Text: Peter Tepe | Bereich: Über „Kunst und Wissenschaft“
Übersicht: Die Rezension besonderer Art von Leonardo im Labor – Kunst & Wissenschaft im 21. Jahrhundert. Herausgegeben von Sabine B. Vogel. In: Kunstforum International, Bd. 277, Oktober 2021, S. 50–189 wird mit Teil III fortgesetzt.
Meine Besprechung, die wegen der Fülle des Materials auf vier Teile angelegt ist, weist folgende Besonderheiten auf:
- Die wichtigsten Punkte werden mithilfe von Zitaten relativ ausführlich dargestellt, damit auch diejenigen, welche nicht dazu kommen, den Band zu lesen, erfahren, was auf dem Feld Kunst und Wissenschaft geschieht.
- Um den Überblick zu erweitern, wird auf w/k-Beiträge zu den von Sabine B. Vogel behandelten speziellen Themen verwiesen.
- An einigen Stellen wird skizziert, welche Vertiefungen mit der in w/k angewandten Methode möglich sind. Aufgrund der letzten beiden Punkte ist mein Text mehr als eine Rezension üblicher Art.
- Teil III bezieht sich auf die Seiten 140–189. Der abschließende Teil IV wird im Januar 2020 folgen.
11. Jens Hauser: Künstliche Lebendigkeit
Jens Hausers Essay vertieft Vogels Ausführungen über BioArt in ihrer Einführung; vgl. Teil I, Abschnitt 1 – und lässt sich auch mit dem Gespräch mit Peter Weibel verbinden; vgl. Teil I, Abschnitt 3.
Kunstschaffende reagieren
„heute höchst unterschiedlich auf die Herausforderungen der Life Sciences. Über klassisch-repräsentative Strategien der bildenden […] Kunst hinaus sind Biotechnologien […] als mannigfache Gestaltungsmedien zweckentfremdet worden. Jenseits des Schutzkäfigs des Symbolischen manipulieren jene neuen Kunstpraxen der Transformation in vivo und in vitro biologische Systeme oder Organismen auf molekularer, zellulärer und mikrobieller Ebene.“ (142)
Hauser blickt auch auf die Anfänge zurück:
„Als das KUNSTFORUM international vor zwei Jahrzehnten erstmals zwei Sonderausgaben der ‚Transgenen Kunst‘ widmete, standen diese im Zeichen des zur Jahrtausendwende diskursiv dominanten Humangenomprojekts und den damit verbundenen affirmativen Utopien und dystopischen Technophobien, welche die Sequenzierung des menschlichen Genoms mit sich brachte. […] Ängste und Hoffnungen angesichts von Menschenzucht und Designerbabys neuer reproduktiver Technologien, die vermeintliche Vervielfachung des Menschen durch Klonen sowie damit assoziierte mythische Versprechungen von Unsterblichkeit durch die Raelianer-Sekte, die Sorge vor der Patentierung von Genen und genetischem Determinismus, Mutanden und Hybridwesen […]. Medientheoretische Überlegungen analysierten Vervielfältigungsphantasmen der Digitalkultur, Bildklone und Morphing-Software.“ (142f.)
Hauser stellt die „Kontextabhängigkeit von biomedialen Kunstpraxen“ besonders heraus: So
„ist die Verlockung groß, angesichts des ‚schöpferischen Potentials‘ biotechnologischer Kunst an die Verlebendigungsmythen anzuknüpfen, die sich […] um von Künstler*innenhand gefertigte Artefakte ranken. Die Beseelung formbarer Materie steht in einer langen Bildtradition über Motive des Ovid’schen Pygmalion, des Golem oder Frankenstein“ (144).
Dann wird ein Blick geworfen
„auf experimentelle Kunstpraxen technowissenschaftlicher Prägung, in denen nicht Formen, sondern die kreative Auseinandersetzung mit Prozessen und Medien im Mittelpunkt stehen – und dies bereits weit vor den seit den frühen 1980er Jahren in Erscheinung tretenden Medienkunstfestivals.“ (144)
Jack Burnham wird als Vorläufer erwähnt.
„Erst später, ab den 1980er Jahren, definierte sich sogenannte Artificial Life-Kunst zunehmend über biologische Systeme simulierende Strategien und qua Computer-Medien, Code-basierte Formen interaktiver Kunst, autopoetische Systeme“ (144).
Ein „verändertes Medialitäts-Verständnis“ hatte Folgen für die Kunst: Angeführt wird z.B. die „2007 geschaffene[] Hybrid Art-Kategorie des Ars Electronica Festivals in Linz“ (146). Einige Formen der Kunst beziehen sich auf „tiefgreifende epistemische Wandlungsprozesse“ (148). Ein Beispiel:
„Transgene Mensch-Tier-Pflanze-Beziehungen inszeniert Jun Takita, indem er Glühwürmchen-Erbgut in Moos einschleust und damit ein 3-D-Modell seines Gehirns überwachsen und leuchten lässt.“ (148)
12. Sabine Himmelsbach stellt Künstlerinnen vor
Wie zuvor Zhang Ga und Kathrin Busch präsentiert auch Sabine Himmelsbach – unter dem Titel „Andocken an Wissenschaft“ (151) – einige Künstlerinnen. Einleitend heißt es:
„Seit 2012 leitet Sabine Himmelsbach das HeK (Haus der Elektronischen Künste), das dieses Jahr sein 10jähriges Jubiläum feiert und im Dreispitzareal in Basel beheimatet ist. Der inhaltliche Fokus des HeK liegt auf Medienkunst und der Reflexion der Auswirkungen von Technologien auf die Gesellschaft. In ihrer kuratorischen Praxis legt Himmelsbach einen Fokus auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und das Thema Art & Science.“ (151)
Für ihre Bildstrecke wählt Himmelsbach Künstlerinnen aus,
„deren Arbeiten eng an wissenschaftliche Forschung angedockt sind bzw. wissenschaftliche Erkenntnisse thematisieren, die aber eine eigene visuelle und ästhetische Sprache entwickeln.“ (151)
Rachel Armstrong, Professorin für Experimentelle Architektur, und die Künstlerin Cecile B. Evans kooperierten für die Installation 999 years – 13sqm (the future belongs to the ghosts) (2019).
„13 Quadratmeter gilt als der minimale, akzeptable Lebensraum für Menschen, 999 Jahre ist die maximale Nutzungsdauer für Grundstücke in England. Die Installation besteht aus einer 13 qm-Fläche mit einer durch Glaswände abgetrennten, seitlichen Fläche voller von Mikroben belebten Elemente aus ziegelartigen Bauteilen. Durch die Teile fließt Wasser, die Mikroben verwerten den flüssigen Abfall zu Elektrizität und anorganischem Phosphat.“ (152)
In Wilding of Mars (2009), einer
„Installation mit 12 Monitoren, simuliert die britische Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg (geb. 1982) das Wachstum einer planetaren Wildnis: auf dem Mars gedeiht ein wilder Garten über Jahrtausende, die Pflanzen breiten sich aus und entwickeln ein eigenes Ökosystem.“ (154)
Heather Dewey-Hagborg
„sammelte für ‚Stranger Visions‘ (2012) in New York weggeworfene Kaugummis, Zigarettenstummel und Haare auf. Daraus extrahierte sie im Labor DNA-Proben. Mithilfe algorithmischer Software und 3-D-Druckern konnte sie dann Portraits der Unbekannten kreieren.“ (157)
Die australische Künstlerin Lucy McRae hat im Video Biological Bakery (2014)
„(zusammen mit Rachel Wingfield) ein […] Bio-Fab-Labor aufgebaut, in dem Mitglieder einer Pop-Band als farbenfrohe, miniaturisierte Klone massenproduziert werden. Dafür werden einzelne Körperteile geklont, in Farbe getaucht und mit einer Bakterienhaut überzogen.“ (159)
Lynn Hershman Leeson
„ist bekannt geworden durch ihre Multimedia-Installation ‚The Infinite Engine‘ (2014).“ (160) Der in Michelangelos Fresko dargestellte „Schöpfungsakt [wird] in das Labor verlegt. Ein wichtiges Detail ihrer Installation ist die durch Bioprinting geschaffene Nase.“ (160)
Ursula Damm ist bereits in Sabine B. Vogels einführendem Essay zur Sprache gekommen:
„In ihrer ‚Drosophila Karaoke Bar‘ (2018) können Besucher*innen mit Fruchtfliegen in direkten Austausch treten, indem die menschliche Sprache mittels einer technischen Schnittstelle in den Wahrnehmungsradius der Tiere übersetzt wird. KI-Expertin Birgit Brüggemeier informiert dazu in einem Video über die Syntax und Semantik von Drosophila-Songs.“ (162)
Ich weise noch einmal auf den w/k-Beitrag über dieses Projekt hin:
▷ Ursula Damm & Birgit Brüggemeier: In der Sprache der Fliegen (EN)
13. Gespräch mit Gerfried Stocker
Im Vorspann ist zu lesen:
„Als ausgebildeter Ingenieur der Nachrichtentechnik baute Gerfried Stocker Ende der 1980er Jahre in Graz zusammen mit anderen Künstler*innen das Kunst-Technologielabor ‚x-space‘ auf. Mit ihrer Medienkunst nahmen sie an zahlreichen Veranstaltungen teil, darunter auch an der Ars Electronica in Linz. 1995 realisierte Stocker dort ein internationales Netzwerk-Radio-Kunstprojekt.“ (166)
Die 1979 gegründete Ars Electronica (AE) ist ein Festival für Medienkunst. Die „Kunst-Wissenschafts-Symbiose“ ist dabei durchweg von Bedeutung:
„Anfangs war das zentrale Schlagwort ‚Elektronik‘, jetzt eher ‚Künstliche Intelligenz‘. Auch die zentrale Frage bleibt gleich: Kann Kunst eine Katalysatorrolle spielen im notwendigen Verständnis, in der Bearbeitung von neuen Entwicklungen? […] Wir haben mit jeder technologischen Entwicklung viele künstlerische Aktivitäten, die sich damit beschäftigen. Am bekanntesten sind die Futuristen, aber es gibt keine Epoche, in der sich nicht Künstler*innen damit beschäftigen, wie neue Technologien unser Leben verändern.“ (166)
In w/k sprechen wir hier von technologiebezogener Kunst – von Kunst, die auf diese oder jene neue Technik bzw. Technologie reagiert. Seit mehreren tausend Jahren gibt es Künstlerinnen und Künstler (in einem weit verstandenen Sinn), die in das „technische Verständnis“ (166) der jeweiligen Gegenwart eintauchen. Die von Stocker vertretene Form der Medienkunst meldet „den Anspruch an, dass die neuen Entwicklungen nicht nur der Wissenschaft und in weiterer Folge der kommerziellen Nutzung zugeschrieben sind, sondern dass sie in die Gesellschaft gehören.“ (166) Er erwähnt „die Telekommunikationskunst Mitte der 1980er Jahre“, in der es um die Frage geht, wie man die neue „Technik in Arbeits- und Lebensgewohnheiten integrieren kann […]. Damals gab es Van Gogh-TV, Piazza Virtuale.“ (166f.)
„Es gab damals Künstler*innen, die den Pinsel gegen die Videokamera ausgetauscht haben. Und es gab Künstler wie Bob Adrian, Roy Ascott oder Fred Forrester, die erkannten, dass die transformative Kraft der Neuen Medien auf der sozialen Ebene liegt.“ (167)
Danach geht Stocker auf die BioArt ein: Hier sei gefordert,
„Biotechnologe oder Genwissenschaftler zu werden, im Labor zu arbeiten, sich die Hände feucht zu machen – Wet Art, wie es auch genannt wird.“ (167)
„In der Bio-Art kann nicht mehr dilettiert werden, hier müssen die Künstler*innen über Jahre so tief eintauchen, dass zwischen Kunst und Biotechnologie kaum mehr unterschieden werden kann. Daraus entsteht ein neues Künstler*innenbild und eine neue Praxis: Künstler*innen suchen neue Allianzen bzw. arbeiten in Teams, nicht nur zur Lösung der Aufgaben, sondern weil sie ihre Stellungnahmen zu grundlegenden Fragen nur noch gemeinsam erarbeiten können. […] Wir sind an einer Komplexität der Entwicklungen angelangt, die ein einzelner Expertenkreis nicht mehr bewältigen kann. Interdisziplinarität ist mittlerweile die zentrale Herausforderung. Darum ist die Förderung von Kunst-Wissenschafts-Kooperationen auch nicht nur ein kurzer Hype, wie man anfangs vielleicht dachte, sondern notwendig.“ (170)
Bezogen auf das Verhältnis zu Leonardo sagt Stocker:
„Für unsere Zeit sehe ich das Leonardo-Prinzip in Teamarbeit“ (170).
Damit sind wichtige Fragen angesprochen. Ich schlage einige Differenzierungen vor:
- Im Kontext der BioArt bzw. der biologiebezogenen Kunst bildet sich ein neuartiger Typ von Kunst heraus: Einige Künstlerinnen und Künstler tauchen über Jahre tief in die Biotechnologie und Genwissenschaft ein, sie arbeiten dauerhaft in Teams mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen.
- Dabei kann es dazu kommen, dass einige Individuen sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch tätig sind. In w/k sprechen wir hier von Grenzgängern zwischen Wissenschaft und Kunst; diese treten in ganz unterschiedlichen Konstellationen auf. Eine Künstlerin, die sich wissenschaftliche Kenntnisse dieser oder jener Art angeeignet hat, ist von einer Künstlerin zu unterscheiden, die an der wissenschaftlichen Forschung selbst beteiligt ist.
- Am Ende des Gesprächs weist Stocker auf Maja Smrekar hin, „die großartige Bio Tec-Kunst macht, weil sie sich als Nichtwissenschaftlerin Jahre damit beschäftigt und das macht, was Kunst im besten Fall machen kann: Bilder, Geschichten, Symbole zu entwickeln, die uns in diese Realitäten hinführen und uns helfen, damit umzugehen.“ (171) Hier sehe ich eine Parallele zu Katrin Hornek, die in Teil II, Abschnitt 10 behandelt worden ist. Eine sinnvolle Aufgabe für eine Künstlerin, die an einer Kunst-Wissenschaft-Kooperation beteiligt ist, besteht darin, zu einer auch das Gefühl aktivierenden Imaginationsreise durch das wissenschaftlich Herausgefundene einzuladen. Das kann als besondere, komplexe Form der „Visualisierung und Vermittlung nach außen“ (137) verstanden werden. Entsprechend kann von Smrekar gesagt werden, dass sie „Bilder, Geschichten, Symbole“ entwickelt, um die von der biologischen Forschung bestimmter Art erschlossene Realität mit künstlerischen Mitteln zu durchdringen. Damit ist wieder der Komplex der kunstbezogenen, künstlerische Konzepte/Methoden/Ergebnisse verwendenden Wissenschaft angesprochen – auf die zugehörigen w/k-Beiträge ist in den Teilen I und II hingewiesen worden.
- Bezieht man das Prinzip der künstlerischen Freiheit darauf, dass man sich für dieses oder jenes Kunstprogramm entscheiden kann, so gilt, dass man innerhalb der biologiebezogenen Kunst auch dilettieren kann und darf.
- Gemäß dem Prinzip der künstlerischen Freiheit kann auch nicht von allen Künstlerinnen und Künstlern gefordert werden, sich an Kooperationen zwischen Kunst und Wissenschaft zu beteiligen – so fruchtbar diese auch sein mögen.
Stocker weist darauf hin, dass „mit Kunstwerken technische Novitäten entstehen“ können; als Beispiel wird die von Horst Hörner und seinem Team entwickelte „Lichtballett-Show“ (170) genannt.
„Künstler*innen können neue Anwendungen von Technologien denken, in interdisziplinären Arbeitsteams entwickeln und auch prototypisch realisieren. Aber die Wenigsten haben Interesse daran, das weiterzuverfolgen, patentieren zu lassen und erfolgreich zu machen. Das bindet auf Jahre oder Jahrzehnte die gesamte Energie.“ (170)
Zu unterscheiden ist zwischen der Entwicklung einer neuen Technik bzw. Technologie im Rahmen eines künstlerischen Projekts (bzw. eines Projekts mit starken künstlerischen Anteilen) und deren systematischer kommerzieller Nutzung.
14. Gespräch mit Thomas Feuerstein
„In Thomas Feuersteins oft raumgreifenden Installationen treffen Themen der Philosophie, Kunstgeschichte und Biotechnologie auf Aspekte der Ökonomie und Politik. Oft geht es dabei um Fragen existentieller Grundparameter, nach dem Ursprung des Lebens, aber auch nach den Möglichkeiten autonomer Maschinen und allwissender Algorithmen. Seine Ausstellungen erinnern an Laborküchen, manchmal an eine Fabrik.“ (173)
Die „Mikroalge Chlorella vulgaris ist ein Modellorganismus in der Botanik“; sie dient Feuerstein
„als konzeptueller Knoten, der Fäden aus unterschiedlichen Narrativen verstrickt: David Rockefeller wollte mit Chlorella den Hunger der Welt bekämpfen, später sollte sie das Klima retten und nebenbei Biomasse für Rohstoffe und Energie liefern. In der kleinen Grünalge verdichten sich die großen Probleme der Welt.“ (174)
Als Feuerstein vor über zwanzig Jahren mit seinen künstlerischen Experimenten begann, kultivierte er
„wie ein Landwirt in [s]einen Manna-Maschinen Algen zur Gewinnung von Pigment für Malereien oder baute eine prozessuale Skulptur zur hydrothermalen Karbonisierung, um aus dem Kohlenstoff der Algen Stifte für [s]eine Zeichnungen zu fertigen. […] Die Spirituose Tono-Bungay wurde aus fermentierten Algen destilliert und für das Projekt Psychoprosa wurde aus Chlorella Tyrosin zur Herstellung von Dopamin extrahiert“ (174).
Ein wichtiger Bestandteil der in w/k angewandten Methode ist es, nach den Hintergrundüberzeugungen zu fragen, die einem bestimmten Kunstprogramm zugrunde liegen. Eine von Feuerstein im Gespräch gegebene Antwort weist in diese Richtung: Ihn
„fasziniert die Vorstellung, dass unsere Welt molekular verfasst ist, dass Elemente chemische Strukturen bilden und Leben hervorbringen. Wie sich Buchstaben zu Wörtern und Texten verweben, verbinden sich Elemente zu Molekülen und ‚schreiben‘ die Textur unserer Welt und Körperlichkeit.“ (174)
Eine Form der künstlerischen Konkretisierung dieser Überzeugung besteht eben in der Beschäftigung mit Algen.
Feuerstein untersucht „die Wechselwirkungen zwischen dem Politischen, Ökonomischen, Technologischen und dem, was wir mit Natur beschreiben“, und schafft so „eine Poiesis, die Prozesse des Realen einbezieht“ (174).
„Die Ausstellungen funktionieren als Fabrik, in der Bakterien, Algen, Pilze oder eigene Körperzellen gezüchtet und biotechnisch verarbeitet werden. […] Ich will neue Bilder und Skulpturen produzieren, die über reale Prozesse ein künstlerisches Narrativ bilden. […] Als beharrlicher Dauergast in Laboren partizipiere ich ‚fragend und bittend‘ an Forschung […]. Da ich von Philosophie und Kunst komme und kein Naturwissenschaftler bin, ergeben sich überraschende Überschneidungen von Fragestellungen und manchmal trägt ein künstlerisches Experiment beiläufig auch etwas zu wissenschaftlicher Erkenntnis bei.“ (174f.)
Das in Abschnitt 13 über Katrin Hornek und Maja Smrekar Gesagte lässt sich auch auf Feuerstein anwenden. In all diesen Fällen wird „über reale Prozesse ein künstlerisches Narrativ“ (174) gebildet.
„Was konntest du zur Wissenschaft beitragen? Die Betonung liegt auf beiläufig: Beispielsweise wurde ein Verfahren für Tissue Engineering, das im Zuge der Kultivierung von Gliazellen im Rahmen des Projektes Pancreas entwickelt wurde, mittlerweile verbessert und in verschiedenen Projekten angewandt. Es wäre aber anmaßend zu behaupten, dass ein künstlerisches Projekt die Entwicklung ermöglicht hat. Es war ein Baustein von vielen.“ (175)
Feuerstein hat demnach dazu beigetragen, ein für eine bestimmte Wissenschaft relevantes „Verfahren für Tissue Engineering“ zu verbessern. Im Raum steht die Frage, ob es auch Beiträge von Künstlerinnen und Künstlern zur Wissenschaft gibt, welche die Entwicklung von Theorie und Methode sowie die Erlangung konkreter Forschungsergebnisse betrifft.
Ein weiteres Projekt Feuersteins ist die Skulptur Clubcannibal:
„Im Mittelpunkt von Clubcannibal steht eine Marmorskulptur in Gestalt eines gefesselten Prometheus, die von steinfressenden Bakterien aufgelöst wird. Mich faszinieren steinfressende, sogenannte chemolithoautotrophe Bakterien und Archaeen. Sie stehen am Anfang der Evolution, ernähren sich von anorganischem Material und leben in der heißen, tiefen Biosphäre der Erdkruste. […] Diese Lebensform mit dem Kulturbringer Prometheus zu verknüpfen, war für mich naheliegend. Im Mythos gilt Prometheus als erster Bildhauer und Schöpfer des Menschen, der bekanntlich zur Strafe, weil er den Menschen das Feuer brachte, an den Berg Kasbek im Kaukasus gefesselt wird. Jeden Tag frisst der Adler Aithon ein Stück seiner Leber, denn die Leber wächst über Nacht nach und galt den Griechen als Symbol des Lebens und Medium der Vorsehung und Zukunft. Deswegen wollte ich eine neue Leber als biotechnische Skulptur züchten. Im Labor gelang dies, indem die Wissenschaftler Nährstoffe aus den steinfressenden Bakterien für menschliche Leberzellen extrahierten und diese zum Wachsen brachten: Aus Stein wird Fleisch. In der als Hörspiel vertonten literarischen Geschichte zur Ausstellung wird in Form einer Speculative-Fiction jene im Labor vollzogene Fleischwerdung aus Stein zwischen Utopie und Horror erzählt.“ (178)
Als jemand, der über Jahrzehnte in der Mythosforschung tätig war – ich verweise auf das Buch Mythos & Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung (2001) und die Veröffentlichungen zur literatur- und geschichtswissenschaftlichen sowie philosophischen Mythosforschung im Mythos-Magazin (www.mythos-magazin.de) –, halte ich eine genauere Untersuchung von Feuersteins Arbeit am Mythos für lohnend.
15. Gespräch mit Ingeborg Reichle
„Meine Monografie Kunst aus dem Labor [aus dem Jahr 2005, P.T.] war eine erste umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung zweier Kunstströmungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Verlebendigung der Technik und der Technisierung des Lebendigen befasst haben. Die Articifial Life Art hat sich von den 1980er Jahren an mit den Ideen und Methoden der Articifial Life Forschung und den Konzepten und der Technik der Robotik beschäftigt, die sogenannte BioArt mit den technischen Verfahren und Methoden der Biotechnologie. […] Anfang der 1980er Jahre hatte sich die Kunst nur vereinzelt ernsthaft mit der Neuerfindung der Natur befasst, die in den Laboratorien der Mikrobiologie seit Beginn der 1970er Jahre vonstatten ging.“ (184)
Seitdem ist es für Künstlerinnen und Künstler auch leichter geworden,
„[s]ich den Zugang zu Laboratorien von wissenschaftlichen Einrichtungen zu verschaffen“ (184).
Mittlerweile gibt es
„eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, die ihre Türen Künstler*innen geöffnet haben. Kunsthochschulen bieten inzwischen Biotech-Labore mit angeschlossenen BA oder MA Studiengängen im Bereich der BioArt an. Es wurden Förderlinien, Stipendien und Preise initiiert“ (184).
Ingeborg Reichle weist auf Spezialisierungen hin, die für die Kunst neu sind: Hier studiert man nicht freie Kunst und entscheidet sich während des Studiums oder danach für ein bestimmtes Kunstprogramm, sondern man bindet sich frühzeitig – in der Regel wohl nach einer Grundausbildung – an ein bestimmtes Programm biologiebezogener Kunst, absolviert Studiengänge im Bereich der BioArt – und bleibt meistens auch danach dieser Kunstströmung verpflichtet. Deren Stabilisierung erfolgt einerseits durch programmkonforme „Förderlinien, Stipendien und Preise“, andererseits durch auf das Kunstprogramm zugeschnittene „Ausstellungen, Konferenzen und Publikationen“ (184).
