ist eine mögliche (und sinnvolle) Bestimmung der Rolle einer Künstlerin in einem wissenschaftlichen Projekt: Während die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „die verschiedenen Modellierungen des Wiener Untergrunds“ herausarbeiten, lädt die Künstlerin zu einer auch das Gefühl aktivierenden Imaginationsreise durch das Herausgefundene ein.

„Hatte der Wissenschaftler eine klare Vorstellung deiner Rolle, als er dich ansprach? Michael hat sich wahrscheinlich […] erhofft, dass ich die Visualisierung und Vermittlung nach außen übernehme. […] Jetzt sehe ich meine Rolle in der künstlerischen Modellierung der Daten, wahrscheinlich eine web-basierte Installation, die man selber durchwandern kann. Mit poetischen 3D-Modellierungen aus dem gesammelten Material, aber auch Filmen und anderen Informationen.“ (137)

Ich würde die „künstlerische[] Modellierung der Daten“ als komplexe Form der „Visualisierung und Vermittlung nach außen“ einordnen. Für diese gilt: „Ich lege keinen Wert auf wissenschaftliche Genauigkeit, sondern möchte einen Raum, der nur sehr schwer vorstellbar ist, bildlich durchdringen.“ (138)

„Subsumierst du deine Projekte unter dem Stichwort Künstlerische Forschung?“ (138) Aus der Sicht des w/k-Programms ist es nicht unerheblich zu erfahren, ob eine Künstlerin sich als künstlerische Forscherin begreift, aber auf wissenschaftlicher Ebene ist es wichtiger, das, was sie tut, genauer in die Systematik einzuordnen. Mein Vorschlag: Hornek arbeitet als Künstlerin in einem primär wissenschaftlich ausgerichteten Projekt mit; sie legt ihre künstlerische Beteiligung selbst in dem erläuterten Sinn fest. Diese Auskunft ist aussagekräftiger als ‚Ich betreibe künstlerische Forschung‘ und daher auf wissenschaftlicher Ebene vorzuziehen.

Hornek weist darauf hin, dass „immer mehr Wissenschaftler*innen […] künstlerische Formate“ (139) wählen. So bringt „Colin Waters, der Leiter der internationalen Anthropozän-Arbeitsgruppe“, das, was wissenschaftliche Forschung erarbeitet hat, in „ein kraftvolles Bild“ (139). Damit ist wieder der Komplex der kunstbezogenen, künstlerische Konzepte/Methoden/Ergebnisse verwendenden Wissenschaft angesprochen – siehe oben.

Beitragsbild über dem Text: Doppelseite aus Kunstforum International, Bd. 277 (2021). S. 52-53.

Zitierweise

Peter Tepe (2021): Über "Leonardo im Labor". Teil II. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d15391

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