Ein Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews
Übersicht: Angelika Boeck ist eine bildende Künstlerin, die in Irland zum Dr. phil. promoviert worden ist – eine Grenzgängerin zwischen Kunst und Wissenschaft. Im Interview wird zunächst ihre künstlerische Entwicklung aufgearbeitet, wobei die Bezüge zur Ethnologie eine zentrale Rolle spielen. Danach kommen ihr Dissertationsprojekt und dessen institutioneller Hintergrund ausführlich zur Sprache.
Angelika Boeck, für w/k sind Sie interessant, weil Sie sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich arbeiten, also Grenzgängerin im Sinne unserer Definition sind. Zunächst sollten Sie Ihre Entwicklung kurz darstellen: Was haben Sie wo studiert?
Ich studierte an der Akademie der Bildenden Künste in München von 1986 bis 1992 Innenarchitektur und von 1992 bis 1998 bei Professor James Reineking, dessen Meisterschülerin ich war, Bildhauerei. Zwischen 2016 und 2019 habe ich an der Technological University Dublin ein Promotionsprogramm absolviert.
Was haben Sie künstlerisch in dieser Zeit gemacht?
Bereits während meines Innenarchitekturstudiums begann ich mich dafür zu interessieren, wie meine Persönlichkeit und die Persönlichkeiten meiner Mitstudierenden sich in unseren individuellen Antworten auf dieselben gestalterischen Fragen zeigen. Als ich dann in Anschluss an mein Ingenieursstudium Bildhauerei studierte, setzte ich Gebrauchsobjekte ein, um dieses Thema künstlerisch zu reflektieren. Zum Beispiel stellte ich für die Arbeit Sink (1992) drei Abgüsse von Handwaschbecken aus Seife her und installierte sie in den Wohnungen dreier Freund*innen anstelle ihrer eigenen Waschbecken. Die daran ablesbaren individuellen Gebrauchsspuren betrachtete ich als eine Art Porträt, ebenso wie die sichtbaren Spuren an den zwanzig Paaren identischer Schnürschuhe, die ich meinen Mitstudierenden, meinem Professor und seinem Assistenten zu Verfügung stellte und die diese ein Jahr lang für meine Arbeit Jahrgang (1993) trugen. Mein Interesse am Genre Porträt zeichnete sich also schon recht früh ab, allerdings wurde mir das erst im Nachhinein bewusst.
Die Gebrauchsspuren, welche verschiedene Individuen an den Handwaschbecken, den Schnürschuhen und eventuell noch weiteren Gegenständen hinterlassen, betrachten Sie als etwas, das Auskunft über das jeweilige Individuum gibt und insofern als eine Art von Porträt – in einem erweiterten Sinn des Wortes. Ist diese Darstellung korrekt?
Ja. Der Versuch, das Konzept von Porträt zu erweitern, könnte geradezu als Motivation eines bedeutenden Teils meiner künstlerischen Arbeit betrachtet werden – aber das war mir nicht von Anfang an klar.
Welches waren Ihre wichtigsten künstlerischen Arbeitsgebiete?
In den Jahren 1995 bis 2000 war ich hauptsächlich mit der Eye-tracking-Technologie befasst, und diese Arbeiten zählen heute international zu den ersten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dieser Technologie. Bei allen Eye Movement Recordings ist eine Videokamera, die den Augenbewegungen folgt, an einen Computer angeschlossen, der die Sehdaten auswertet und in sichtbare Linien und Punkte übersetzt.
Während mich zunächst interessierte, ob die Augenbewegungszeichnungen verschiedener Personen im Vergleich unterschiedliche, erkennbare Muster bilden und somit in dem erläuterten erweiterten Sinne als Porträt zu sehen sind, merkte ich bald, dass mein Hauptinteresse dem zwischenmenschlichen Blick-Dialog sowie unseren individuellen Wahrnehmungsweisen, Denk- und Interpretationsmustern galt. Seit dem Projekt StillePost (1999) beschäftigte mich dann die Frage, wie unser Selbstbild unsere Darstellung anderer bedingt, seit 2005, wie die kulturell unterschiedliche Gewichtung der Sinnesorgane unser Selbst- und Fremdverständnis prägt, wie dieses Verständnis durch kulturelle Praktiken zum Ausdruck kommt und wie sich diese Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen im Gegensatz zur visuellen Wahrnehmung und dem traditionellen Porträt verhalten.
Worum geht es bei StillePost?
Es ist mein erstes interkulturelles Experiment, das ich 1999 in der Republik Elfenbeinküste initiierte. Im Gegensatz zu meinen späteren Projekten, die sich auf kulturelle Praktiken konzentrieren, welche auf anderen Sinnen als dem Sehen basieren, stellt StillePost das Sehen in den Vordergrund. Die Forschungshypothese des Projektes war, dass unsere eigenen Gesichtszüge die Art und Weise bestimmen, wie wir andere wahrnehmen und darstellen, so wie Oscar Wilde es in seinem Roman The Picture of Dorian Gray behauptet:
„Every portrait that is painted with feeling is a portrait of the artist, not of the sitter. The sitter is merely the accident, the occasion“ (Wilde, 1890: 5).
Ich beschloss, die Frage an afrikanische Künstlerkollegen einer lebendigen Holzschnitztradition weiterzuleiten, da ich für mein Experiment Projektteilnehmer*innen brauchte, deren Gesichtsproportionen von meinen europäischen abweichen. Außerdem beruht mein Konzept auf der Kopie, und ich fand die Reibung zwischen dem afrikanischen Verständnis von Kopie als Bedeutungserhaltung und dem europäischen Begriff von Kopie als Fälschung interessant. Gleiches gilt für die Büste, eine der wichtigsten europäischen Formen des skulpturalen Porträts, das in der traditionellen afrikanischen Kunst kaum vorkommt. Für die Republik Elfenbeinküste entschied ich mich auf Empfehlung des Münchener Kunsthändlers Arno Henseler, der mir die kürzeste Wegbeschreibung gab, nach der ich je reiste:
„In Abidjan nehmen Sie den Bus nach Boundiali. Dort folgen Sie der Straße in Fahrtrichtung bis zur Kreuzung bei einem großen Baum und fragen nach dem Mann, dessen Namen auf dem Zettel steht.“
Allerdings war der Künstler bereits verstorben.
Wie ist die Serie StillePost in diesem Reisezusammenhang entstanden?
Die Witwe des Künstlers brachte mich zu Dramane Kolo-Zié Coulibaly, einem Bildhauerkollegen ihres verstorbenen Mannes, den ich beauftragte, eine Porträtbüste von mir anzufertigen. Nach dem Prinzip der Flüsterpost bat ich – nacheinander und an unterschiedlichen Orten – weitere vier afrikanische Bildhauer, die lebensgroße Holzbüste zu kopieren. Dramanes Skulptur diente als Vorbild für die zweite Skulptur und diese als Modell für die dritte und so weiter – bis am Ende einer Serie von fünf Porträts (wesentlich früher als ich erwartet hatte) die Büste eine Afrikanerin zeigte. Das Kunstwerk StillePost, das meine Fotoporträts der Bildhauer und ihre Büsten von mir einander gegenüberstellt, zeigt sowohl die Metamorphose meines Porträts als auch die Spiegelung der afrikanischen Bildhauer in diesem. Denn die Büsten wurden immer afrikanischer, da die Künstler unbewusst ihre eigenen Gesichtszüge in ihre Kopie einbrachten – wodurch Wildes Behauptung bestätigt wird.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist die Serie als Bestätigung der These angelegt, dass die Büsten bei dieser Vorgehensweise zwangsläufig immer afrikanischer werden. Stimmt das?
Ja. Sie ist darüber hinaus bewusst als Intervention konzipiert, die den historischen anthropologischen Blick umkehrt. Die Methode der gegenseitigen Wahrnehmung und Darstellung, die ich für StillePost entwickelte, erzeugt – im Gegensatz zur traditionellen Forschungshierarchie – Gegenseitigkeit, so dass die Forscher*in nicht mehr als solche und die andere Person als Erforschte wahrgenommen wird. Wie alle auf dieser Methode basierenden Arbeiten gehört StillePost zur Werkreihe Porträt als Dialog, auf die ich später eingehen werde.
Haben Sie sich nach StillePost vertieft mit Fragen der Anthropologie befasst, also z.B. wissenschaftliche Texte dieser Disziplin gelesen?
Der damalige Leiter des Iwalewa-Hauses in Bayreuth, Tobias Wendl, der StillePost in meinem Atelier auf Empfehlung der Kulturanthropologin Bettina von Lintig sah, machte mich auf die mit meiner Arbeit verwandte Untersuchung von Hans Himmelheber aufmerksam. In den frühen 1970er Jahren beauftragte der Afrikaexperte in der Republik Elfenbeinküste Künstler verschiedener Schnitztraditionen, eine Maske von sich selbst anzufertigen, um zu beweisen, dass afrikanische Künstler Porträts machen, was der damaligen Meinung der Mehrheit seiner Kollegen widersprach. Was mich am meisten beindruckte, war seine Beobachtung, dass mit Ausnahme seiner Frau keine der Europäer*innen, denen er seine Masken zeigte, ihn erkannte, aber alle Afrikaner*innen kein Problem damit hatten. Die Schlussfolgerung, die ich aus seiner Beobachtung zog, hatte weitreichende Konsequenzen für meine weitere künstlerische Arbeit. Ich fragte mich nämlich, ob es in anderen Kulturen Formen ästhetischer Repräsentation von Menschen gibt, die wir als Europäer*innen aufgrund unseres westlichen Verständnisses davon, was ein Porträt ist, noch nicht als solche wahrgenommen haben. Diese Frage ließ mich nicht mehr los, und seitdem las ich viele ethnologische, bzw. sozial- und kulturanthropologische Texte und Reiseberichte – und sah viele Dokumentarfilme mit einem darauf ausgerichteten Fokus an. Es war nicht einfach, die Praktiken zu finden, die ich in den folgenden Jahren in Bezug auf ihr Potential als Formen der ästhetischen Repräsentation erforschte. Kulturanthropolog*innen, die zum Beispiel die Kultur der australischen Aborigines studiert haben, klassifizieren – wie die Aborigines selbst – das Spurenlesen als Teil der Jagd und fragen sich kaum, ob Fußabdrücke als eine erweiterte Form des Porträts zu sehen sind.
Für w/k sind Sie von besonderem Interesse, da Sie nach dem Kunststudium und weiteren künstlerischen Aktivitäten ein Promotionsstudium absolviert haben. Das ist für Künstlerinnen ungewöhnlich. Zunächst zu den Fakten: Von wann bis wann und an welchem Ort sowie unter wessen Leitung hat dieses Studium stattgefunden?
Ich begann mein Studium im September 2016 und wurde im Juli 2019 im Rahmen eines PhD by Prior Publication Programmes am Centre for Socially Engaged Practice-Based Research (SEPR) der Technological University Dublin mit der von Dr. Alan Grossman und Dr. Anthony Haughey betreuten Arbeit De-Colonising the Western Gaze: The Portrait as a Multi-Sensory Cultural Practice zum Doktor der Philosophie (PhD) promoviert.
Was für eine Art des Promotionsstudiums ist das?
Es ist die fachliche Betreuung einer zweijährigen praxisorientierten Dissertation. Das Studium erfordert weder den Besuch von Kursen oder Seminaren noch die Teilnahme an Prüfungen, sondern ermöglicht es Praktiker*innen (aus den Bereichen Film, Fotografie, bildende Kunst, Journalismus, Kulturmanagement, Architektur), die den traditionellen akademischen Weg zur Promotion nicht gegangen sind, eine akademische Anerkennung für praxis-basierte Forschung und Publikation zu erhalten. Dies ist am ehesten vergleichbar mit einer kumulativen Dissertation, die mehrere zuvor veröffentlichte Forschungsergebnisse zusammenfassend präsentiert.
Wie hat sich dieses Studium ergeben?
Von 2010 bis 2016 lebte ich vorwiegend in einem kleinen Dorf im zentralen Hochland der Insel Borneo (Sarawak/Malaysia). Ich nutzte diese abgeschiedene Lebenssituation dazu, um über meine bisherige künstlerische Arbeit nachzudenken, indem ich Artikel für verschiedene Zeitschriften, wie z.B. Journal of Visual Art Practice, Culture and Dialogue oder Critical Arts, schrieb. Wolfgang Weileder, ein befreundeter Kunstprofessor in England, riet mir dazu zu promovieren und empfahl mir, mich in der angelsächsischen Welt nach einem praxis-basierten PhD by prior publication Programme, das es so in Deutschland noch nicht gibt, umzusehen. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich zu SEPR kam, das mit einem Schwerpunkt auf linsenbasierter Praxis (Fotografie, Film, Video), ethnographische Methoden und Selbstreflexivität perfekt für mich war.
Ist dieses Programm an Konzepte der künstlerischen Forschung (Artistic Research) gebunden?
Dieses Programm steht nicht nur Künstler*innen offen. Im Gegensatz zu vielen Promotionsprogrammen im Bereich der künstlerischen Forschung, die sich auf die Konzeption und Realisierung eines neuen Werkes konzentrieren, richtet sich das von mir in Dublin absolvierte Programm an etablierte Praktiker*innen, die ihre kreative Praxis der letzten zehn Jahren reflektieren wollen.
Handelt es sich um eine bislang nur in einigen englischsprachigen Ländern etablierte Form des Promotionsstudiums, die es Leuten aus verschiedenen Disziplinen ermöglicht, durch eine spezifische Reflexion über die eigene praktische Arbeit einen Doktortitel zu erlangen?
Das trifft zu. Es geht um eine Reflexion der eigenen praxis-basierten Forschung, ihrer Veröffentlichung und Rezeption, sowie um eine Selbstreflexion.
Weshalb war diese Reflexion für Sie wichtig?
Ich hatte das Gefühl, redundant zu werden. Ich wollte meine bisherige Arbeit entweder abschließen und ihr einen gebührenden Rahmen geben oder – und darauf spekulierte ich – auf einer neuen Ebene mit dem bisher Geleisteten weiterarbeiten.
Womit befasst sich Ihre Dissertation?
Ziel war es, alternative methodische und analytische Rahmenbedingungen zu identifizieren und theoretisch zu durchdringen, durch die der Andere dargestellt werden kann. Exemplarisch analysierte ich dafür drei von insgesamt neun interkulturellen Begegnungen, in deren Rahmen ich mich Experten spezifischer kultureller Praktiken, die ich aus meiner Perspektive als westliche Künstlerin als Formen ästhetischer Repräsentation interpretiert hatte, als Betrachtungsgegenstand aussetzte, während diese meinem Blick unterworfen waren. Mein Interesse galt vorrangig Kulturtechniken, durch die Personen nicht allein durch den Sehsinn wahrgenommen und nicht nur visuell dargestellt werden. Die mongolischen Tuwa beispielsweise bevorzugen den Geruchssinn, die australischen Aborigines achten auf Vibration, und die Sami sind an den laut- und rhythmusbezogenen Äußerungen eines Menschen interessiert. Bei allen Projekten kam die von mir bereits für StillePost entwickelte Methode Porträt als Dialog zum Einsatz. Während ich – als kritischen Verweis auf historische anthropometrische Untersuchungen, also die systematische kulturvergleichende Vermessung, fotografische Abbildung oder Abformung menschlicher Körper – die äußere Erscheinung der Projektbeteiligten durch Foto- und Videoporträts fixierte, ließen sich die Tuwa darüber aus, wie sie mich aufgrund meines Körpergeruchs einschätzten – vgl. Smell Me (2011) –, die australischen Aborigines beurteilten mich anhand meiner Fußspuren – vgl. Track Me (2006) –, und die Sami komponierten aus ihren Wahrnehmungen von mir eine Melodie – vgl. Seek Me (2005). Das Anliegen aller im Rahmen von Porträt als Dialog entstandenen Arbeiten war es, den okularzentrierten Ansatz westlicher Repräsentationen des Andersseins zu kritisieren, um die Vorstellungen von Porträt als kulturell spezifische und multisensorische Praxis zu erweitern.
Wie sind Sie vorgegangen und zu welchen neuen Erkenntnissen sind Sie gelangt?
Anders als Wissenschaftler*innen gehen Künstler*innen oft nicht gezielt von bestimmten Theorien und wissenschaftlichen Strömungen aus. Für mich ging es darum, die prägenden künstlerischen und wissenschaftlichen Einflüsse in einem Prozess des Reverse Engineering aufzuspüren: Dabei wird der Entstehungsprozess der künstlerischen Werke untersucht und in Beziehung zu den Arbeiten anderer Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Theoretiker*innen gesetzt, um die Komponenten, aus denen sie bestehen, zu extrahieren.
Ich erkannte beispielsweise, dass meine künstlerische Forschung nicht zwischen Kunst und Ethnologie angesiedelt ist, wie ich es vor meiner Analyse dachte, sondern im Bereich von Art as Anthropology, wie Roger Sansi (2015) eine Kunstform nennt, bei der sich Künstler*innen mit Ideen und Fragen beschäftigen, an denen auch die Ethnologie, d.h. die Sozial-und Kulturanthropologie, interessiert ist.
Da hake ich noch einmal ein. Auch Ethnologen befassen sich mit den Tuwa, den Aborigines und den Sami, mir ist aber noch nicht klar, inwiefern Sie sich bezogen auf diese Gesellschaften mit denselben Fragen wie die Ethnologen beschäftigen, sodass zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Antworten auf dieselbe Frage zu unterscheiden ist.
Der entscheidende Aspekt meiner Methodik ist die ko-kreative, interkulturelle zwischenmenschliche Begegnung, in der die Projektbeteiligten und ich uns gegenseitig wahrnahmen und diese momentanen Wahrnehmungen auf unterschiedliche Weise ausdrückten, indem wir uns selbst durch Interpretation des anderen definierten. Natürlich setzten sich auch Sozial- und Kulturanthropolog*innen, wie z.B. Johannes Fabian, mit dem Thema des Othering – einem Vorgang, der die eigene Normalität durch die Abgrenzung gegenüber anderen konstruiert – auseinander. Es ist jedoch nicht üblich, dass diese die Menschen, deren Praktiken sie erforschen wollen, bitten, ihre Praktiken auf sich selbst anzuwenden, um – in Gegenüberstellung mit der eigenen Praxis – zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Mit Ausnahme des amerikanischen Kulturanthropologen Paul Stoller, der seine Wahrnehmung der Songhay im Niger deren sensorischer Wahrnehmung seiner Person gegenüberstellte, ist mir jedenfalls kein Beispiel bekannt.
Auf welche Schwierigkeiten sind Sie bei Ihrem Vorhaben gestoßen?
Der wichtigste und schwierigste Schritt für mich war die Einsicht, dass meine künstlerische Praxis nicht ganz so egalitär und partizipativ ist, wie ich gedacht hatte. Denn ich allein kombinierte in der Postproduktionsphase das aus den intersubjektiven Begegnungen resultierende Material – die Interpretationen der Teilnehmer*innen (Audioaufzeichnungen, Texte) und meine Fotoporträts – zu meinen künstlerischen Arbeiten. Nur durch diesen Schritt war es mir aber möglich, die eigentliche Stärke meiner Forschung zu erkennen, nämlich dass ich den westlichen Blick ebenso untergraben wie bestärkt hatte, wodurch der produktive kritische Diskurs um die Verflechtungen von Selbst und Anderem erst ermöglicht wurde.
Wäre Ihnen das auch ohne die Dissertation gelungen?
Ein kritischer Blick auf die eigene Arbeit ist mit Selbstkritik verbunden, und das ist kein leichtes Unterfangen – erst recht dann nicht, wenn man seit über einer Dekade eine bestimmte Vorstellung hat. Ohne die fundierte Herausforderung und intellektuelle Großzügigkeit meiner hochmotivierten Betreuer wäre es mir kaum gelungen.
Fassen Sie die Hauptergebnisse, zu denen Sie gelangt sind, bitte kurz zusammen.
Meine Untersuchung ergab, dass meine vergleichende interkulturelle Kunstpraxis, die mich als künstlerischer Forscherin in einer verwundbaren Position in den Mittelpunkt des Vergleichs zur Aufwertung nichtwestlicher Menschen und ihrer Praktiken im Gegensatz zum historisch-anthropologischen Projekt des Rassenvergleichs stellt, eine bisher nicht gekannte Perspektive auf die untersuchten kulturellen Praktiken (z.B. den Joik-Gesang der Sámis in Finnmark, das Spurenlesen der australischen Aborigines oder die Verschleierung der Frauen im Jemen) bietet. Sie zeigte, dass diese Praktiken dazu beitragen, die westliche Sicht auf das, was ein Porträt ausmacht, zu erweitern – ein Potenzial, das als solches weitgehend unbemerkt und damit unerforscht geblieben ist. Im Gegensatz dazu weisen meine photographischen Darstellungen der Projektbeteiligten darauf hin, was der westliche Blick wirklich ist – eine physiognomische Darstellung. Dies ist ein innovativer Beitrag in diesem Bereich. Darüber hinaus leistet die Präsentation und Vermittlung meiner Werke an kontroversen Orten der Repräsentation – insbesondere im ethnologischen Museum – einen wesentlichen Beitrag zur mentalen Entkolonialisierung, wie sie beispielsweise von Theoretikern und Kuratoren wie Kebede (2004) sowie Hansen und Nielsen (2011) gefordert wird. Schließlich zeigen meine Kunstwerke eine Europäerin, d.h. eine Vertreterin des Teils der Weltbevölkerung, der normalerweise nicht in diesen europäischen Sammlungen vertreten ist – insbesondere nicht aus nicht-westlicher Sicht.
Wie hat die Dissertation Ihre Arbeit verändert?
Ich beabsichtige nicht mehr, Versionen von Porträt als Dialog in weiteren kulturellen Kontexten zu wiederholen. Vielmehr habe ich verstanden, dass meine langjährige Kunstpraxis eine Verantwortung für die kritische und kreative Auseinandersetzung mit dem von vielen Kulturanthropolog*innen heute geforderten Prozess der umfassenden Dekolonisierung mit sich bringt. Ich möchte meine bisherige Arbeit als Grundlage für zukünftige Kunstwerke und Schriften verwenden, die dieses Vorhaben fördern. Mir wurde auch klar, dass meine Intuition bei der Themenwahl eine entscheidende Rolle gespielt hat, noch bevor ich begann, mich in akademischen theoretischen Diskursen zu engagieren. Ich werde meiner künstlerischen Intuition in Zukunft mit noch mehr Selbstvertrauen folgen.
Was bringt Ihnen die Promotion persönlich?
Ich habe den Eindruck, dass ich meine Arbeit eigentlich erst durch die Dissertation wirklich in Besitz genommen habe. Damit meine ich, dass ich sie durch die Analyse und Kontextualisierung erst richtig verstanden habe.
Hat die Promotion für Sie auch einen beruflichen Nutzen?
Meine Entscheidung für die Promotion ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass meine Projekte einerseits relativ kostenintensiv und andererseits nicht marktorientiert sind, so dass ich auf Zuschüsse angewiesen bin. Während Wissenschaftler*innen in Deutschland altersunabhängig eine Forschungsförderung beantragen können, sehen viele Programme zur Förderung künstlerischer Projekte eine Altersgrenze vor. Durch meine Promotion habe ich das Verfallsdatum, dem ich als Künstlerin in dieser Hinsicht unterliege, praktisch außer Kraft gesetzt.
Angelika Boeck, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch. Bei dieser Gelegenheit kündige ich einen weiteren, für 2020 geplanten w/k-Beitrag von Ihnen an, der sich mit der Fördersituation für Künstlerinnen, deren Arbeit sich im Bereich zwischen Kunst und Wissenschaft bewegt, befassen wird.
Die Dissertation von Angelika Boeck mit dem Titel De-Colonising the Western Gaze: The Portrait as a Multi-Sensory Cultural Practice kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
▷ Webseite der Künstlerin: www.angelika-boeck.de
Beitragsbild über dem Text: Angelika Boeck: Smell Me (2011). Foto: Wilson Bala.
Literaturangaben
Hansen, F., and Nielsen, T.O. (2011): Troubling Ireland – A Cross-Borders Think Tank for Artists and Curators with Kuratorisk Aktion. Zugänglich unter: http://www.firestation.ie/programme/project/think-tank-programme/ (Abgerufen am 13. Oktober 2018).
Kebede, M. (2004): African Development and the Primacy of Mental Decolonization. In: Africa Development-Senegal 29 (1): S. 107–130.
Sansi, R. (2015): Art, Anthropology and the Gift, London: Bloomsbury.
Wilde, O. (1890): The Picture of Dorian Gray. Zugänglich unter: https://www.amazon.co.uk/Picture-Dorian-Gray-Oscar-Wilde-ebook/dp/B000JQU4TW (Abgerufen am 4. Januar 2017).
Zitierweise
Peter Tepe (2019): Angelika Boeck: Künstlerin mit Promotion. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d11837
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