Reichle grenzt dann die BioArt von der während des 20. Jahrhunderts häufiger praktizierten Verwendung von „organischen Materialien wie Erde, Pflanzen, Algen, Brot, Hefe, Schimmelsporen oder Zucker“ sowie von „Blut, Fäkalien und anderen Körperflüssigkeiten“ ab: Charakteristisch für die BioArt
„ist der Zugriff auf die molekulargenetische Ebene von Organismen (DNA, RNA, Proteine). Dies setzt ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung voraus. Und den systematischen Einsatz von Instrumenten und Apparaturen, Technologien und Reagenzien. […] Soweit ich sagen kann, hat der US-amerikanische Künstler Joe Davis in seinem Projekt Microvenus erstmals mit hands-on manipulierter DNA gearbeitet: Fasziniert von der Vorstellung, menschliche Sprache in DNA zu codieren, begann er 1981 […], an der Konzeption eines Medienträgers zur interstellaren Kommunikation zu forschen. Davis fand in synthetischer DNA sein ideales künstlerisches Medium.“ (185)
Gelten für die Science Art (SciArt), als deren Spielart die BioArt betrachtet werden kann,
„wissenschaftlich-strenge Kriterien? […] Mit neuen Tendenzen in der Kunst- und Designwelt, die unter Begriffen wie speculative design oder speculative biology firmieren, werden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion oder Tatsachen und spekulativen zukünftigen Szenarien zunehmend verwischt. Ich halte das im Allgemeinen für keine gute Entwicklung, insbesondere dann nicht, wenn Künstler*innen oder Designer*innen eng mit Disziplinen aus den Naturwissenschaften kooperieren und dann im Laufe der von ihnen angestrebten Übersetzungsprozesse streng wissenschaftliche Kriterien aufweichen […]. Damit ist niemandem gedient, aus schlechter Wissenschaft wird keine gute Kunst.“ (186)
Ich greife an dieser Stelle auf einen in Abschnitt 13 vorgestellten Differenzierungsvorschlag zurück und führe diesen weiter aus:
- Für die von Reichle vorgestellte spezialisierte Kunstrichtung gilt: Deren Vertreterinnen und Vertreter verpflichten sich zu einer soliden wissenschaftlichen Ausbildung in dieser oder jener Disziplin, um das angestrebte „hohe[] Maß an Wissen und Erfahrung“ zu erlangen. Gute wissenschaftliche Kenntnisse werden als Voraussetzung angesehen, „um „gute Kunst“ hervorzubringen.
- Daneben ist es aber auch möglich und legitim, wissenschaftsbezogene Kunst ohne diese Selbstverpflichtung zu betreiben und in der künstlerischen Praxis z.B. „die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion“ zu verwischen. Für diese Richtung gilt: Gute Kunst (im Sinne der von dieser Richtung anerkannten ästhetischen Kriterien) setzt nicht zwingend solide Kenntnisse derjenigen Wissenschaften voraus, auf die man sich bezieht. Außerdem ist mit künstlerisch produktiven Missverständnissen zu rechnen; darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein.
Übergang zu Teil IV
Die eigentliche Rezension (besonderen Typs) besteht aus Teil I, Teil II und Teil III. In Teil IV werde ich das w/k-Programm verstärkt ins Spiel bringen. Zu diesem gehört der Versuch, das gesamte Feld Kunst und Wissenschaft sinnvoll und auf möglichst einfache Weise zu strukturieren. Das führt zu der Frage, wie das in Leonardo im Labor Geleistete hier zu verorten ist. Gefragt wird auch, ob es weitere Aspekte des Großthemas Kunst und Wissenschaft gibt, die im behandelten Band nicht zur Sprache kommen. In Teil IV werde ich auf eigene Rechnung argumentieren, dabei allerdings auf viele Elemente aus Vogels Abhandlung zurückgreifen.
Beitragsbild über dem Text: Doppelseite aus Kunstforum International, Bd. 277 (2021). S. 52-53.
Zitierweise
Peter Tepe (2021): Über „Leonardo im Labor“. Teil III. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d15441
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