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Helmut Schweizer: Wissenschaftskritische Kunst

Text: Peter Tepe und Stefan Oehm | Bereich: Beiträge über Künstler

Übersicht: Helmut Schweizer ist ein wissenschaftsbezogener Künstler besonderer Art. Auf dem Gymnasium hat ihn der Unterricht in den Fächern Physik, Chemie und Biologie stark geprägt; er setzte auch empirische Schullabor-Versuche zuhause fort. Durch die Lektüre von Robert Jungks Buch über die Atombombenabwürfe auf Hieroshima und Nagasaki verwandelte sich die bisherige uneingeschränkte Begeisterung für die Naturwissenschaften jedoch in eine ablehnende Haltung gegenüber der Atomphysik, die zur Entwicklung der Atombombe geführt hatte. Diese kritische Position ist dann zur Grundlage für seine spätere künstlerische Arbeit geworden. Sein Lebensthema sind die zerstörerischen Wirkungen, zu denen die technische Nutzung bestimmter naturwissenschaftlicher Forschungen führt. Er gehört zu den Künstlern, die sich als Mahner begreifen.

Helmut Schweizer wurde 1946 in Stuttgart geboren und wuchs dort auf. Er besuchte hier das mathematisch-naturwissenschaftliche Leibniz-Gymnasium. 1967–1973 Studium an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste in Karlsruhe und 1970–1973 Studium der Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Karlsruhe. 1968 Gründung der Künstlergruppe PUYK. Schon in den 1960er Jahren künstlerisch-methodische Inspirationen durch die Avantgarde von Poesie, Jazz, Theater in Stuttgart. In den 1970er Jahren bei seinen Aufenthalten in Paris dann auch Impulse durch die Elektronische Musik und zahlreiche Theaterinszenierungen: Jean-Louis Barrault, Peter Brook, Ariane Mnouchkine, Klaus Stein und Robert Wilson. Teilnahme an der von Jan Hoet kuratierten documenta IX 1992. Bis heute zahlreiche Ausstellungen in namhaften Museen. Der folgende Text stützt sich auf ein ausführliches Gespräch mit dem Künstler, das am 29.5.2017 in seinem Atelier stattfand. Daraus stammen auch die Zitate.

Zum Weltbild von Helmut Schweizer und seinem Verhältnis zu den Naturwissenschaften

Helmut Schweizer gehört zu denjenigen bildenden Künstlern, welche in ihrer Arbeit auf wissenschaftliche Theorien/Methoden/Ergebnisse zurückgreifen. In w/k werden sie als wissenschaftsbezogene Künstler bezeichnet und z.B. von den Grenzgängern unterschieden, die sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich tätig sind. Zu unseren Zielen gehört es, die Wissenschaftsbezüge der Kunst von Helmut Schweizer intensiver zu beleuchten, um so ein vertieftes Verständnis seiner Arbeit zu ermöglichen. Für seine künstlerische Entwicklung sind vor allem die Physik, die Chemie und die Biologie bedeutsam geworden.

Helmut Schweizer: Der Berg, aus Nordhausen • Geschenke & Lorbeeren (1995–2010). Foto: Mike Christian.

Auf dem Gymnasium hat Helmut Schweizer der Biologieunterricht des Schulleiters Eugen Hübler, der ein renommierter Fachmann war, stark geprägt. Sein zusammen mit Hermann Linder verfasstes Lehrbuch Biologie des Menschen (Erstausgabe 1951) war vom Ende der 1950er bis Mitte der 1990er Jahre in vielen Bundesländern das Standardlehrbuch.

„Als der Mensch zentraler Unterrichtsstoff war und die Verdauung mit ihren Prozessen der Umwandlung von Nahrung in Energie behandelt wurde, entwarf ich – ziemlich begeistert von Hüblers Unterricht – eine Reihe von Schaubildern. Meine gezeichneten und gemalten Bildreihen und Sequenzen beschäftigten sich mit dem Speichel, den Magensäften, Galle, Bauchspeicheldrüse und Leber. Zu Dünndarm und Dickdarm entstanden mehrteilige Leporellos, zur Vererbungslehre bastelte ich sogar eine Art Weihnachtskalender zum Wandel der Augenfarbe im Zusammenhang menschlicher Familienbande.“

Im Chemieunterricht fanden Versuche, bei denen wechselnde Aggregatzustände oder farbliche Veränderungen zu beobachten waren, Schweizers besonderes Interesse. In der Physik faszinierten ihn vor allem die Versuche zu den Kräften in der Mechanik, der Wärme- und Elektrizitätslehre.

Das naturwissenschaftliche Interesse zeigte sich bei Schweizer während der Schuljahre noch auf andere Weise: In den 1950er und 1960er Jahren setzte er die empirischen Schullabor-Versuche zuhause mit Begeisterung fort:

„In Glasterrarien beobachtete ich Schnecken, Maikäfer, Eidechsen, Heuschrecken und anderes Getier der heimischen Fauna, hatte im Keller auch ein kleines Chemie- und Elektrolabor, führte Berichtshefte mit kleinen Skizzen und sammelte Kosmos-Hefte und -Jahrbücher.“

Helmut Schweizer: Portulak, Blatt 9 (2011–13). Foto: Helmut Schweizer.

Im Alter von 16 Jahren bahnte sich dann eine Veränderung von Schweizers Denkweise an, die auch für seine spätere künstlerische Arbeit folgenreich sein sollte. Zu seiner Konfirmation im Jahr 1961 schenkte ihm eine Nachbarin das 1959 erschienene Buch Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt von Robert Jungk – es handelte sich um die Mutter des bedeutenden deutschen Physiker Hans-Peter Dürr, der bei Edward Teller promovierte und später als Direktor des Max-Planck-Instituts Nachfolger von Werner Heisenberg war. Während Schweizer als Schüler bislang von der Natur und den sie erforschenden Wissenschaften uneingeschränkt begeistert war, kam nun eine Kritik an bestimmten Naturwissenschaften hinzu.

Jungk befasst sich in seinem Buch mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Er beschreibt die Resultate: die Atomwüste und die Strahlenopfer. Von seinen Berichten über die Haltung der amerikanischen Naturwissenschaftler, welche die Schäden an der Natur und den Bauwerken akribisch registrierten und analysierten, aber das Leiden der japanischen Bevölkerung ausblendeten, war Schweizer tief betroffen. Jungk weist auch darauf hin, wie die amerikanischen Besatzer diejenigen japanischen Naturwissenschaftler einer Zensur unterwarfen, welche diese Folgen untersucht hatten.

Es war hauptsächlich die Jungk-Lektüre, durch die Schweizer zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der Atomphysik, die zur Entwicklung der Atombombe geführt hatte, gelangte. Seine frühere positive Haltung gegenüber anderen Naturwissenschaften wie z.B. der Astronomie, die kein vergleichbares Gefahrenpotenzial aufweisen, blieb jedoch von dieser Kritik unberührt.

Helmut Schweizer: Gravellines (1987/88). Foto: Helmut Schweizer.

Schweizers kritische Einstellung gegenüber den ersten Anwendungen der Atomphysik verstärkte sich, als er 1963 an einem vierwöchigen Schüler-Aufenthalt in Frankreich teilnahm. Dazu gehörte auch ein Besuch der ersten französischen nuklearen Industrie- und Forschungszentrale in der Nähe von Orange. Er erlebte diese wie eine Kathedrale des Fortschritts präsentierte Reaktoranlage nicht als Höhepunkt der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung, sondern als abgründige Bedrohung des Lebens auf unserem Planeten.

In den frühen 1960er Jahren verbrachte Schweizer manche seiner Schulferien bei Weinbauern im badischen und bei Landwirten im schwäbischen Raum. Dort wurde er auf die sichtbar werdenden Boden- und Gewässerverseuchungen aufmerksam. Das Wissen um die ersten Erkrankungen der Bauern an Herbizid-Allergien führte zur Kritik an einer verantwortungslosen Chemieindustrie. Selbst der erste Schritt auf dem Mond war für Schweizer 1969 kein großartiges Ereignis, sondern im Betreten des bislang vom Menschen unberührten Mondes sah er eine schreckliche Verletzung des seit Ewigkeiten ruhenden Mondstaubs.

Kurzum, seit dem Umbruch im Denken des Jugendlichen beschäftigt Schweizer sich – einige Jahre später auch als Künstler – mit den zerstörerischen Wirkungen, zu denen die technische Nutzung bestimmter naturwissenschaftlicher Forschungen führt. Das ist sein Lebensthema geworden. Er hat also schon früh ein Bewusstsein für die Gefährdungen der Umwelt durch bestimmte menschliche Aktivitäten entwickelt. Durch Tschernobyl, Fukushima und andere Katastrophen wurden seine Befürchtungen noch einmal verstärkt. Damit steht Schweizer den Ideen und Auslösern der Ökologiebewegung nahe, die sich in den 1970er Jahren breitenwirksam herausbildete.

Der Hauptpunkt seiner kritischen Sichtweise lässt sich vielleicht so fassen: Wenn man bestimmte Bereiche der Natur mit den Mitteln der modernen Naturwissenschaften erforscht und das erlangte Wissen dann technisch anwendet, kommt es geradezu zwangsläufig zu zerstörerischen Entwicklungen dieser oder jener Art; deshalb wäre es eigentlich besser, wenn man diese Forschungen nie unternommen hätte.

Am Ende eines Ausstellungskatalogs findet sich ein Hölderlin-Zitat:

„Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist,
wächst das Rettende auch.“

Das legt die Vermutung nahe, dass religiöse Überzeugungen für Schweizers Denken und dann auch für seine künstlerische Arbeit eine Rolle spielen. Beim Besuch sprach er von einer freien Religionsausübung und wies auf sein christliches Elternhaus hin. Bereits als Gymnasiast entwickelte er jedoch ein Misstrauen gegenüber den etablierten christlichen Kirchen, die den Holocaust nicht verhindert hatten und sich damals auch nicht gegen die Zerstörung der als göttliche Schöpfung begriffenen Natur stark machten. Sein zentrales Anliegen ist die Bewahrung der Schöpfung; „Du sollst nicht töten“ ist für ihn seit seiner Kindheit das zentrale Gebot. Es wäre lohnend, nach weiteren religiösen Überzeugungen zu suchen, die zum Kern von Schweizers Weltbilds gehören; das Gespräch ging jedoch in eine andere Richtung.

Die Schöpfung schließt nach Schweizer offenbar die Errichtung bestimmter Tabuzonen ein. Wenn Menschen mit den Mitteln der modernen Naturwissenschaften in eine solche Tabuzone eindringen und diesen gefährlichen Bereich erforschen, dann kommt es zwangsläufig auch zur technischen Nutzung dieses Wissens, die zerstörerische Wirkungen entfaltet. Diese können im Fall der Kernenergie und der Atombombe bis zur Auslöschung der Menschheit und Zerstörung der Erde reichen.

Mit Schweizers Weltbild ist eine Sicht der geschichtlichen Entwicklung verbunden, die in verschiedenen Bereichen mit dem Schlimmsten rechnet. Auch dann, wenn ein bestimmter Tabubruch bereits erfolgt ist, gibt es jedoch Möglichkeiten einer Gegensteuerung. Dazu gehört ein weltweiter Ausstieg aus der technischen Nutzung der Atomenergie. Schweizer will positive menschliche Kräfte aktivieren, um eine Wende im Denken und in der Lebenspraxis vollziehbar zu machen.

Zu Schweizers Entwicklung zu einem gesellschaftskritischen Künstler gehörte auch sein politisches Engagement. Mitte der 1960er Jahre besuchte er häufig den Club Voltaire, eine Keimzelle der Linken und Grünen in Stuttgart zu dieser Zeit. Er teilte zwar viele der dort vertretenen Forderungen nach grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen, lehnte aber kollektivistische Tendenzen prinzipiell ab; auch die Gewaltbereitschaft radikaler Gruppierungen verwarf er. Die letzte Demonstration, an der er teilnahm, fand 1968 in London gegen den Vietnamkrieg statt; danach war sein Platz das Atelier, und er kümmerte sich primär um seine Werke und um Ausstellungen.

Schweizers Studium an der Karlsruher Akademie der Künste begann im Frühjahr 1967 – in einer politisierten Zeit. Er wurde schon bald in den ASTA gewählt und trat als studentischer Vertreter im Senat der Akademie für mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung, sowie für das Recht zur genehmigungsfreien Veröffentlichung der künstlerischen Produktionen von Studierenden ein. Das sind Ziele, die er auch heute noch befürwortet.

Zur künstlerischen Arbeitsweise

Schweizer kann sich noch gut an die Anfänge erinnern. Schon früh hat er, vor allem angeleitet durch seine Kunstlehrer Bernhard Feistel und Manfred Piontek, mit dem Zeichnen und Malen begonnen. Zu seinem persönlichen Umfeld gehörten z.B. die Malerin Ida Kerkovius und die Grafikerin Annelie Niethammer, die seine künstlerische Entwicklung förderten und ihn bei der Erstellung der Mappe für die Akademiebewerbung berieten.

