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Wulf Noll. Teil 2: Grenzgänger zwischen Europa und Asien

Text: Wulf Noll und Peter Tepe | Bereich: Grenzgänger

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Übersicht: Teil 2 besteht aus einem Interview mit dem Grenzgänger zwischen den Kulturen Europas und Asiens, vor allem Japans und Chinas.

Wulf Noll, Sie haben, wie auch aus dem biografischen Abriss hervorgeht, einen großen Teil Ihres Lebens in Asien verbracht. Geben Sie zu Beginn unseres Gesprächs bitte eine Übersicht.
Berufsbezogen waren das in Japan acht Jahre und in China mehr als zwei Jahre. Da ich seit 1990 mit einer bildenden Künstlerin verheiratet bin, kommen noch viele private Aufenthalte in Japan hinzu. Überdies eine Lesereise sowie Vorträge an Universitäten und auf wissenschaftlichen Kongressen. 
In China folgte auf zwei Berufsjahre (2009–11) im Jahr 2012 eine weitere große Chinareise, die mich auch in die Provinz der Inneren Mongolei führte. Der krönende Abschluss war 2017 eine Gastprofessur als Poet in Residence, die ich an der renommierten Meeresuniversität von China in Qingdao einnehmen konnte.

Eine weitere Übersicht kann gleich hinzugefügt werden: Welches sind Ihre wichtigsten literarischen Texte mit Bezug zu Japan und China?
Zu Japan: Woanders Pachinko! Ein japanischer Reiseroman (1994), Momotarostraße (2003), Crazy in Japan. Flanieren in zwei Welten (2005),  Den zuckenden Kugelfisch überlebt. Japanische Lesereise (2007).  Zu China: Hier liegt eine Trilogie, ein wahres Epos auf tausend Seiten seit 2023 komplett im österreichischen Bacopa Verlag vor. Band 1: Schöne Wolken treffen. Eine Reisenovelle aus China (2023), Band 2: Drachenrausch. Flanieren in China (2019), Band 3: Mit dem Drachen tanzen. Erzählungen aus China und Deutschland (2020). Der erste Band ist als bearbeitete Neuausgabe zuletzt erschienen, da er bereits woanders publiziert worden war.  

Wie hat sich Ihre Asien-Faszination entwickelt?
Das Interesse an Ostasien geht bereits auf meine Schulzeit in der Herder-Schule in Kassel zurück. Ich verfasste Referate zur Wirtschaft und zur Kultur Japans, Chinas und Südkoreas. Doch meine erste Asienreise führte 1968/69 auf dem Landweg nach Indien und in die Anrainer-Staaten. Sowohl der Direktor der Herderschule (Hermann Klitscher) als auch Marlene Höcherl, die Tochter des damaligen deutschen Landwirtschaftsministers, statteten mich mit Adressen aus, so dass ich in Bangalore und in Kalkutta gute Anlaufmöglichkeiten fand. Auch dazu gibt es ein Buch: Reise nach Indien. Dann, gute Nacht, Madame! (o.J.)

Ihnen geht es „um interkulturelles Verstehen, das Wahrnehmen anderer Kulturen“. Ich bitte Sie, Ihre Interessenlage etwas genauer zu bestimmen.
Zu den frühen Referaten, die Wirtschaft und Kultur Ostasiens betrafen, kam bald der literarische Einfluss durch Hermann Hesse und die amerikanische Beat-Literatur (Jack Kerouac, Gary Snyder, Allen Ginsberg) hinzu. Ostasien, China zumeist, aber auch Japan wurden als Hort der Weisheit gerühmt. Es ging um Zen; sowohl physisch als auch symbolisch bestieg man hohe Berge. Ans eigene Erleben gebunden, öffneten sich geistige, philosophische, aber auch psychologische Sichtweisen.
Später in Berlin, nachdem ich bereits eine Indienreise hinter mir hatte (für die Hesses Einfluss stehen kann), erwarb ich an der Freien Universität Kenntnisse in Kulturphilosophie, hier stehen Namen wie Georg Simmel, Ernst Cassirer und der Kulturanthropologe Michael Landmann, der einer meiner Lehrer war. Ich bin jedoch kein Kulturwissenschaftler geworden, im Hintergrund stand der Gedanke, erneut nach Asien reisen zu wollen.

War die Reiselust schon früh mit dem Interesse verbunden, von diesen Reisen zu berichten, Reiseschriftsteller zu werden?
Ja, doch! Reisen, besonders in unbekannte Gebiete, ist überwältigend. Eindrücke, Erfahrungen, Begegnungen … sprachlich festzuhalten, gehört zur Selbstaufklärung  und zum Bildungsstreben dazu. Zum einen muss man erkennen, was Sache ist, was Land und Leute prägt, zum anderen geht es darum, sich selber durch zunächst unbekanntes Terrain zu bringen. Man kann das experimentell nennen. Abenteuerliche Züge lassen sich nicht leugnen. 
Doch es geht um Literatur. Nicht jede sprachliche Fixierung ist Literatur. Da ich immer sehr viel gelesen habe, auch Historisches, etwa Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy, Heinrich Heines Italienische Reisebilder oder Jack Kerouacs On the road, geht es auch in der Reiseliteratur um ein bestimmtes literarisches Niveau, das in der Auseinandersetzung mit den Vorgängern zu erreichen und einzuhalten ist. Aber es geht nicht um Imitation, sondern um Innovation. Die Zeiten ändern sich, auch wenn der kulturelle Elan bleibt. Die Reiseliteratur, zuweilen schon totgesagt, ist als postmoderne wieder in Schwung gekommen. Ich bin nicht so kurz angebunden wie viele zeitgenössische Literaten. Ich lese lieber Sterne, Heine, Benjamin oder Franz Hessel … als Kehlmann, Kracht und andere postmoderne Grenzgänger … Die eigene Motivation steht im Vordergrund. Meine Protagonist*innen (und der Autor) wollen hinaus ins Freie; sie wollen Erfahrungen machen und Fremdes kennen lernen. Reisen (sentimental journeys) sind Fahrten ins Offene, das Staunen, auch der Esprit sind begleitende Faktoren. Ich habe und hatte kein Problem damit, irgendwo der erste Fremde zu sein, was in Japan, in China und in abgelegenen Gegenden Indiens noch vorkommen kann. Das Fremde und Ferne kann in die Nähe gerückt werden und umgekehrt. Auch die Liebe, zumindest das Verliebtsein, spielt eine besondere Rolle, denn sie laden die Erfahrungen mit Intensitäten auf.
Doch letztlich wollen der Literat und der Philosoph in mir dasselbe; das Besondere und Außergewöhnliche gilt es aufzuklären, wobei der Nutzen darin liegt, das interkulturelle Verstehen zu fördern. Erzählen, aufklären, herausfordern, Vormeinungen und Vorurteile aufgeben, verändern, aber auch unterhalten … sind nützliche mentale Aktivitäten. Aus mündlichen Erzählungen für Freunde wurden mit der Zeit literarische Erzählungen für alle, zumindest für diejenigen, die Interesse an literarischer und philosophischer Reiseliteratur, die subjektive und fiktive Elemente zulässt, aufbringen, was einen Unterschied zum bloß dokumentarischen Reisebericht ausmacht.

In w/k-Künstlerinterviews geht es immer auch darum, das jeweilige künstlerische Programm und die es tragenden Hintergrundüberzeugungen so genau wie möglich zu bestimmen. Welche allgemeinen künstlerischen Ziele verfolgen Sie als Reiseschriftsteller?
Als Reiseschriftsteller, ich habe ja auch anderes geschrieben, versuche ich in die fremden Kulturen einzudringen. Bei mir haben sich vor allem Japan und China als Schwerpunkte herausgebildet. Das wurde durch meine langjährige berufliche Tätigkeit in diesen Ländern begünstigt. Zunächst mussten umfassende Kenntnisse der Alltagskultur sowie der übermittelten Hochkultur gewonnen werden, durch Erfahrungen vor Ort, durch ausgedehntes Reisen, durch Gespräche mit Menschen, durch Lektüre.  

Setzen Sie bei der Erhellung anderer Kulturen, bei dem Versuch, ein wechselseitiges Verstehen zu erreichen, besondere Akzente?
In Tsukuba am Department of Comparative Culture begriff ich, dass der alte chinesische Einfluss auf die japanische Hochkultur nicht außer Acht bleiben kann. Was die griechisch-römische Antike für Europa war, war die uralte chinesische Antike und Hochkultur für Ostasien. Hier gibt es einen faszinierenden Zusammenhang, der bis heute für Europäer nur wenig aufgearbeitet ist.
Damit erweiterten sich meine Interessen, und ich bezog China mit ein. 
Übergeordnet bleibt ein literarisch-philosophisches Interesse, das darin besteht, die Aufklärung und Erhellung von anderen Kulturen voranzutreiben, was zum besseren Verstehen und zur Verständigung führen soll. Doch nicht nur der wissenschaftliche Blick, auch das Leben auf dem Campus, die Kommunikation mit jungen Leuten, war hilfreich, um ein jugendlich-frisches Bild von Japan und später auch von China zu entwerfen.  

Welche Rolle spielt die Kritik an Vorurteilen und Feindbildern in Ihrem Literaturprogramm?

