w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst
Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Philipp Lachenmann: Delphi Rationale

Text: Christina Landbrecht | Bereich: Beiträge über Künstler

Übersicht: Philipp Lachenmanns Film DELPHI Rationale entstand während einer Wartungsperiode des Teilchenbeschleunigers Delphi am CERN. Zur Bühne des indischen Sarodspielers Ranajit Sengupta umfunktioniert, dauert es nicht lange, bis dessen ungewohnte Klänge den Detektor animieren: Hunderte Kabelstränge und -bündel beginnen farbig zu flirren. Es entwickelt sich ein eindrucksvolles, stimulierendes Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaften und Kunst.

Philipp Lachenmanns Film DELPHI Rationale hat zwei Protagonisten: Der eine heißt Ranajit Sengupta, der andere Delphi. Der eine ist ein mehrfach preisgekrönter Sarodspieler aus Indien, der als einer der besten Musiker seines Landes gilt. Beim anderen handelt es sich um einen in siebenjähriger Arbeit konstruierten Teilchendetektor. Dieses faszinierende Experimentalsystem befand sich bis vor kurzem in einem der unterirdischen Gänge des europäischen Forschungszentrums CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire).

Die bloße Monumentalität des Detektors ist atemberaubend, und so ist es kein Wunder, dass die erste Einstellung des Films ihn allein in den Blick nimmt. Die BetrachterInnen schauen auf eine verhältnismäßig kleine Vakuumkammer, um die herum ein gigantischer Ring aus Tonnen von Stahl gelagert ist. In regelmäßigen Abständen verlaufen Bündel aus blauen und gelben Computerkabeln durch ihn hindurch, und man fühlt sich zugleich an ein überdimensionales Auge wie an einen Strahlenkranz erinnert. Das eigentliche Experiment, für das diese Apparatur gebaut wurde − die Teilchenbeschleunigung und -kollision − ist im Film jedoch nicht zu sehen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass es sich im Inneren der hermetisch abgeschirmten Kammer vollzieht, in der Atome mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander zu rasen, um schließlich zu bersten. Es liegt auch daran, dass der Delphi Detektor zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen nicht in Betrieb war. Nur weil Wartungs- und Reparaturarbeiten durchgeführt wurden und daher keine Strahlungsgefahr bestand, konnte Philipp Lachenmann dem Teilchenbeschleuniger überhaupt so nahe kommen.

Im Zentrum des riesigen Detektors nimmt nach wenigen Minuten Ranajit Sengupta Platz. Seine Sarod liegt bereits auf einem Tisch, der mittels einer Hebebühne etwa auf Höhe der Vakuumkammer platziert wurde. Der Musiker erklimmt den Tisch, um im Schneidersitz einen Morgen-Raga anzustimmen. Die Töne, die Sengupta der Sarod entlockt, klingen ungewohnt, fremd, orientalisch. Sie sind Teil einer völlig anderen Musikkultur, als man sie im Westen kennt. Der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore nannte den Raga eine „Musik der Nacht“, da im Gegensatz zur westlichen Musik, die er als mathematisch-rational beschrieb, die indische Musik an das persönliche Empfinden des Musikers gekoppelt ist. Eine präzise Notenschrift kennt diese Musikkultur nicht, und der einzelne Ton hat eine wesentlich größere Bedeutung als der Akkord. Es ist das Hintereinander der Töne im Gegensatz zur Gleichzeitigkeit der Klänge westlicher Musik, das den Raga so anders klingen lässt.

Senguptas Spiel vor dem Teilchenbeschleuniger provoziert dementsprechend ein Bild, das von Gegensätzen geprägt ist: Ein physikalisches Experimentalsystem, das auf rational mathematischem Denken beruht, trifft auf eine Musik, die wiederum auf der Idee basiert, die subjektive Gefühlswelt des Musizierenden zu vertonen. Westliche und östliche Kultur, Mathematik und Improvisation stehen einander gegenüber. Eigenen Angaben des Künstlers zufolge war dieses Ausloten von Gegensätzen Konzept. Schließlich ging es in DELPHI Rationale nicht darum, wissenschaftliche Theorien zu visualisieren. Lachenmanns Anliegen bestand vielmehr darin, mithilfe des Mediums Film ein künstlerisches Gegennarrativ zur Naturwissenschaft zu entwickeln:

„Ein in einem wissenschaftlichen Umfeld produziertes Kunstwerk sollte nach meinem Verständnis nicht affirmativ sein, keine hübsche Veranschaulichung wissenschaftlicher Daten, keine Übersetzung des wissenschaftlichen Tuns in ästhetisch leicht verdauliche Formen, sondern es sollte eine gegensätzliche Position zur Wissenschaft beziehen, um unter anderem das Ringen nach Wissen zu invertieren, Augenblicke der Fantasie und Irrationalität hervorzurufen und ein anderes Narrativ einzuführen, das dem Betrachter letztendlich eine neue Verständnisebene für die menschliche Existenz eröffnet.“[1]

Philipp Lachenmann nutzt DELPHI Rationale demzufolge, um die Künste gegen die Welt der Wissenschaften auszuloten. Dies gelingt zum einen mithilfe des Live-Konzertes und zum anderen durch die Animation der Kabelbündel, die durch den stählernen Außenring verlaufen. Dadurch wird dem Teilchenbeschleuniger eine wahrlich malerische Dimension verliehen. Je länger Sengupta spielt, desto heftiger beginnen die einzelnen Kabel zu pulsieren und ihre Farbigkeit zu ändern. Das zauberhafte Changieren der Farben hat den Anschein, als würde die Sarod den Teilchenbeschleuniger zum Leben erwecken. Dieses Farbspiel nimmt bis zum Ende des Filmes seinen Lauf: Die anfangs gelben und blauen Bündel erscheinen zunächst in regenbogenähnlicher Farbvielfalt, um dann in verführerisches Orange und betörendes Lila getaucht zu werden und schließlich in tizianischem Karmesinrot zu leuchten.

Philipp Lachenmann: Delphi Rationale
Philipp Lachenmann: Delphi Rationale (2015–2017). Foto: Philipp Lachenmann.

Die Wahl der Farben ist keineswegs zufällig, sondern basiert auf Lachenmanns Analyse früher Technicolorfilme, darunter Vom Winde verweht, Der Zauberer von Oz und Der Garten Allahs, die alle in den 1930er Jahren entstanden. Der Künstler studierte deren Farbigkeit eingehend und erkannte schließlich, dass acht Farben die Filmepen dominieren. Diese extrahierte er und rekonstruierte sie digital, um dem Partikelbeschleuniger ein malerisches Leuchten zu verleihen. Das Resultat suggeriert die Verwandlung des Wissenschaftstempels CERN in einen Tempel der Sinnlichkeit.

Nun ist diese Verwandlung das Produkt eines langjährigen Arbeitsprozesses, und so sind es auch die technischen Aspekte, die vielen Stunden und das Know-how zahlreicher Experten, die in die Postproduktion flossen, die den Film so faszinierend machen. Man kann diesen Prozess gewissermaßen mit jenem vergleichen, der sich täglich im CERN vollzieht: Tausende Ingenieure und Physiker entwickeln zuerst in jahrelanger Arbeit ein einzigartiges Experimentalsystem, das dann dazu verwendet wird, Atomkerne zum Bersten zu bringen, um schließlich, mit den vereinten Kräften eines internationalen Forschungsverbundes, in den Trümmern nach deren Bausteinen zu suchen. In ähnlicher Weise ist DELPHI Rationale das Produkt einer faszinierenden Gruppendynamik. In Anbetracht des Materials, das während des Drehs im CERN entstanden ist, war die Ausgangssituation des Films alles andere als optimal. Die Hintergrundgeräusche waren viel zu laut und hatten einen negativen Effekt auf die Tonaufnahme von Senguptas Raga. Zudem litten die Filmaufnahmen an den schlechten Lichtbedingungen vor Ort. Zuletzt waren auch die Drehzeiten äußerst kurz: Lediglich sechs Stunden durfte überhaupt gefilmt werden, drei an einem Samstag und drei am darauf folgenden Sonntag, damit der Reparatur- und Wartungsprozess am Detektor nicht gestört wurde. Erst als das sechsstündige Filmmaterial einen fast dreijährigen Postproduktionsprozess durchlaufen hatte, der vor allem durch die Arbeit am Sound und die Nachbearbeitung der Kabelstränge geprägt war, entstand ein Film von betörender Sinnlichkeit. Dazu aber musste das Sarod-Spiel aus den unzähligen Nebengeräuschen herausgefiltert und der Film um einen Soundtrack erweitert werden, der von dem schwedischen Komponisten und Musiker Anders Ehlin stammt. Der Soundtrack eröffnet eine weitere musikalische Ebene, da durch ihn das farbgewaltige Spiel, das sich in den Kabelbündeln vollzieht, um eine ebenso starke Soundscape bereichert wird: In ihr verbinden sich industriell erzeugte Klänge wie der Start einer Boeing mit Tiergeräuschen und menschlichen Lauten wie beispielsweise schwerem Atmen. Die Animation der Kabelstränge verantwortete der junge Berliner Designer Stefan Stubbe, der zweieinhalb Jahre in diese Arbeit investierte. Mithilfe von circa 15.000 Masken zeichnete er die Kabelverläufe nach.

