w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst
Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Thomas Gartmann/Christian Pauli (Hg.): Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft. Bielefeld 2020

Text: Angelika Boeck | Bereich: Rezensionen

Der im Transkript-Verlag erschienene Sammelband reflektiert die bald zwei Dekaden Forschung (seit 2003) der ersten interdisziplinären Kunsthochschule der Schweiz, der Hochschule der Künste Bern (HKB). Die dort praktizierte transdisziplinäre Forschung setzt auf die Verbindung von wissenschaftlichen und künstlerischen Ansätzen, um sich praxisnah mit kulturwissenschaftlich, technologisch und gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu befassen.

In der Einleitung postuliert Thomas Gartmann, Leiter der HKB-Forschung, der Berner Fachhochschule (BHF), bzw. des BFH-Zentrums Arts in Context, sowie des Doktoratsprogramms Studies in the Arts, dass der Einsatz der Kunst als Mittel zur Erkenntnisgewinnung nichts Neues sei, sondern bis auf Leonardo da Vinci zurückgehe; es handle sich um eine hybride Form der Forschung. Dieser Tradition folgend, erklärt er, würden in der HKB künstlerische und akademische Forschung nicht als Gegensätze betrachtet, sondern beide Wege verbunden, da die Forscher*innen auch künstlerisch/gestalterisch tätig seien. Stolz teilt er mit, dass die HKB inzwischen Aufträge für angewandte Forschung erhält, dass beispielsweise HKB-Forscher*innen im Auftrag des Bundesamtes für Landwirtschaft Zukunftsvisionen entwerfen, und er vermutet, dass sich künftig weitere Ämter an Kunsthochschulen wenden werden, um Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu finden, weshalb die HKB ihren Bereich für Dienstleistung und Auftragsforschung ausbaue.

Die Einleitung bietet einen Überblick über die Forschungsbereiche der HKB (inklusive über deren Formation im Rückblick) und geht auf die Besonderheit ihres Promotionsprogramms, des sogenannten Berner Modells, ein. Es basiert auf der Kooperation der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern mit der HKB, bzw. der Gründung der Graduate School of the Arts (GSA) im Jahr 2011, welche das erste und für lange Zeit einzige schweizerische Doktoratsprogramm für Künstler*innen und Gestalter*innen anbot. Im Berner Modell profitieren die Doktorand*innen von der Verankerung des Studiums in beiden Institutionen. Sie erhalten eine Doppelbetreuung und erfahren multiple Perspektiven, wodurch den Absolvent*innen später sowohl der universitär-akademische wie auch der künstlerisch-gestalterische berufliche Weg offen stehen.

Der Band ist in vier Kapitel gegliedert: Potenziale nutzen (mit Texten von Janet Rittermann, Peter Fornaro, Reinhard Riedl, Andés Villa Torres), Partizipativ vermitteln (Dominik Landwehr, Kai Köpp / Johannes Gebauer / Sebastian Bausch, Anne Krauter, Jasmin. Sumpf), Relevanz herstellen (Rachel Mader, Mahroo Movahedi, Luzia Hürzeler, Tine Melzer / Tobias Servaas) und Zukunft gestalten (Michael Harenberg, Julia Grillmayr, Stefan Sulzer, Johannes M. Hedinger, Robert Lzicar / Miriam Koban, Priska Gisler).

Hier gehe ich nur auf den Bereich, der sich mit der Relevanz künstlerischer Forschung befasst, ein. Rachel Mader beschäftigt sich mit der Frage, ob Relevanz eine messbare Größe oder ein diskursiv hergestellter Wert ist. Mahroo Movahedis partizipative Forschung geht dem Einfluss von sensorischen Qualitäten und der Bedeutung von Landschaft für die Identitätsbildung einer Gesellschaft nach. Luzia Hürzelers Interesse gilt der Trennung von Natur und Kultur anhand des idealisierten und illusionistischen Bildes des Wolfes. Tine Melzer und Tobias Servaas befassen sich mit dem Einfluss von Bild-Text-Beziehungen auf unser Denken.

Etwas intensiver gehe ich auf den Beitrag von Rachel Mader ein, der bezogen auf das w/k-Programm von besonderer Bedeutung ist. Besonders interessant an dem Forschungsprojekt What can art do? Zur Relevanz von politisch engagierter Kunst seit 1960 der Luzerner Forschungsgruppe um Mader (2015–2019) finde ich deren Vorgehensweise. Die Kunstwissenschaftlerin, die an der Hochschule in Luzern den Forschungsschwerpunkt Kunst, Design, Öffentlichkeit leitet und ihre Kollegen (aus den Bereichen Kunst, Kunstgeschichte, Philosophie und Kunstvermittlung) analysierten die im Kontext der politisch engagierten Kunst seit den 1960er Jahren verwendeten Begrifflichkeiten mit einem Fokus auf die Debatte um die gesellschaftliche Relevanz künstlerischer Aktivitäten. Dabei wurde die Hypothese des interdisziplinären Forschungsteams, dass „Relevanz keine messbare Größe, sondern ein diskursiv hergestellter Wert ist, der im Austausch zwischen den involvierten Akteur*innen ausgehandelt wird“ (109), bestätigt. Bemerkenswert finde ich, wie die Expert*innen unterschiedlicher Sparten im Rahmen gemeinsamer Lektüre und der Besprechung ausgewählter künstlerischer Arbeiten zunächst Begriffe, die im Zusammenhang mit politisch engagierter Kunst immer wieder auftauchen, identifizieren (indem sie die einzelnen Begriffe der Spezifik ihrer jeweiligen Fächer zuordnen und mit ihrer Verwendung andernorts abgleichen) und dass sie sich in und mit ihrer Veröffentlichung (die es auf insgesamt 200 Einträge bringt) auf die 1979 erschienene Publikation von Raymond Williams Keywords. A Vocabulary of Culture and Society beziehen. Die als zentral angenommenen Begriffe wurden zu „Begriffswolken“ verdichtet, was es dem Team ermöglichte, „die blinden Flecken einer fachspezifischen Perspektive“ (210) zu erkennen.

Diese Vorgehensweise des Teams und deren selbstkritische Reflexion weisen exemplarisch auf die Produktivität interdisziplinärer Forschung hin. Dem von Gartmann in der Einleitung angekündigten Anspruch der Gleichzeitigkeit von Forschung und künstlerischer Produktion genügt dieses von mir ausgewählte Projekt jedoch nicht. Zwar sind die einzelnen Mitglieder der Forschungsgruppe wissenschaftlich und/oder künstlerisch tätig, jedoch wird die Forschung lediglich als Text präsentiert.

Der Band ist sehr lesenswert. Die darin beschriebenen interdisziplinären Forschungsprojekte sind innovativ und weisen auf eine vielversprechende Zukunft künstlerischer Forschung hin.

Beitragsbild über dem Text: Titelbild von Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft (2020).

Zitierweise

Angelika Boeck (2022): Thomas Gartmann/Christian Pauli (Hg.): Arts in Context – Kunst, Forschung, Gesellschaft. Bielefeld 2020. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d16245

Gib den ersten Kommentar ab

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert