Text: Stefan Oehm | Bereich: Beiträge über Künstler
Übersicht: Bereits früh für die existenziellen Gefahren und Gefährdungen moderner Technik sensibilisiert, nimmt sich Helmut Schweizer in einer zunehmend utilitaristisch geprägten Welt die künstlerische und intellektuelle Freiheit, einen Weg zu gehen, der etwas vom alten Geist der techné, der Wesensverwandtschaft von Wissenschaft, Technik und Kunst, atmet. Er spielt mit den Mechanismen der Wissenschaft, vereinnahmt mit frecher, subversiver Geste ihren Wahrheitsanspruch, um mit kritischem Bewusstsein auf die bedrohlichen Schattenseiten vermeintlicher Segnungen des Fortschritts zu verweisen.
1.
Es wäre schön, wenn die Dinge immer so einfach wären, wie manche Auguren sie gerne hätten. So fühlen sich Wirtschaftsweise und Trendforscher häufig berufen, finale Aussagen über mögliche zukünftige Entwicklungen zu treffen – dabei sind solche Prognosen reine Vogelschau und Kaffeesatzleserei. Tugendhafte Intentionen können z.B. Konsequenzen zeitigen, die bestehenden guten Absichten vollends zuwiderlaufen – Robert K. Merton nannte dies das „Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“. Moralisch verwerfliche Intentionen wiederum, so das Mandeville’sche Paradox, können äußerst fruchtbare Auswirkungen haben. Kommt es zu unzähligen gleichgerichteten intentionalen Handlungen, so ist ihr konkretes kollektives Resultat eine kausale Folge, die weder intendiert noch wirklich vorhersehbar ist – es ist dies die unsichtbare Hand von Adam Smith, die dem Linguisten Rudi Keller die Blaupause für eine verblüffend simple und zudem plausible Erklärung des Sprachwandels lieferte.
Solange wir uns im überschaubaren Rahmen kleiner Gruppen bewegen, sind dies theoretische Überlegungen, deren lebenspraktische Relevanz sich in Grenzen hält. Zumal dann, wenn die Intentionen auf wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Möglichkeiten rekurrieren, deren Potenzial ebenso überschaubar ist. Was aber, wenn sich die Dimensionen grundlegend ändern?
In seinem 1914 erschienenen, geradezu prophetischen Roman Befreite Welt (The World Set Free) entwickelt der britische Autor H. G. Wells ein dystopisches Szenario. Er beschreibt die Entdeckung einer Energiequelle von titanischem Format: der Kernenergie. Sie läutet in seinem Roman nicht nur das Ende des Kohle- und Stahlzeitalters ein, das dabei als kausales kollektives Resultat gleichgerichteter intentionaler Handlungen einen nicht-intendierten globalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel auslöst, der den größten Teil der Menschheit ins soziale Abseits befördert – sie bringt ebenso ungewollt, quasi als Abfallprodukt, auch eine Waffe apokalyptischen Ausmaßes hervor: die Atombombe.
Das ist aber nun einmal das Schicksal großer Potenziale: Sie sind nicht beherrschbar. Irgendwann läuft etwas schief. Wann auch immer. Und sei es in ferner Zukunft: Die Technik läuft nicht ewig störungsfrei – und der Mensch neigt dazu, Möglichkeiten nach seinem Gutdünken auszunutzen. Dann muss es noch nicht einmal, wie bei Wells, durch Menschenhand zum Äußersten kommen. Da würde in Friedenszeiten auch schon eine profane, rein technisch bedingte Kernschmelze im maroden belgischen Kraftwerk Tihange bei Aachen ausreichen, um diese Gefahr anhand einer Kontaminierung Nordrhein-Westfalens durch hochradioaktiven Niederschlag deutlich zu machen.
2.
Im Jahr 1946, dem Geburtsjahr von Helmut Schweizer, war die Welt in hellem Aufruhr. Wells’ Antiutopie war 1945 mit dem Abwurf der ersten Atombombe, Kosename „Little Boy“, Realität geworden. Das Grauen von Hiroshima, dem nur drei Tage später Nagasaki folgen sollte, erschütterte, gemeinsam mit den ersten Bildern aus den befreiten deutschen Vernichtungslagern, das Weltgewissen. Die Büchse der Pandora war geöffnet, nichts war mehr wie vorher.
Stand die Menschheit, stand man selbst als Individuum am Abgrund der Geschichte? Wie mit den verwirrenden Ereignissen umgehen? Ignorieren, verdrängen, sich in die innere Emigration zurückziehen? Oder den Aufstand proben und rebellieren? Auch viele Intellektuelle, z.B. Künstler, Philosophen, Psychologen und Soziologen waren in diesen Jahren aufgewühlt und mitgerissen. Sensibilisiert in unzähligen Debatten wollten sie weg vom geist- und verantwortungslosen, kollektiv determinierten Konformismus, weg vom Mann im grauen Flanell (Wilson 1955), dem Heidegger’schen „Man“, hin zu einer selbstbestimmten Individualität (Bakewell 2016: 320).
Charlie Parker sprengte mit seinen fiebrigen Bebop-Improvisationen die Stereotypen des Swing. George Orwells dystopischer Roman 1984 zeichnete 1949 das düstere Bild eines totalitären Überwachungsstaats. Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin schrieb aus dem selbstgewählten französischen Exil verzweifelt gegen seine doppelte Stigmatisierung als schwarzer Intellektueller und Homosexueller an. Simone de Beauvoir veröffentlichte ihr bahnbrechendes Werk Das andere Geschlecht, in dem sie die Rolle der Frau als das durch den sich absolut setzenden Mann zum Objekt degradierte Wesen anprangert und damit die feministische Debatte des 20. Jahrhunderts entscheidend prägte. Der entfremdete Mensch wurde zum zentralen Thema der Psychotherapie, die auf Basis existenzialistischer Ideen neue Analysekonzepte entwickelte. James Dean gab der um Orientierung ringenden Silent Generation 1955 in Rebel without a Cause ein Gesicht. Und Hannah Arendt veröffentlichte 1963 ihr Buch Eichmann in Jerusalem, in dem sie den autoritätshörigen, seiner Individualität entledigten Bürokraten eindringlich als die „Banalität des Bösen“ kennzeichnete.
Der Mensch sieht die Natur dann allein als bloße Ressource. Wird sie aber nur noch unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachtet, verkommt sie, so Heidegger, zum „Bestand“, den es lediglich zu erschließen und zu verarbeiten gilt. Die eigene und damit eigentliche Bedeutung der Dinge, d.h. diejenige, welche die Natur ohne die Zuschreibung durch den Menschen hat – eben die nicht durch Nützlichkeit, Verwertbarkeit oder Funktionalität geprägte – ignoriert der Mensch. Er macht sich damit schuldig, ist er doch nicht Nabel der Welt, sondern nur sterblicher Gast im weltlichen „Geviert“, in seiner Lebenswelt, die er zu schonen hat. Stattdessen wähnt sich der Mensch im Besitz der Lizenz zur technischen Beherrschung und Verfügbarmachung der Welt:
„Der Mensch ist auf dem Sprunge, sich auf das Ganze der Erde und ihrer Atmosphäre zu stürzen, das verborgene Walten der Natur in der Form von Kräften an sich zu reißen und den Geschichtsgang dem Planen und Ordnen einer Erdregierung zu unterwerfen.“ (Heidegger 2003: 372)
Auch treibt Heidegger die Sorge um, so 1969 in einem ZDF-Gespräch mit Richard Wisser, „dass wir in absehbarer Zeit im Stande sind, den Menschen so zu machen, d. h. rein seinem organischen Wesen nach so zu konstruieren, wie man ihn braucht.“ (Heidegger 1988: 25) Und vor der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt warnt er eindringlich: Mit der Verwüstung der Erde durch die globalen technischen Machtmittel verkommt nicht allein der Mensch, sondern auch die Natur zur reinen Ressource. Sie hat dann nur noch einen Wert als Mittel zum Zweck, mit deren Verlust derjenige der Heimat einhergeht.
4.
Wie kann hier ein Umdenken, eine Umkehr erfolgen? Die kritische Auseinandersetzung mit der Technik muss nach Heidegger „in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“ (Heidegger 2000: 36) Damit zeige sich die Kunst ursprünglich als „techne“, ist aber, im Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, nicht durch das Prinzip der Verwertbarkeit gekennzeichnet. Ein Kunstwerk wird nicht, so Heidegger, zu einem bestimmten Zweck angefertigt. Es kann nicht benutzt werden. In ihm leuchtet die Welt als Bedeutungsganzheit auf und kann uns so einen anderen, befreiten Weg zur Welt und zur Wahrheit aufzeigen, der sich nicht aus der normierten Weltsicht der Zweckbestimmung, Nutzenorientierung und Verfügbarkeit ableitet.
Wir sind immer schon Teil der Lebenswelt. Wie wir denken, wie wir handeln, was wir sind, ist durch unser Geworfensein in das soziale, ethnische, kulturelle oder religiöse Geflecht kontextuell bestimmt. Aber jede Lebenswelt erfährt zudem in jedem Menschen ihre je individuelle Ausprägung. Mehr noch: Jeder Mensch vermag diese Ausprägung in gewissem Rahmen intentional zu beeinflussen. Denn auch wenn, so Heidegger, das „Dasein“ dazu tendiert, unter die Herrschaft des unpersönlichen „Man“ zu fallen: Wir sind dazu befähigt und aufgerufen, wir selbst zu sein. Selbstständig zu denken und zu handeln. Selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen und unsere Authentizität zu wahren.
5.
In Helmut Schweizers Kosmos setzt Erkennen Denken voraus, das ihm gleichzeitig Eingriff in Fremdes bedeutet. Will ich Natur begreifen, muss ich, so Schweizer, eingreifen, angreifen, zerstören. Dabei ist ihm Natur nicht Gegenstand der Darstellung, sondern unmittelbares Medium des Eingriffs. Er entdeckt, entblättert, macht damit sichtbar, erkennbar und verstehbar. Er bricht Tabus, indem er gegen ungeschriebene Spielregeln des Umgangs mit Natur verstößt. Und erzwingt so in einem handgreiflichen Akt Erkenntnisgewinn. Provoziert eine neue Sicht der Dinge, macht uns sensibler im Umgang mit der Natur, um uns auch sensibler im Umgang mit uns und anderen zu machen.
Beitragsbild über dem Text: Helmut Schweizer: Melancolie · 12/26-3/11 · Une sale Marie & Le Pacifique radio-actif · A qui de droit (2010–2014). Foto: Mike Christian. Die Installation wurde im Rahmen einer Ausstellung im Kunstverein Ruhr Essen 2014/15 gezeigt.
Bakewell, Sarah (2016): Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails. München: Verlag C.H. Beck.
Heidegger, Martin (2000): Die Frage nach der Technik. In: Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a.M.: Verlag Vittorio Klostermann, S. 7–36.
Heidegger, Martin (2003): Holzwege. Frankfurt a.M.: Verlag Vittorio Klostermann.
Heidegger, Martin/Wisser, Richard (1988): Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser. In: Günther Neske/Emil Kettering (Hrsg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen: Verlag Günther Neske, S. 21–28.
Jungk, Robert (1959): Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt. Bern-Stuttgart-Wien: Verlag Alfred Scherz.
Keller, Rudi (1990): Sprachwandel. Tübingen: A. Francke Verlag.
Wells, Herbert George (1914): The World Set Free. London: Macmillan & Co.
Wilson, Sloan (1955): The Man in the Gray Flannel Suit. New York: Simon & Schuster.
Internetquellen
N.N. (1960): Robert Jungk: Strahlen aus der Asche. In: Der Spiegel Nr. 11, online unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43063504.html (Stand 29.6.2017).
Zitierweise
Stefan Oehm (2018): Helmut Schweizer – eine Annäherung. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d1946
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