Was aber sagt uns der Film über die Teilchenphysik oder Lachenmanns Verständnis von ihr? Spricht man mit dem Künstler über das CERN und den Delphi Detektor, so wird schnell deutlich, dass Lachenmann nicht an den komplizierten physikalischen Theorien der Teilchenphysik interessiert ist. Was ihn im Gegenteil fasziniert, ist der metaphysische Aspekt der Teilchenphysik – konkret die Suche nach den Bausteinen der Materie, die im CERN stattfindet. „Was ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält?“ Diese Frage, die bereits Goethes Faust umtrieb, bildete auch das Movens für Lachenmanns Werk. Um der Frage, was Materie ist, auf die Spur zu kommen, folgte der Künstler der Geschichte des so genannten Gottesteilchens, wie das Higgs-Boson seit den 1990er Jahren oft verklärend bezeichnet wird. Dabei soll es sich um jenes Teilchen handeln, das Materie entstehen lässt. Man könnte es auch als Pseudopartikel auffassen, der jedoch über die entscheidende Kraft verfügt, die Atome zusammenzuhalten und Masse zu generieren. Theoretisch betrachtet besteht an der Existenz des Higgs-Teilchens, das nach einer Theorie des britischen Physikers Peter Higgs benannt wurde, längst kein Zweifel mehr. Experimentell wurde seine Existenz erst vor wenigen Jahren am CERN und mittels des Large Hadron Collider, eines noch größeren und aufwändigeren Teilchenbeschleunigers, bestätigt. Lange aber wurde um diesen Nachweis gerungen, und dies führte dazu, dass das Higgs-Teilchen in Physiker-Kreisen als „goddamn particle“ Berühmtheit erlangte. Als der amerikanische Teilchenphysiker Leon Lederman in den 1990er Jahren den Nobelpreis erhielt und kurze Zeit später ein Buch über sein Wirken als Forscher veröffentlichte, machte sein Verleger kurzerhand aus dem umgangssprachlichen Ausspruch „goddamn particle“ den Buchtitel The God Particle und untermauerte einmal mehr – sehr zum Leidwesen der meisten Physiker, Higgs eingeschlossen – den metaphysischen Aspekt der Teilchenphysik.

Genau dieser aber hat Lachenmann verführt und zu DELPHI Rationale inspiriert. Der Künstler ließ sich von den Geschichten und Begriffen leiten, die das CERN umranken und zu einem umworbenen Ort heutiger Wissensproduktion machen. In seinem Film wird das Forschungszentrum, in dem die Bausteine der Welt entdeckt und erforscht werden, zur Kulisse künstlerischer Selbstreflexion: DELPHI Rationale behandelt das Nachdenken über die Farbe, den Prozess des Malens sowie den anderen Anspruch, den Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft gemeinhin verfolgt. Der Film animiert die ZuschauerInnen zum phantastischen Schwärmen über das Finden und Erfinden.

Beitragsbild über dem Text: Philipp Lachenmann: Delphi Rationale (2015–2017). Foto: Philipp Lachenmann. Filmstill, 4K-Video mit Ton, 12 Min.

Zur Ausstellung sind drei informative Rezensionen erschienen:

▷ https://www.tagesspiegel.de/kultur/philipp-lachenmann-in-der-schering-stiftung-farbiges-geaeder/21175964.html

▷ http://www.art-in-berlin.de/incbmeld.php?id=4616

▷ https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5505948&s=werneburg&SuchRahmen=Print/


[1] Quelle: http://www.filmbaseberlin.de/delphi-rationale.html, letzter Zugriff: 08.05.2018

Zitierweise

Christina Landbrecht (2018): Philipp Lachenmann: Delphi Rationale. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d313

Gib den ersten Kommentar ab

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert