Text: Stefan Oehm | Bereich: Beiträge über Künstler
Übersicht: Kunst und Wissenschaft. Das klingt für viele so gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Dabei sind sich beide so nahe wie Geschwister. Und das schon seit antiker Zeit. Was damals galt, gilt auch heute: Die Kunst sucht die Nähe der Wissenschaft – und die Wissenschaft die Nähe der Kunst. Und Stefan Oehm begibt sich in der Reihe „Kunst und Wissenschaft“ in anderen Medien auf die Spurensuche: nach Ausstellungen, Aufführungen, Büchern, Symposien und Zeitungsartikeln zum Thema.
Wenn Sie auf weitere „Kunst und Wissenschaft“-Beiträge stoßen, so wenden Sie sich bitte an: stefan.oehm@betriebsbereit.de. Ihr Hinweis wird dann in der nächsten Runde dieser Reihe unter Nennung Ihres Namens veröffentlicht.
1. Trees of Life: Erzählungen für einen beschädigten Planeten
Die aristotelische Idee der Scala Naturae, die Annahme einer hierarchisch organisierten Stufenleiter der Natur, hat unser abendländisches Denken über Jahrhunderte geprägt. Es ist dies ein Konzept, das den Dingen eine unverbrüchliche Ordnung gab: Alles Natürliche steigt vom Niedrigsten auf zum Höchsten. Diese Idee setzte der Schweizer Naturwissenschaftler Charles Bonnet im 18. Jahrhundert in eine visuelle Metapher um, die am Anfang der Ausstellung Trees of Life – Erzählungen für einen beschädigten Planeten stand, die vom 10. Oktober 2019 – 16. Februar 2020 im Frankfurter Kunstverein zu sehen war. Die Ausgestaltung der Scala Naturae, unserer Vorstellung von Realität, erfolgt dabei stets aus anthropozentrischer Sicht. Gebunden an den jeweiligen Wissensstand der Zeit und Kultur, bringen wir seit jeher unsere Überzeugungen zum Ausdruck, konstruieren wir Sinn und versuchen uns in ein Gefüge einzuordnen. Doch, so lautete die Frage, die die Ausstellungskonzeption über Jahre begleitete, „wie kann man faktisches Wissen aus der Dimension numerischer Abstraktion in eine empfundene Wirklichkeit übersetzen“? Die Kunst ist es, die im Verbund mit der Wissenschaft, so die Kuratorin der Ausstellung Franziska Nori, „erweiterte Formen des Wissens in anderer Weise als zuvor bekannt erlebbar“ macht:
„Die Künste […] können abstraktes Wissen auf die Dimension des Körpers oder des Individuums zurückführen. Sie können eine emotionale Nahbarkeit herstellen, die nicht über die Abstraktion der sprachlichen Begrifflichkeiten und mathematischen Formeln Theoreme großer Denkkonstrukte bilden.“
Für das interdisziplinäre Ausstellungsprojekt konzipierten die Künstler*innen Sonja Bäumel, Edgar Honetschläger, Dominique Koch sowie das Studio Drift Werke und Rauminstallationen, die sie mit Exponaten der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung konfrontierten, um sich vom anthropozentrischen Weltbild zu lösen und „zu einem systemischen Verständnis des Menschen als Teil des evolutionären Prozesses“ zu gelangen.
▷ Trees of Life: Erzählungen für einen beschädigten Planeten, Frankfurter Kunstverein 10. Oktober 2019 – 16. Februar 2020
2. Cordula Hesselbarth: Natur:::Spur
In der bildenden Kunst galt die Mimesis, die getreue Nachahmung der Natur, seit der Antike als Inbegriff höchsten künstlerischen Vermögens. Ein Konzept, das, so die allgemeine Sprachregelung der Kunstgeschichte, spätestens mit Marcel Duchamp sein Ende fand, der schlichte Alltagsgegenstände aus ihrem angestammten Kontext in Ausstellungssituationen überführte und sie in dieser Transformation zu Ready-mades als Objekte der Kunst bestimmte. Damit war jedoch das Konzept der Mimesis durchaus nicht perdu. Vielmehr kennzeichnete gerade die künstlerische Auseinandersetzung mit ihr Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts das, was wir heute im Rückblick als Beginn der Moderne, insbesondere in der bildenden Kunst, erkennen. Eine Auseinandersetzung, die auch heute noch, in anderer Form, stetig weitergeführt wird. So von der in w/k mit zwei Beiträgen vertretenen Künstlerin Cordula Hesselbarth. In ihrer Ausstellung Natur:::Spur, die vom 16. November – 29. Dezember 2019 im Kunstverein Bad Nauheim zu sehen war, spürt sie in vier Werkgruppen Linienformationen nach, die von natürlichen Kräften gebildet werden. Sie folgt den Bewegungsspuren, Lichtreflexen und Schattenlinien. Sie isoliert und zeichnet nach, so dass sich ihr neue Formen und Bildsprachen erschließen. Dabei nutzt sie „Dynamiken von Flüssigkeiten, Gravitation oder Wachstumsbewegungen von organischem Material zur Erzeugung von Bildern“ und entdeckt in „linearen Wasserreflexionen oder skulpturalen Verschlingungen von Wurzelwerk […] Zeichnungen oder Kalligrafien gleichsam einer Naturschrift“.
▷ Cordula Hesselbarth: Natur:::Spur, Kunstverein Bad Nauheim, 16. November – 29. Dezember 2019
3. DIVE: Festival für digitale und immersive Künste
Die Welt der Kunst ist im Umbruch. Konstatiert auf der einen Seite die Kunstphilosophin Juliane Rebentisch, dass wir es zunehmend mit Werken zu tun haben, die ganze Gattungen begründen, die doch nur für dieses jeweilige Werk gelten, so zeigt sich auf der anderen Seite vermehrt ein genreübergreifendes Phänomen, das den Abstand des Rezipienten zum Werk gänzlich aufzuheben scheint: die Immersion. In fast allen ästhetischen Disziplinen der Gegenwart, seien es die bildenden Künste, das Kino, die Musik oder auch das Theater, werden derzeit eigene Techniken und Strategien entwickelt, um Erfahrungen des Eintauchens (der Immersion) in gänzlich neue Sinneswelten zu generieren. Dabei entstehen durch innovative technologische und gestalterische Verfahren bisher nie dagewesene künstliche Welten, die die menschliche Wahrnehmung herausfordern oder sogar in Frage stellen. In dem von Tobias Staab und Tobias Wiethoff kuratierten Festival für digitale und immersive Künste DIVE, einer Produktion des Planetariums Bochum und des Schauspielhauses Bochum in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karlsruhe und den Berliner Festspielen, wurde vom 21. November – 24. November 2019 eine große Bandbreite dieser neuen Ausdrucksformen in unterschiedlichen Künsten präsentiert: Von digital-immersiven Installationen, Surround-Konzerten und virtuellen Klangräumen bis hin zu Theater- Environments und 360° Performances.
▷ DIVE. Festival für digitale und immersive Künste, Bochum, 21. November – 24. November 2019. Mehr Infos: DIVE, bszonline
4. Ari Benjamin Meyers: Da capo (Tacet in Concert)
Tacet! Schweigt! Allen Instrumentalisten und Sängern ist diese Spielanweisung in einer Partitur geläufig. Wird sie ihnen gegeben, haben sie zu schweigen. Dass aber die Dauer des gekennzeichneten Abschnitts nicht nur Schweigen und temporäres Verschwinden, sondern auch Raum zur freien Entfaltung bedeuten kann, in dem „das Abwesende, die Stille, die eigenwillige Kraft der Phantasie und der Erinnerung“ herrscht, zeigte der US-amerikanische Künstler und Komponist Ari Benjamin Meyers in der Ausstellung Tacet in Concert, die in Deutschland im Januar 2019 erstmals im Kunstverein Kassel zu sehen war. Besucher*innen wurden hier zum Bestandteil des in Tacet aufgerufenen Szenarios, indem sie mehr eine Bühne als einen Ausstellungsraum betraten. Anlässlich der Präsentation des Künstlerbuchs, das zu diesem Werk erschien, fand im Projektraum der Schering Stiftung in Berlin am 18. und 19. Januar 2020 die Podiumsdiskussion Da Capo (Tacet in Concert) mit der Neuropsychologin Daniela Sammler (Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig) und dem Künstler Ari Benjamin Meyers statt, der in seiner Arbeit immer wieder die Grenzen der Disziplinen Musik und Kunst auslotet, überschreitet und verschiebt. Im Fokus des Gesprächs standen die zentralen Aspekte seiner künstlerischen Arbeit: Erinnerung, musikalisches Gedächtnis und der Dialog zwischen Komponist und Performer*innen.
▷ Ari Benjamin Meyers: Da Capo (Tacet in Concert), Schering Stiftung Projektraum Berlin, 18. und 19. Januar 2020. Mehr Infos: Kasselerkunstverein (KKV), Schering Stiftung
5. Hyphen-Labs: PushMi PullYu
Es ist die Schnittstelle von Technologie, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Psychologie, an der das von der mexikanisch-amerikanischen Ingenieurin Carmen Aguilar y Wedge und der türkischen Architektin Ece Tankal 2014 gegründete Kunst- und Designstudio Hyphen-Lab arbeitet. In enger Kooperation mit Psycholog*innen, Programmierer*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen entwickelt es, gestützt auf naturwissenschaftliche Forschungen, Werke, die sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen auseinandersetzen und dabei technologische Innovationen aufzeigen. In der Ausstellung PushMi PullYu, die vom 12.09. – 22.11.2020 im Projektraum der Schering Stiftung in Berlin zu sehen sein wird, verwandeln sie den Space in ein Labor menschlicher Entscheidungsfindung. Besucher*innen werden dort mit einem Schwarm sensomotorischer Maschinen interagieren, indem sie bei ihnen durch ihren Lichtinput schwarmintelligentes Verhalten auslösen. Hyphen-Lab ruft damit die Besucher*innen dazu auf, über Konzepte des Bewusstseins und der Entscheidungsfindung nachzudenken und dabei grundlegende ethische Fragen zu reflektieren: Ist der freie Wille doch nur eine Illusion? Was würde es bedeuten, würden wir in einem deterministischen Universum leben? Die Installation wurde insbesondere von den Forschungsarbeiten des Neurowissenschaftlers John-Dylan Haynes zum freien Willen inspiriert. Dessen Experimente legen nahe, dass das Gehirn bereits sieben bis zehn Sekunden vor einer bewussten Entscheidung ‚weiß‘, wie man sich entscheiden wird. Und es ist eben dieser Zeitraum, den das Hyphen-Lab mit dem schwarmintelligenten Verhalten der Roboter abbilden will.
▷ Hyphen-Labs: PushMi PullYu, Schering Stiftung Projektraum Berlin, 12. September – 22. November 2020
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Beitragsbild über dem Text: Unbekannter Autor (2016). Urheberrecht: Creative Commons CC0.
Zitierweise
Stefan Oehm (2020): „Kunst-und-Wissenschaft“ in anderen Medien – Teil X. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d14135
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