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Diskussion mit Karin Götz über den VAST

Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews

Übersicht: Dieses Gespräch ergänzt den zeitgleich erschienenen Beitrag Karl Otto Götz als Psychologe, in dem Karin Götz den Visual Aesthetic Sensitivity Test (VAST) erläutert. Die Redaktion empfiehlt, jenen Beitrag als Erstes zu lesen.

Karin Götz, mein Ziel ist es, auf der Basis Ihres Beitrags und der nun folgenden Diskussion Fachleute – insbesondere Psychologen, die sich professionell mit der ästhetischen Dimension befassen – zur Beteiligung an einem w/k-Beitrag zu motivieren, in dem geklärt werden soll, ob der von Karl Otto Götz entwickelte Visual Aesthetic Sensitivity Test für die heutige Psychologie noch relevant ist und wenn ja, in welcher Hinsicht. Um eine solche Debatte vorzubereiten, habe ich mir (zusammen mit der für Ihren Beitrag zuständigen Peer Review-Beratung) einige Fragen überlegt, von denen wir annehmen, dass Wissenschaftler im Allgemeinen und Psychologen im Besonderen sie nach der Lektüre des Artikels stellen könnten. Ihre Antworten könnten so dazu beitragen, dass bestimmte Missverständnisse bereits im Vorfeld der Debatte ausgeräumt werden.

Fragenkomplex 1 bezieht sich auf die Klärung des von Karl Otto Götz und Ihnen verwendeten Begriffs der visuellen Urteilskompetenz. Was verstand Götz darunter, und was faszinierte ihn daran? Hatte er diese Fähigkeit irgendwann einmal genauer beschrieben  – z.B. in einem Gespräch mit Berlyne oder Eysenck?
​Als Maler wusste er (durch Veranlagung) und hatte gelernt, dass Formelemente auf Gemälden beim Fokussieren vom Betrachter in zweifacher Hinsicht wahrgenommen werden können. Bei einem visuell gelungenen Bildschema gleiten Blickkontakte geschmeidig über das gemalte Bild. Und bei einem formal verworrenen Bildschema stocken die Blickkontakte immer wieder, wenn die unklaren Formelemente des Bildes vom Blickkontakt berührt werden. Diese beiden Anschauungsmöglichkeiten unterscheiden zu können, macht die Urteilskompetenz aus.

Fachleute fragen bei einem psychologischen Test häufig nach den theoretischen Annahmen, auf denen der jeweilige Test beruht. Gibt es veröffentlichte oder unveröffentlichte Texte oder mündliche Äußerungen von Götz dazu?
Nein.

Hatte Götz im Hinblick auf die Messbarkeit der visuellen Urteilskompetenz Ideen, die in sein Testkonzept eingeflossen sind?
Er hat mit mir darüber nicht gesprochen.

Götz und Sie nehmen an, dass hinsichtlich der visuellen Urteilskompetenz gewisse Verbesserungen möglich sind. Was könnte man im Kontext der künstlerischen Ausbildung an Kunstakademien und dann auch im Rahmen des Kunstunterrichts an Schulen Ihrer Ansicht nach konkret tun, um hier voranzukommen?
Ich habe in nicht wenigen Wohnungen Bilder an den Wänden gesehen, die schief hingen. Wenn ich dann sagte: „Dieses Bild hängt schief“, dann schauten mich erstaunte Gesichter an, und es wurde gesagt: „Das habe ich gar nicht gesehen“. Hier war also die Fähigkeit, genau hinzugucken, entweder von Natur aus nicht da oder nicht ausgebildet worden.

Genau hinzugucken, wäre der erste Schritt, einfache visuelle Strukturen in ihren Relationen erkennen zu können. Aber das muss häufig gelernt und geübt werden. Und bei komplizierteren Strukturen muss das Auge mehr visuelles Material gegen- und miteinander abwägen. Da wird es für unbegabte visuell Wahrnehmende und Ungeübte immer schwieriger, erfolgreich zu sein. Und das hat alles noch nichts mit einem komplex gemalten Bild zu tun.

Ergeben sich aus dem von Götz und Ihnen vertretenen Konzept direkt Kriterien zur Beurteilung der Stadt- und Landschaftsplanung? Worauf müsste man stärker als bisher achten?
Man könnte meinen, dass da heutzutage etwas zu machen wäre. Aber da bin ich einfach Realistin genug zu sehen, dass da wenig Hoffnung auf Schönheit bei Orten zu erwarten ist, die mit kostensparenden und ungepflegten Altbauten durchsetzt sind. Und die Orte in Deutschland sind – mal dörflich, mal städtisch – voll davon.

Bei einer Landschaftsplanung kann ein begabter Landschaftsgärtner vielleicht isoliert –hineingesetzt in eine verbaute Stadt – einen schönen Garten hervorzaubern. Aber schwierig wird es sofort, wenn Sie an die Egos der vielen Spitzen-Architekten denken, die meist auf kleinem Raum in den Städten ihr besonderes Kunstwerk platzieren wollen. Selten haben sie so viel Platz, dass sie die Umgebung ihres Gebäudes mit ihrem Bau in Einklang bringen können. Bei so vielen konkurrierenden Egos heute kann es daher m.E. kein durchgängig harmonisches Baugeschehen mehr geben.

Und dann ist an die Durchschnittsarchitektur zu denken, die immer sehr sparsam mit dem Geld umgehen muss. Man sollte meinen, dass gute Architekten noch das klassische Sehtraining erhalten, wenn sie ihre Bauten entwerfen. Nur habe ich hier auf dem Land Architekten kennen gelernt, die trotz guter visueller Vorstellungen doch Kitschbauten zugelassen haben, weil es die Bauherren so wollten. Wenn heute neue schöne Wohnungen oder Häuser zu besichtigen sind, dann wird meistens mit neuen Materialien experimentiert und neues Bauland genutzt, das staatlich neu ausgewiesen oder manchmal auch durch Abriss gewonnen worden ist.

Vor meiner letzten Frage muss ich etwas ausholen. Götz unterscheidet in seiner der VAST-Broschüre beigefügten Instruktion zwischen der Frage, „welches Motiv Ihnen besser gefällt“ , und der Frage, „welches Motiv das ausgewogenere ist“. Sie differenzieren in Ihren Erläuterungen – und das dürfte im Sinn von Götz sein – zwischen einem „ästhetischen Erkenntnisurteil, in dem die Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit einer visuellen Struktur erfasst wird, und einem ästhetischen Gefallensurteil“. Ich bin kein Psychologe, sondern argumentiere jetzt als Philosoph. Ich meine, dass die von Götz und Ihnen gewählte Begrifflichkeit zu Missverständnissen führen kann, die sich aber dadurch vermeiden lassen, dass man andere Begriffe verwendet.

Unter einem Erkenntnisurteil wird üblicherweise ein Urteil verstanden, das einen Tatbestand feststellt, ohne ihn zu bewerten. Ein Beispiel für ein elementares Erkenntnisurteil ist: „Das ist ein schwarzer Esstisch aus Eichenholz“. Ein Gefallensurteil nimmt demgegenüber eine Bewertung vor; hier spricht man auch von einem Geschmacksurteil. Beispiel: „Dieser Esstisch gefällt mir besser als jener, der dort hinten steht – ich finde a schöner als b“. Nimmt man nun die Verwendung der Wörter „ausgewogen“ und „unausgewogen“ – sowie „harmonisch“ und „disharmonisch“ – in der Alltagssprache in den Blick, so wird erkennbar, dass diese zumindest in der Regel ebenfalls mit Wertungen verbunden ist. „Die Komposition von Vorhangstoff a ist ausgewogen, die von b ist unausgewogen“ impliziert zumeist eine Wertung: „a gefällt mir besser als b“. Der Unterschied zum einfachen Gefallens- oder Geschmacksurteil „Ich finde a schöner als b“ besteht dann darin, dass eine Begründung gegeben wird, die man so formulieren kann: „Ich finde a schöner als b, weil die Komposition von a ausgewogen ist, die von b aber nicht“. Die Antwort auf die Frage, „welches Motiv das ausgewogenere ist“, wäre dann ein Gefallensurteil besonderer Art, kein Erkenntnisurteil, das einen Tatbestand bloß feststellt, ohne ihn zu bewerten.

Dieses Problem lässt sich vermeiden und die für den VAST wichtige Unterscheidung zwischen Erkenntnis- und Gefallensurteil verteidigen, wenn man die Oppositionen ausgewogen/unausgewogen und harmonisch/disharmonisch, die in der Regel mit Wertungen – mit einer normativen Komponente – verbunden sind, durch solche ersetzt, die eindeutig deskriptiv sind, sodass man den jeweiligen Tatbestand feststellen kann, ohne ihn zu bewerten. Heute möchte ich nur einen ersten, wahrscheinlich verbesserungsbedürftigen Vorschlag machen, der in diese Richtung geht: Die 42 Bildpaare bleiben so, wie sie sind, aber bei der Erläuterung des VAST wird die Frage „Welches Motiv ist das ausgewogenere?“ ersetzt durch die Frage „Befinden sich die Elemente des Bildes ganz oder nur teilweise in einem Gleichgewichtszustand?“. Ein Gleichgewichtszustand kann festgestellt werden, ohne ihn zu bewerten. Um Götz‘ Satz zu variieren: Besser gefallen kann manchmal auch das Bild b, bei dem sich die Elemente weniger in einem Gleichgewichtszustand befinden als bei Bild a, wenn es in dieser oder jener Hinsicht interessanter erscheint als Bild a. Können Sie sich mit diesem Vorschlag, der darauf hinausläuft, bei der Erläuterung des VAST eindeutig deskriptive Wörter bzw. Begriffe zu verwenden, anfreunden?
Götz und ich haben uns damals begrifflich deshalb für ausgewogen und unausgewogen, statt harmonisch und unharmonisch entschieden, weil wir befürchteten, harmonisch/unharmonisch würde einen ganzen Rattenschwanz philosophischer Denkweisen nach sich ziehen. Ich meine damit die unendlichen Deutungsmöglichkeiten dieser beiden Begriffe. Ausgewogen und unausgewogen haben für mich nahezu den gleichen Neutralitätsgrad wie die Suche nach einem Gleichgewicht – zumal die informell gestalteten Bildpaare beim Wort „Gleichgewicht“ noch schwerer auseinander zu halten sind als jetzt. Wie gesagt, der Test war damals noch in Arbeit.

Karin Götz, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen und hoffe, dass sich Psychologen, welche sich für die ästhetische Dimension interessieren, an der geplanten Debatte über die Relevanz des VAST beteiligen werden.

Beitragsbild über dem Text: Rissa mit K.O. Götz im Atelier Wolfenacker (1986). Foto: Brigitte Hellgoth.

Zitierweise

Peter Tepe (2020): Diskussion mit Karin Götz über den VAST. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d13051

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