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Zum Wissensbegriff der künstlerischen Forschung. Zusammenfassung

Text: Till Bödeker | Bereich: Allgemeines zu „Kunst und Wissenschaft“

Übersicht: Einige Theorien künstlerischer Forschung (KF) gehen davon aus, dass KF ein spezifisches Wissen generieren kann, das wissenschaftlichem Wissen gleichwertig sei. Wie dies begründet wird, wird anhand der Theorien von Jens Badura, Anke Haarmann, Dieter Mersch und Henk Borgdorff nachvollzogen und kritisch überprüft. Die gesamte Abhandlung ist im Mythos-Magazin erschienen und hier zugänglich.

Wie Peter Tepe in der Reihe Über Konzepte der künstlerischen Forschung zeigt, gibt es völlig unterschiedliche Auffassungen von KF, die sich zum Teil widersprechen. In der aktuellen Lieferung 5.1 seiner Reihe unterscheidet er bereits 10 Positionen, von denen einige einen Erkenntnisanspruch spezifischer Art erheben bzw. annehmen, dass KF ein bestimmtes Wissen produziert, das wissenschaftlichem Wissen gleichwertig sei. Exemplarisch untersuche ich diejenigen KF-Theorien, die einen solchen Wissensanspruch erheben und auch theoretisch begründen. Ich versuche zu zeigen, welche Probleme dabei entstehen und warum für die Weiterführung der KF-Debatte auf diesen Anspruch verzichtet werden kann.

Folgende KF-Theorien werden behandelt: Jens Baduras Theorie der sinnlichen Erkenntnis (2015)[1], Anke Haarmanns epistemologische Ästhetik (2019), Dieter Merschs Kunst als epistemologische Praxis (2014) und Teile von Henk Borgdorffs KF-Theorie (2009, 2015). Vorab ist anzumerken, dass diese Theorien häufig von der Standardauffassung der Analytischen Philosophie abweichen, die propositionales Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung analysiert. Propositionales Wissen als KF-Wissen wird entweder ganz oder teilweise abgelehnt oder auch eine von der Erkenntnistheorie abweichende Terminologie verwendet. Die verschiedenen Strategien, KF-Erkenntnis zu begründen, habe ich in zwei Typen unterteilt:

  • Theorien erweiterter KF-Erkenntnis: Das Ziel dieser Theorien ist die Erweiterung eines allgemeinen Erkenntnisbegriffs, der auf die speziellen Anforderungen von KF bezogen werden kann. Oft wird angenommen, dass das bisherige (wissenschaftliche) Verständnis von Erkenntnis nicht ausreicht, um KF-Praktiken angemessen beschreiben zu können. Solche Ansätze sind oft wissenschafts- oder vernunftkritisch und fordern Reformen der Wissensordnung.
  • Theorien spezifischer KF-Erkenntnis: Diese Theorien widmen sich dem Spezifischen der KF-Erkenntnis innerhalb bestehender Erkenntnis- und Wissensordnungen, ohne diese grundlegend zu hinterfragen. Oft wird an bestehende alternative Wissenskonzepte angeknüpft.

1. Jens Badura: Erkenntnis (sinnliche)

Baduras Theorie gehört zu Typ 1, da er eine erweiterte Erkenntniskonzeption vertritt. Zentral für sein Konzept ist, dass die seiner Ansicht nach vorherrschende begrifflich-rationale oder auch diskursive Erkenntnis durch das Konzept einer intuitiven Erkenntnis – in Anlehnung an die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens – ergänzt werden soll. KF als Praxis der Erkenntnisgewinnung soll sich dann gleichermaßen auf intuitive wie diskursive Aspekte einer so verstandenen allgemeinen Erkenntnispraxis beziehen.

Um das zu zeigen, kritisiert Badura zunächst, dass der aktuell vorherrschende diskursive Erkenntnisbegriff unvollständig sei, und zwar in dem Sinne, dass er nicht-begriffliche Erkenntnismomente ausschließen würde. Eine Schwachstelle an seinem Argument ist, dass erst durch die Festlegung einer Definition von Erkenntnis als diskursiv oder intuitiv bestimmt wird, ob diskursive oder intuitive Erkenntnisgegenstände zulässig sind oder nicht. Da die Gültigkeit dieser These davon abhängt, wie Erkenntnis zuvor definiert wird, handelt es sich um einen Zirkelschluss.

Auch thematisiert Badura die Schwierigkeit der Rechtfertigung intuitiver Erkenntnis. Die bestehe darin, dass intuitive Einsicht einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, also für andere gelten soll, während sie zugleich nicht begrifflich erfasst und mit anderen ausgetauscht werden kann. Da somit sprachliche Rechtfertigungen prinzipiell abgelehnt werden, wird ein auf Mitvollzug basierendes Beweisverfahren vorgeschlagen, welches nicht weiter ausgeführt wird.

Grundsätzlich wäre eine Rechtfertigung intuitiver Erkenntnis vorstellbar, die nicht sprachlich-propositionaler Natur ist. In der Erkenntnistheorie bezeichnet man solche Rechtfertigungstheorien, wie sie z.B.John Pollock (1986) oder Paul K. Moser (1989) entwickelt haben, als nichtdoxastisch; Badura knüpft jedoch nicht an diese Theorien an.

Vielleicht aufgrund der Schwierigkeit, eine überzeugende Rechtfertigung zu finden, fordert Badura, dass die epistemische Frage zur politischen werden soll: Worauf einigen wir uns, was wir als Erkenntnis betrachten wollen? Diese These halte ich für problematisch, da keine Definition wissenschaftlicher Erkenntnis von politischen Mehrheiten abhängen sollte.

2. Dieter Mersch: Kunst als epistemologische Praxis

Merschs Theorie zielt ebenfalls darauf ab, künstlerischen Praktiken eine spezifische Erkenntnisweise zuzusprechen, die der wissenschaftlichen ebenbürtig ist. Seine Typ-1-Theorie (erweiterter Erkenntnis) weist folgende Schwächen auf:

  • Die für Merschs Theorie grundlegenden Thesen über das eine Wesen der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft sind problematisch, da sie als essentialistische Aussagen unzulässig verallgemeinern; tatsächlich können sich einzelne Kunstprogramme und wissenschaftliche Disziplinen stark voneinander unterscheiden.
  • Mersch postuliert eine kunsteigene Erkenntnisweise, die er als experimentell-ausprobierend und reflexiv charakterisiert. Da seine Beschreibung künstlerisch-experimenteller Praxis von wissenschaftlicher Erkenntnis so grundlegend abweicht, erscheint die Verwendung des Begriffes „Erkenntnis“ im Rahmen seiner Theorie insgesamt unplausibel.
  • Zwischen KF und Kunst wird nicht unterschieden. Dadurch gelingt es nicht, aufzuzeigen, worin das besondere Erkenntnispotential von KF in Abgrenzung zu anderer Kunst besteht.
  • Künstlerische und wissenschaftliche Erkenntnis werden als grundlegend verschieden konzipiert, sodass jeder Austausch verhindert wird. Beide Erkenntnisweisen seien füreinander jeweils „blind“ und „bedeutungslos“. Daraus folgt jedoch, dass sich Kunst/KF prinzipiell nicht sinnvoll auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen kann. Im Versuch, die Erkenntnismöglichkeiten von Kunst zu erweitern, verengt seine Theorie die Grenzen dessen, was für Kunst/KF zugänglich ist.

3. Anke Haarmann: Eine nachdenkliche Methodologie

Anke Haarmanns ausführliche und als Grundlagenwerk angelegte Publikation Artistic Research. Eine epistemologische Ästhetik (2019) wird nur ausschnitthaft behandelt. Im besonderen Fokus steht Haarmanns Konzept der nachdenklichen Methodologie, welches die „wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit“ von KF-Praktiken beweisen soll. Der Ansatz, eine Methodologie für KF bereitzustellen, unterscheidet sich von den bisherigen Ansätzen, Kunst- bzw. KF-Erkenntnis zu rechtfertigen, auch wenn ein ähnliches Ziel – den Wissensanspruch von KF-Erkenntnis geltend zu machen – verfolgt wird. Wichtig für das Verständnis von Haarmanns Theorie ist, dass sie KF-Erkenntnis als etwas Praktisches begreift, weshalb sie ihre Theorie auch eine Praxologie der Erkenntnis nennt. Was dieses praktische Wissen im Gegensatz zum propositionalen Wissen auszeichnet und wie es philosophisch eingeordnet oder gerechtfertigt werden kann, bleibt allerdings offen.

Zunächst unterscheidet Haarmann zwei Arten von Methodologien, die als Kandidaten für KF infrage kommen könnten: Die regelnde Methodologie, die sich mit der Grundlegung eines Regelkanons wissenschaftlicher Methoden befasst, und die nachdenkliche Methodologie: Für diese ist das „Nachdenken über die fallspezifischen Bedingungen einzelner […] Verfahren“ wesentlich. Laut Haarmann ist die nachdenkliche Methodologie kompatibel mit KF, da sich KF wie die Kunst an keinen „festen Sets an maßgeblichen Forschungsmethoden“ orientieren müsse und somit frei bzw. nicht „diszipliniert“ wäre. Tatsächlich verzichtet die nachdenkliche Methodologie auf jegliche Methode im herkömmlichen Sinne. Stattdessen werde bei einzelnen KF-Praktiken der „Weg des Wissens mitunter in seiner zielführenden Systematik und Konsequenz erst im Nachhinein und im konkreten Vollzug“ erkennbar. Haarmann fordert also eine Methodologie, die ohne allgemeingültige Methoden auskommt, und stattdessen jeden Einzelfall einer Durchführung von KF rückblickend als konsistent anerkennt.

Dieser Ansatz ist widersprüchlich: Da Methoden gemeinhin als regelhafte Verfahren verstanden werden und die nachdenkliche Methodologie regelhafte Verfahren ablehnt, können die KF-Einzelfallreflexionen nicht als Methoden bezeichnet werden. Aus der singulären Einsicht in eine Praxis von KF kann keine regelbasierte Methode abgeleitet werden, wenn diese mit allgemeingültigem Anspruch auch für andere Fälle gelten soll, da stets vom Einzelfall ausgegangen wird, der nicht auf andere Fälle übertragen werden darf. Forschung im engeren, wissenschaftlichen Sinne benötigt jedoch regelbasierte Methoden. Es ist daher nicht überzeugend, von KF-Erkenntnis zu sprechen, wenn (lediglich) KF-Einsichten produziert werden.

Ich stimme Haarmann zu, dass wissenschaftliche Einzelfallanalysen von KF-Praktiken sehr fruchtbar/interessant sein können und sich Erkenntnisse aus den Ergebnissen von KF ergeben können. So wird in w/k die wissenschaftsbezogene Kunst aus einer ähnlichen Motivation heraus analysiert. Davon zu unterscheiden ist allerdings die Annahme, dass es sich bei KF-Praktiken oder -Ergebnissen bereits selbst um eine Form von Erkenntnis handelt.

4. Henk Borgdorff: Die erkenntnistheoretische Frage

Borgdorff gilt als wichtiger KF-Theoretiker und vertritt eine Theorie spezifischer KF-Erkenntnis. Er prägt Position 1 durch die Auffassung, dass KF die Kriterien eines eigenständigen Erkenntnisunternehmens erfüllt und sich ihre Methoden aus den Erfahrungswissenschaften übertragen lassen. KF solle bei ihrer Forschung und Erkenntnisgewinnung gewissermaßen wissenschaftsähnlich vorgehen. Konkret vertritt er u.a. in Die Debatte über Forschung in der Kunst (2009) das Konzept eines spezifischen künstlerisch-verkörperten und nicht-begrifflichen Wissens, das KF produziere. Es solle kognitiv, nicht-begrifflich, rational und nicht-diskursiv sein.

Eine Hauptthese ist, dass dieses Wissen bereits in anderen wissenschaftlichen Debatten thematisiert wurde, wie z.B. in der Diskussion über den Unterschied zwischen dem „Wissen, dass“ und dem „Wissen, wie“ oder auch als implizites oder empraktisches Wissen. Allerdings zeigt er nicht, wie sich diese alternativen Wissenskonzepte konkret in sein Konzept integrieren lassen: Während das Wissen-dass auch als propositionales Wissen bezeichnet wird, da es besagt, dass etwas der Fall ist, also eine Proposition p wahr ist, bezieht sich das Wissen-wie (auch prozedurales Wissen genannt) auf Aktivitäten und intelligentes Tun. Borgdorff legt nahe, dass sein KF-Wissensbegriff Knowing-How beinhaltet. Der Versuch, das zu zeigen, könnte auf folgende Schwierigkeiten stoßen: Knowing-How ist nicht darauf angelegt, wissenschaftliche Erkenntnis zu erzeugen, sondern eben in Abgrenzung dazu konzipiert. Eventuell ist es gar nicht möglich, auf Knowing-How-Inhalte zuzugreifen, da diese nicht versprachlicht werden können, wenn sie von propositionalem Wissen vollständig getrennt sind. Ein solches Wissen müsste in der reinen Praxis verhaftet bleiben.

Ähnlich verhält es sich mit Polanyis Konzept des impliziten Wissens, auf das sich einige KF-Theorien berufen. Dieses wird als eine Art verkörpertes Wissen definiert, auf das während einer intelligenten Handlung nicht vollständig zugegriffen werden kann, welches dieser aber unbewusst zugrunde liegt. Da ausgeschlossen wird, dass auf implizites Wissen bewusst zugegriffen werden kann – da es dann nicht mehr implizit wäre – erscheint es als Grundlage für KF-Wissen ungeeignet.

Borgdorffs ebenfalls von mir behandelter Text Artistic Practises and Epistemic Things (2016) enthält Überlegungen zum Verhältnis von Geltung und Genese von Erkenntnis. U.a. argumentiert er dafür, dass der Entdeckungskontext, also die Genese, nicht vom Rechtfertigungskontext, d.h. der Geltung, getrennt werden kann. Damit will Borgdorff zeigen, dass KF-Wissen von Geltungsfragen befreit werden kann, was nicht überzeugt.

5. Zusammenfassung, Alternativen & Ausblick

Die untersuchten Theorien der erweiterten Erkenntnis versuchen im Allgemeinen ein neues Erkenntniskonzept zu etablieren, das über propositionales Wissen hinausgeht bzw. an dessen Stelle tritt. Dabei ist zu bezweifeln, dass es triftige Gründe dafür gibt, propositionales Wissen zu verwerfen, um KF als Wissen erlangende Disziplin einordnen zu können.

Einige sehen es als vorteilhaft an, dass sich erweiterte Erkenntnis von KF an keinen wissenschaftlichen Methoden orientieren müsse, um den gewonnenen Einsichten eine Erkenntnis zuschreiben zu können. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und künstlerischer Einsicht impliziert jedoch nicht, dass die eine der anderen überlegen ist, sondern lediglich, dass es sich um zwei unterschiedliche Dinge handelt. KF muss überhaupt keine Erkenntnis produzieren, sondern kann auch als Kunstprogramm interessante und an wissenschaftliche Erkenntnisse geknüpfte künstlerische Einsichten erlangen.

Borgdorffs Position-1-prägende spezifische Erkenntnistheorie hingegen hat das umgekehrte Problem: Um das Spezifische einer KF-Erkenntnis zu erklären, muss Borgdorff auf bestehende Wissenschafts- oder Erkenntniskonzepte zurückgreifen, die sich aufgrund ihrer Verschiedenheit nicht in eine einheitliche KF-Theorie integrieren lassen. Den zentralen Widerspruch zwischen KF als einer an wissenschaftlichen Methoden und Konzepten orientierten und zugleich von diesen losgelösten Disziplin löst er nicht auf.

Aussichtsreicher sind KF-Auffassungen, in denen KF z. B. als eigenständiges Kunstprogramm verstanden wird, das Forschung nicht als genuin wissenschaftliche Forschung, sondern als Forschung in einem weiteren Sinne begreift. Genauso können KF sowie KF-Theorien Gegenstand von wissenschaftlicher, z. B. kunsthistorischer und -theoretischer, Forschung werden, und es sind interessante Möglichkeiten des Austauschs und der Inspiration zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen denkbar.

Beitragsbild über dem Text: DALL-E-Illustration zu Artistic Research (2022). Foto: Till Bödeker.


[1] Das Literaturverzeichnis sowie die Nachweise der verwendeten Zitate finden sich in der ausführlicheren Abhandlung im Mythos-Magazin.

Zitierweise

Till Bödeker (2023): Zum Wissensbegriff der künstlerischen Forschung. Zusammenfassung. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d17129

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