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Karl Otto Götz als Psychologe

Text: Karin Götz | Bereich: Beiträge über Künstler

Übersicht: Karin Götz (als Malerin Rissa) stellt aufgrund ihrer Erinnerungen genauer als bisher dar, wie Götz‘ Visual Aesthetic Sensitivity Test (VAST) entstanden ist und welche Ziele er damit verfolgt hat. Er wollte herausfinden, in welchem Ausmaß das visuelle Urteilsvermögen der Testpersonen ausgebildet ist. Die Zusammenarbeit mit den Psychologen Berlyne und Eysenck wird genauer beleuchtet. Mit Götz ist Rissa der Ansicht, dass im Alltag die visuell-ästhetischen Kräfte wieder mehr trainiert werden sollten.

Vorbemerkung der w/k-Kernredaktion

Der folgende Beitrag, in dem es um den Visual Aesthetic Sensitivity Test (VAST) geht, knüpft an das in der w/k-Startrunde erschienene Interview Karl Otto Götz als Wissenschaftler an. In ihm geht es um den Visual Aesthetic Sensitivity Test (VAST). Die Entwicklung dieses Formunterscheidungstests hatte Götz 1973 abgeschlossen; als Broschüre ist er 1981 im Düsseldorfer Concept Verlag erschienen. Die Veröffentlichung besteht aus den von Götz angefertigten 42 schwarz-weißen Bildpaaren und einer – als Beilage hinzugefügten – Instruktion, die sich an die Testpersonen richtet. Karin Götz rekonstruiert in ihrem nachfolgenden Erinnerungstext die Entstehung und Konzeption des Tests.

Sie ist ebenso wie die w/k-Kernredaktion daran interessiert herauszufinden, ob dieser von einem Künstler in enger Zusammenarbeit mit den international anerkannten Psychologen Berlyne und Eysenck erarbeitete Test für die heutige Psychologie, sofern sie sich mit ästhetischen Problemen befasst, noch bedeutsam ist. Zur Vorbereitung einer solchen Debatte wird der Erinnerungstext durch eine Diskussion des w/k-Herausgebers Peter Tepe mit Karin Götz ergänzt. Die der Autorin vorgelegten Fragen sind zusammen mit der für diesen Beitrag zuständigen Peer Review-Beratung formuliert worden. Der Beitrag Diskussion mit Karin Götz über den VAST erscheint zeitgleich.


Der Maler, Wissenschaftler und Dichter Karl Otto Götz wurde am 22. Februar 1914 in Aachen geboren und starb am 19. August 2017 im Alter von 103 Jahren in Wolfenacker. Seine eigene künstlerische Konzeption als Maler fand er 1952/53. Sein Werk zeigt in besonderer Klarheit das Prinzip der informellen Kunst: die Auflösung des klassischen Formprinzips in der Malerei – so hat Götz es selbst formuliert.

Seine Arbeiten gliedern sich in ein abstraktes Frühwerk von 1934 bis 1952/53 und das informelle Hauptwerk mit Gemälden und Gouachen bis 2006. Sein Spätwerk entstand zwischen 2006 und 2014. Außerdem hat er ein umfangreiches grafisches Werk in Form von Lithografien hinterlassen. Hinzu kommen Keramiken, Stahlreliefs und bemalte Holzarbeiten, die Holzvögel. Gedichte hat Götz seit den 1940er Jahren bis zu seinem Tod verfasst. Sie sind in vielen Publikationen zugänglich und können allgemein der surrealistischen Dichtung zugeordnet werden.

Für Götz war der Dada-Künstler Marcel Duchamp (1887–1968) am Anfang seiner Entwicklung ein bedeutender geistiger Gesprächspartner, wenn auch nur aus der Ferne und nicht auf persönlichem Weg. Unkonventionelle Gedanken über Ästhetik, Kunst und Künstler waren hier verbindend. Eigenständiges Denken über Kunst konnte sich Duchamp leisten, weil sein wohlhabender Vater ihm sein Erbe schon in jungen Jahren übereignet hatte. Daher musste er nicht pausenlos wegen des Lebensunterhalts malen und wie er sagte: ein Malsklave sein. Diese geistige Unabhängigkeit zeigte sich unter anderen Umständen und auf andere Weise auch bei Götz, als er in seinen empirisch-wissenschaftlichen Studien nach einer objektiven Ästhetik suchte.