Die für Schweizer bis heute charakteristische künstlerische Arbeitsweise bildete sich während seines Kunststudiums schon früh heraus. Nach dem Probesemester, in dem er sich auf das Zeichnen konzentrieren musste, begann er, für seine ersten eigenständigen Werke unterschiedliche Materialien zu erproben: Gipse, Kunststoffe, Lacke, Chemikalien, Pflanzen. Schon am Ende der 1960er Jahre, in seinen ersten öffentlichen Aktionen sowie in den in seinem Laboratelier oder am Wegesrand fotografierten und gefilmten oder an unterschiedlichsten öffentlichen Orten präsentierten Handlungen und Situationen, drang er mit ephemeren Materialien aus dem Bereichen von Chemie und Physik zu Materialien und Formen vor, die mit seinen Denkprozessen korrelierten. Halt gaben ihm zunächst die Bildfindungsmethoden der Maler Caspar David Friedrich, Paul Klee und Max Ernst, aber auch Paul Celans Poesie. Bei Schweizers Suche nach neuen Bildformen zogen ihn meistens diejenigen Künstler an, welche kompliziert und subversiv arbeiten, sodass es einen versteckten Sinn zu erkennen gilt.

Helmut Schweizer: Der Berg, aus Nordhausen • Geschenke & Lorbeeren (1995–2010). Foto: Mike Christian.

Von Beginn an versucht Schweizer, aus seinen Ängsten und Befürchtungen attraktive Bilder zu machen, die wie magnetische Felder wirken und Betroffenheit weiterleiten. Die seiner ethischen Verantwortung geschuldeten Werke basieren auch auf einem permanenten Studium der Auswirkungen technischer Anwendungen naturwissenschaftlicher Forschung – in Bibliotheken und modernen Medien. Die dabei aufgeladenen Batterien lassen, so seine Formulierung, dann beim Arbeiten im Atelier die Funken der Intuition sprühen, aus denen seine Bilder hervorgehen.

Helmut Schweizer: Atomic Elegy (2013). Foto: Mike Christian.

Das Machen seiner Kunst ähnelt aus Schweizers Sicht dem Verschicken einer Flaschenpost, bis heute getragen von der Hoffnung, dass es noch Mitmenschen gibt, die seine Mahnungen empfangen und dann auch verstehen können. Er gehört somit zu den Künstlern, die sich als Mahner begreifen. Seit er die zivilisatorische Entwicklung selbst beobachten, vergleichen und darüber nachdenken kann, vertritt er die Überzeugung, dass diese immer schneller in eine Katastrophe steuert.

Helmut Schweizer: MELANCOLIE • 12/26-3/11 • UNE SALE MARIE & LE PACIFIQUE RADIO-ACTIF • A QUI DE DROIT (2010–2014). Foto: Mike Christian.

„In meinen Arbeiten der letzten fünf Jahrzehnte fokussiere ich subversiv und kritisch in Bildern und Skulpturen die Gefahren einer nachhaltigen Beschädigung der Schöpfung durch die destruktiven Energien einer modernen Technik, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ohne Verantwortung einsetzt. Mit Demut gegenüber der Schöpfung montiere ich immer wieder neue atmosphärische Räume, um offen sichtbar Disputen zwischen dem Heiligen und dem Bösen metaphysische Orte zu geben und in menschlichen Seelen Visionen nicht sagbarer Schrecken und Schicksale hervorzurufen.“

Es würde sich lohnen, diesen von Melancholie durchdrungenen Denkzusammenhängen noch weiter nachzugehen.

Beitragsbild über dem Text: Helmut Schweizer vor seiner Arbeit: One Eye Wide Shut to Paul Éluard (2014). Foto: Mike Christian. Das Portrait des Künstlers entstand anlässlich der Ausstellung MELANCOLIA. 8/6 – 3/11. A CHI DI COMPETENZA vor seiner Arbeit One Eye Wide Shut to Paul Éluard in der Düsseldorfer Galerie Rupert Pfab, die vom 11. Januar bis zum 15. Februar 2014 stattfand.

Zitierweise

Stefan Oehm (2018): Helmut Schweizer: Wissenschaftskritische Kunst. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d452

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