Wissenschaftliche Studien

Götz‘ Interesse an der empirischen Forschung erwachte 1959/60: Erstens durch eine Schrift des französischen Informationstheoretikers Abraham A. Moles (1920–1992): Theorie de l’information et perception esthétique, und zweitens durch den Text Aesthetik und Zivilisation des Naturwissenschaftlers und Philosophen Max Bense (1910–1990). Die Lektüre beflügelte ihn zuerst einmal, sich intensiv mit der philosophischen Ästhetik sowie der Informations- und Zeichentheorie von Charles W. Morris (1901–1979) zu beschäftigen. Dabei suchte er auch nach einer Möglichkeit, seine Kritik an den – wie er es nannte – „mythologisierenden Tendenzen“, die in den 1950er und 1960er Jahren sowohl die offizielle Kulturpolitik als auch die Kunstkritik in Westdeutschland beherrschten, zu präzisieren. Ihr wollte Götz eine objektive Kunstkritik nach visuell-ästhetischen Kriterien entgegensetzen. Daraus erwuchsen seine empirisch-wissenschaftlichen Studien. In dieser Phase arbeitete er auch künstlerisch an seinen Rasterbildern: Das statistisch programmierte elektronische Rasterbild stellte aus seiner Sicht die äußerste Konsequenz einer Auflösung des klassischen Formprinzips dar.

Karl Otto Götz: Statistische Verteilung (1961). Foto: Karl Otto Götz.

Von 1960 an beschäftigte Götz sich mit Wahrnehmungspsychologie in Bezug auf visuelle Ästhetik. Mithilfe dieser empirischen Wissenschaft wollte er die Frage „Wie kommen zwischen Bild und Betrachter visuelle Urteile zustande?“ verlässlich beantworten. Dabei war es ihm nicht nur um Kunstwerke, sondern ganz allgemein um Bilder zu tun. In diesem w/k-Beitrag wird es nun hauptsächlich um den Aesthetic Sensitivity Test (VAST) und seine 1980 abgeschlossene Entwicklung gehen.

Zielsetzung des Tests

Götz wollte herausfinden, in welchem Ausmaß das visuelle Urteilsvermögen der Testperson ausgebildet ist. Zu diesem Zweck entwickelte er einen Formunterscheidungstest, der zunächst aus 42, später aus 50 Bildpaaren besteht. Die schwarz-weißen Bildpaare wurden von Götz angefertigt, aber von ihm ausdrücklich nicht als Kunstwerke aufgefasst. Beide Bilder eines Bildpaares haben jeweils eine gleiche oder ähnliche Grundform. Ein Bild eines Bildpaares ist formal ausgewogen (harmonisch), das andere unausgewogen (disharmonisch) gestaltet. Die Versuchspersonen sollen nun während des Tests herausfinden, welches von den beiden Bildern als formal ausgewogen (harmonisch) beurteilt werden kann. Zunächst existierte seit 1970 der Test nur in Form einer Dia-Vorführung. Seit 1981 gab es ihn als gedruckte Broschüre mit 50 Bildpaaren – acht informelle Bildvorlagen kamen hinzu.

Karl Otto Götz: VAST-Titelseite (1981). Foto: Till Bödeker.

Der Broschüre hat Götz eine Instruktion beigefügt, die sich an die Testpersonen richtet. Diese gebe ich, ehe ich mit meinen Erläuterungen beginne, zunächst im Ganzen wieder:

„Dieses Heft enthält eine Serie von 42 Bildpaaren. Jedes Bildpaar besteht aus zwei ähnlichen Motiven, wovon das eine immer besser gestaltet ist als das andere. Es ist harmonischer, das heißt ausgewogener u. gleichmäßiger in der Linienführung und in der Anordnung seiner Formelemente.

Wenn Sie genau und lange genug hinsehen, so werden Sie bemerken, daß im Vergleich dazu, das unausgewogenere Motiv kleine graphische „Störungen“ enthält. Eine Gruppe von Malern und Graphikern hat dies übereinstimmend für alle 42 Bildpaare festgestellt.

Ihre Aufgabe ist es nun, bei jedem Bildpaar herauszufinden, welches Motiv das ausgewogenere ist.

Manchmal ist es das linke, manchmal das rechte Motiv. Schauen Sie bitte genau hin und nehmen Sie sich Zeit. Wenn Sie Ihre Entscheidung getroffen haben, machen Sie auf dem Vordruck ein R (rechts) oder ein L (links) hinter die Nummer des entsprechenden Bildpaares.

Beachten Sie, daß Sie nicht etwa danach urteilen, welches Motiv Ihnen besser gefällt. Das ist hier nicht die Frage. Denn besser gefallen kann manchmal auch das unausgewogenere Motiv, nämlich dann, wenn es interessanter erscheint als das ausgewogenere.

Sie sollen jetzt nur herausfinden, welches Motiv das ausgewogenere ist. – Noch irgendwelche Fragen? –

Name: ……………………  Alter: ……. männl   …… weibl  ……“

Als erstes Beispiel soll die Abbildung einer schwarzflächigen, visuell ausgewogenen Linsenform dienen. Diese ist auf dem Parallelbild dazu als eine gleichgroße Linsenform wahrzunehmen, allerdings mit dem Unterschied, dass dort am Rande dieser Form eine kleine Einbuchtung, eine Delle ausgeformt worden ist. Diese optische Veränderung stellt eine formale Unausgewogenheit dar. Weitere Bildpaare beziehen sich auf schwarze Trapezformen, Gitter- oder Schlangenformen und informelle Strukturen.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Von entscheidender Bedeutung für die Konzeption und das Verständnis des Tests ist, dass zwei Fragen unterschieden werden: Die Frage „Welches Bild ist aus Ihrer Sicht formal ausgewogener bzw. harmonischer gestaltet?“ ist nicht gleichbedeutend mit „Welches Bild gefällt Ihnen besser?“. Der Test fragt nicht danach, welches Bild eines Bildpaares einer Versuchsperson besser gefällt, sondern es geht einzig und allein darum, das Ausmaß der individuellen Fähigkeit zu ermitteln, zwischen einer ausgewogenen und einer unausgewogenen Gestaltung zu unterscheiden. Hier geht es um eine visuell-ästhetische Erkenntnis; Götz spricht vom visuell-ästhetischen Urteilsvermögen. Die Testergebnisse zeigen, dass Menschen dieses in einem unterschiedlichen Maß besitzen: Einige Menschen haben von Natur aus ein sehr gutes oder gutes ästhetisches Urteilsvermögen, einige können es durch ein visuelles Training verbessern, und bei einigen bleibt es dauerhaft gering. Zu unterscheiden ist also zwischen einem ästhetischen Erkenntnisurteil, in dem die Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit einer visuellen Struktur erfasst wird, und einem ästhetischen Gefallensurteil, um das es beim Test nicht geht.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Bevor Götz 1973 an der Kunstakademie Düsseldorf mit dem Testen begann, legte er seine Testbilder einigen Grafikern, Malerkollegen und Architekten der Akademie zur Überprüfung vor, um die Subjektivität eines Ausgewogenheits-Urteils über die Bildpaare weitgehend auszuschließen. Alle damals angesprochenen Personen machten als erste den Test – obwohl nicht wenige erstaunt darüber waren, dass ein Maler solche Fragen stellte. Die Bildpaare hielten weitgehend, was sie versprochen hatten. Die Kollegen erkannten die visuell-ästhetischen Unterschiede und schnitten durchweg sehr gut ab, d.h., sie machten wenig Fehler.

Zwischen 1973 und 1986 führte ich unter meinem Künstlernamen Rissa den Test an verschiedenen Orten und bei rund 600 Personen durch. Leider war damit eine Überprüfung des Tests an hinreichend vielen Versuchspersonen noch nicht erreicht worden, und das ist bei Tests unverzichtbar. Welche Relevanz der VAST für die heutige experimentelle Ästhetik besitzt, müsste daher noch geklärt werden.

Die Zusammenarbeit mit Berlyne und Eysenck

1972 lernte Götz durch Vermittlung des französischen Informationstheoretikers Abraham A. Moles den britischen Psychologen und Philosophen Daniel E. Berlyne (1924–1976) kennen. Beide verstanden sich intellektuell und menschlich sofort großartig. Berlyne war damals Professor für Wahrnehmungspsychologie und experimentelle Ästhetik an der Universität in Toronto (Kanada). Dort beschäftigte er sich mit der Frage: Warum zeigen lebendige Organismen Neugierde, erforschen ihre Umwelt und suchen nach Wissen und Information? Den deutsch-britischen Persönlichkeitspsychologen Hans-Jürgen Eysenck (1916–1994) lernten Götz und ich 1972 auf einem Symposium in Dänemark kennen; Berlyne hatte uns dazu eingeladen.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Die fruchtbare Begegnung von zwei führenden empirischen Psychologen aus der angelsächsischen Welt mit einem deutschen Maler, der den Antrieb und die Fähigkeit hatte, sein hohes visuell-ästhetisches Vermögen in den Dienst der empirischen Psychologie zu stellen, muss als außergewöhnlich gelten. Die Zusammenarbeit mit Götz ermöglichte Berlyne eine deutliche Verbesserung seiner Wahrnehmungstests; zuvor hatte er mit simplen Reizmerkmalen unprofessionell gestalteter Reizmuster gearbeitet, wobei die Versuchspersonen entscheiden sollten, welche ihnen am besten gefielen. Götz hingegen schuf mit seinen differenziert und visuell klar gestalteten Testbildern erstens eine bessere Testvorlage und fragte zweitens wie vorhin erläutert nicht mehr nach einem Gefallensurteil, sondern nach einem visuellen Erkenntnisurteil. So versprach der VAST von Götz auch für Berlyne ein Motor für seine wahrnehmungspsychologischen Experimente zu werden. Der Forscher erkannte bei der persönlichen Begegnung 1972 in Düsseldorf unmittelbar, dass er es mit einem Künstler zu tun hatte, der ungewöhnlicherweise mit der Denkweise des empirischen Wahrnehmungspsychologen vertraut war. Obwohl Berlyne den Test nur in Form einer Diaprojektion kennengelernt hatte, war er von ihm begeistert. Er plante einen größeren Feldversuch, um mithilfe des VAST seine theoretischen Annahmen über den Zusammenhang zwischen Emotionen und Motivationen zu überprüfen.

Berlyne starb 1976 viel zu früh. Dadurch wurde auch die ambitionierte Zusammenarbeit mit Götz in ihrer wichtigsten Phase beendet. Geplant war unter anderem, dass Götz und ich nach Toronto kommen sollten. Mithilfe des VAST – und dann auch des Persönlichkeitstests von Eysenckwollten wir zusammen mit Berlyne visuell-ästhetische und motivationale Fragestellungen in der Psychologie erkenntnismäßig voranbringen. Sein Tod stellte für uns persönlich und für die experimentelle Ästhetik einen großen Verlust dar.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Da Berlyne nun nicht mehr lebte, wurde Eysenck von 1977 an für Götz eine Art Mentor seiner wissenschaftlichen Experimente in der Wahrnehmungspsychologie. Als er die ersten Entwürfe der 42 Bildpaare des VAST sah, erkannte er blitzschnell die ausgewogenen Bilder richtig. Später testete er mit dem VAST in London englische Schulkinder und Studenten. Das war auch der Grund, dem Formunterscheidungstest einen englischen Namen zu geben.

1981 wurde der VAST von zwei asiatischen Psychologen – Saburo Iwawaki (Japan) und Jimmy Chan (Hongkong) – bei Kindern und Erwachsenen durchgeführt. Darüber hinaus testeten zwei Kunsterzieher und ich in den 1980er Jahren mit dem VAST eine große Anzahl von Personen in Westdeutschland: vom Taxifahrer und Hundefrisör bis zum Starkstromelektriker. Zudem testete ich in dieser Zeit viele Personen mit Eysencks Persönlichkeitstest. Um jedoch wissenschaftlich hinlänglich gestützte Antworten auf unsere Fragen zum anschaulichen und motivationalen Bereich zu erhalten, hätte wie schon gesagt eine viel größere Anzahl von Personen getestet werden müssen. Berlynes Tod hatte zur Folge, dass diese umfassenden Untersuchungen trotz Eysencks Unterstützung nicht realisiert werden konnten. Zudem geriet die wahrnehmungspsychologische Forschung an der Universität Toronto in die Defensive. Das von ihm aufgebaute Institut bekam keine finanzielle Unterstützung mehr, weil man sich jetzt mehr für Verhaltens- und Sozialpsychologie interessierte. Von diesem Umschwung berichtete das Psychologen-Ehepaar Cris und John Furedy von der Universität in Toronto, das Götz und mich 1980 in Niederbreitbach besuchte.

Erkennen und Gefallen

Malende Künstlerinnen und Künstler lernen und wissen durch ihr täglich-anschauliches Training bei der Arbeit mit den verschiedensten visuellen Strukturen meistens Genaueres über Gefallens- und Erkenntnisurteile bezogen auf anschaulich-künstlerische Strukturen. Ein Gefallensurteil über die ästhetische Dimension einer zweidimensionalen ebenen Bildvorlage (Banalbild, Foto oder Kunstwerk) sagt etwas anderes aus als ein Erkenntnisurteil. Das Gefallensurteil ist das primitivste, naivste und spontanste Urteil, das Betrachterinnen und Betrachter haben können. Ich nenne es primitiv/naiv, weil es auf dieser Ebene oft ohne anschauliches Training geäußert und auch aus nichtästhetischen Quellen gespeist wird. Die Fähigkeit, zwischen Gefallens- und ästhetischen Erkenntnisurteilen zu unterscheiden, muss im Allgemeinen erlernt werden. Ausnahmen sind die wenigen Personen, die von Natur aus ein gutes visuell-ästhetisches Urteilsvermögen haben, ohne einen Beruf auszuüben, wo anschauliche Kräfte gefragt sind.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Die trainierten Künstlerinnen und Künstler erkennen in den meisten Fällen, ob es eine ausgewogene oder eine unausgewogene Bildstruktur ist, die sie malen. Daher können sie bei einem Bild häufig ihr visuell-ästhetisches Gefallensurteil visuell-ästhetisch begründen.

Das visuell-ästhetische Urteil der meisten Laien-Betrachter vollzieht sich, wie der VAST gezeigt hat, oft wildwüchsig. So hatten viele Versuchspersonen bei den komplexeren Bildern die unausgewogenen herausgesucht, weil sie ihnen besser gefielen, nicht aber, weil sie erkannten, dass sie formal unausgewogen gestaltet sind. Beim VAST sollten aber die ausgewogen gestalteten Bilder bestimmt werden. Dieser Teil der Versuchspersonen war also nicht in der Lage, zwischen ästhetischem Erkennen und Gefallen zu unterscheiden.

Kritische Konsequenzen

Götz war und ich bin der Ansicht, dass im Alltag der Menschen heute die anschaulichen, d.h. die visuell-ästhetischen Kräfte bewusst wieder mehr trainiert werden sollten. Eine hohe visuell-ästhetische Urteilsfähigkeit finden wir heutzutage nur noch bei einigen fachtrainierten Personen. Die Verhässlichung unserer Umwelten in Stadt, Land und Meer nimmt täglich zu, und das hängt nach unserer Auffassung außer mit der täglichen Zunahme der Bevölkerung auf der Welt auch mit diesem Defizit zusammen. Auf dem Gebiet der Malerei fällt besonders auf, dass die ästhetische Dimension nicht mehr so in den Mittelpunkt ihrer Beurteilung gerückt wird, wie es in der Vergangenheit noch der Fall war. Das Fehlen einer gezielt visuell-ästhetischen Erziehung führt zu einem sich uferlos ausdehnenden ästhetischen Individualismus. Visuelle Qualitätsurteile und Äußerungen über die Unterschiede in der Formkraft von gemalten und fotografierten Werken bleiben heutzutage weitgehend unerwähnt. Dem Schweigen über die Formfindung und Formerkennung der jeweiligen zweidimensionalen Bildvorlage wollte Götz seinen VAST entgegensetzen, um die visuell-ästhetische Dimension aufzuwerten und Elemente der Objektivität im visuell-ästhetischen Bereich wieder hervorzuheben. Joseph Beuys (1921–1986) hat mit dem Satz „Jeder ist ein Künstler“ die Tür weit für eine individualistische Ästhetik für bildende Künstler und Betrachter geöffnet. In diesem Zusammenhang denke ich auch an den italienischen Ästhetiker, Literaturwissenschaftler und Romancier Umberto Eco (1932–1916) und sein 1962 erschienenes Buch Das offene Kunstwerk. Dort wird demonstriert, dass die Betrachter in zunehmendem Maß frei geworden sind, allen Bildern ihre eigene Deutung zuzuordnen – sowohl in der semantischen Dimension als auch bei der ästhetischen Beurteilung. Mit dieser Freiheit des Urteilens der Betrachter kommt auch eine Gefahr ins Spiel: Es entsteht ein Relativismus im Urteilen. Diesem Relativismus der ästhetischen Beurteilung von Bildern begegnet der VAST als erster Versuch einer objektiv-ästhetischen Beurteilung von zweidimensionalen ebenen Bildvorlagen.

Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Der VAST wird heute noch manchmal von Wahrnehmungspsychologen benutzt. Sie verwenden dann Götz‘ Bildpaare, aber meistens ohne seine Intention richtig zu verstehen. Sie interessieren sich somit nicht für Götz‘ eigentliche Fragestellung. Das ließe sich ändern, aber dafür ist unsere Zeit noch nicht wieder reif genug. Im Gegenteil, ich glaube, in Zukunft wird der Relativismus in der visuell-ästhetischen Beurteilung von zweidimensionalen ebenen Bildvorlagen und dreidimensionalen Objekten noch weiter zunehmen, zumal ideologische Beurteilungen dem Vorschub leisten.

Zu danken habe ich Ina Hesselmann und Joachim Lissmann; sie beide haben die Urfassung meines Textes gelesen und mich beratend unterstützt. Letzter Dank gilt Peter Tepe, der die Urfassung meines Textes leichter lesbar gemacht hat.

Zum Gespräch mit Karin Götz

Beitragsbild über dem Text: Karl Otto Götz: Bildpaar aus dem VAST (1970–1981). Foto: Till Bödeker.

Zitierweise

Karin Götz (2020): Karl Otto Götz als Psychologe. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d12861

Ein Kommentar

  1. Manfred Tetzlaff Manfred Tetzlaff 31. März 2020

    Ich kann die Unterscheidung beim VAST zwischen Gefallen und Beurteilung der Ästhetik nachvollziehen und als bedeutsam ansehen.
    Die hier vollzogene Abwertung des Gefallens finde ich nicht hilfreich. Beide Prozesse sind doch hoch spannend und ich fände es lohnenswert, die Unterschiede herauszuarbeiten!

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