Ich befasse mich in den Reisetexten immer wieder mit Feindbildern, die gen Osten aufgebaut wurden und werden. Als gelbe Gefahr sah man mit Beginn des 20. Jahrhunderts China und Japan noch gemeinsam an, bis China zur roten Gefahr wurde. Dem Japan bashing (Umweltsünder, Walfischfänger, hierarchische Gesellschaft …) kann allerdings eine Japanbewunderung gegenübergestellt werden (faszinierende Kultur, beachtliche Wirtschaftsleistung, selbstbestimmte Jugend). Das gilt für China ebenfalls. Dem China bashing (möglichst negative Berichterstattung, beispielsweise Geißelung vermeintlich repressiver Maßnahmen und vermeintlicher Unterdrückung von Minderheiten, auch Umweltsünder), von den Medien immer wieder aufrechterhalten, kontrastiert eine Chinabewunderung (beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung, vollständige Abschaffung der Armut, hohe Bildungsmotivation, Frauenemanzipation im beruflichen und gesellschaftlichen Leben, Förderung der Minderheiten, ökologische Landwirtschaft, E-Mobilität, harmonisch ausgerichtetes Verhalten, selbstbewusste junge Leute, Anerkennung von Diversität). 

Wulf Noll, City-Auftritt in Ningbo, China (2017). Foto: Archiv des Autors.
Wulf Noll, City-Auftritt in Ningbo, China (2017). Foto: Archiv des Autors.

Demonstrieren Sie die Umsetzung dieser Ziele bitte an einem repräsentativen Beispiel.
Was mein Literaturprogramm und den Abbau von Vorurteilen betrifft, spielen sowohl in den Japan- als auch in den Chinaerzählungen junge Leute und die Kommunikation mit ihnen eine besondere Rolle. Hier wird weitaus mehr Verstehen füreinander aufgebracht als durch Kontakte mit Funktionsträgern. Amüsant ist im Japanroman Woanders Pachinko! der Besuch zweier Deutscher in einer internationalen Musikkommune in den japanischen Südalpen, die gute Kontakte zu Allen Ginsberg pflegte.
In den China-Erzählungen sind es Events mit jungen Leuten auf dem Campus und zahlreiche gemeinsame Reisen, die sich bis in die entferntesten Autonomiegebiete hinziehen. Dazu kommen zahlreiche Homestays, die Einsichten ins Familienleben und in die sozialen Verhältnisse ermöglichen.

In Ihrem Programm der Reiseliteratur spielt die Erotik offenkundig eine wichtige Rolle. Weshalb?
Es ist wohl kein Geheimnis, dass die erotische Kultur in Ostasien um vieles entwickelter als im Westen ist. Die Landsleute sind besonders mürrisch, was Erotik anbelangt. Ein Grund ist im Christentum zu suchen (Askese, Sünde, Sakrament der Ehe). Auch wenn das Christentum kaum noch gilt, sind diese inneren Einstellungen im bürgerlichen Bewusstsein stark verankert, selbst wenn meine Generation das anders sehen wollte. Hier spielten Make Love, not war und Flower Power eine Rolle, obwohl deutsche Ideologen sprachgewaltig eine sexuelle Revolution anstrebten, wohl wissend, dass in Deutschland Revolutionen kaum durchzusetzen sind.

Kommen wir nun zu Ihren philosophischen Aktivitäten; Ihr neues Postmoderne-Buch ist ja der Anlass zum zweiteiligen w/k-Beitrag, und die Dissertation über Sloterdijk wurde bereits erwähnt. Wie sind Sie zur Philosophie gekommen und welche Entwicklung haben Sie genommen? 
Das Interesse an Philosophie trage ich seit Gymnasial- und Studienzeiten in mir … Meine Ausbildung begann in Göttingen und betraf die Phänomenologie, das heißt Edmund Husserl und Husserlschule; hier befasste ich mich bei Harald Delius mit dem Ästhetiker Moritz Geiger. 
In Berlin kamen Studien bei Michael Landmann und Jacob Taubes hinzu.
In Düsseldorf  lernte ich Rudolf Heinz kennen, der sich von der Phänomenologie abgewandt und der Psychoanalyse zugewandt hatte. Einen Bezug gibt es auch zu Ihrem Buch Postmoderne/Poststrukturalismus von 1992. Ich will mit philosophischen Mitteln Zusammenhänge erkennen und untersuchen. Auch wenn ich die dialektische Methode der Frankfurter Schule bevorzuge, schließe ich analytische und poststrukturalistische Methoden nicht aus, um zu einem ausgewogenen Ergebnis zu gelangen, welches einen hermeneutischen Zirkel durchlaufen hat. Postmoderne Philosophen gehen zu Recht vom Methodenpluralismus aus.

In systematischer Hinsicht kann man sagen, dass Sie die Denkansätze von Adorno und Benjamin durch Elemente anderer Positionen – insbesondere dann des postmodernen Denkens – anreichern.
Das trifft zu. Der Grund für meine Anlehnung an die Frankfurter Schule liegt in meiner Bevorzugung der Ästhetik als philosophischer Disziplin. Nach Baumgarten, Kant, Hegel ist die Ästhetische Theorie Adornos, die zum Muster einer Ästhetik der Moderne geworden ist, mein Ausgangspunkt. Das Ziel ist eine aufgeklärte und vorurteilsfreie Blickrichtung. Man muss in einer globalen Welt nicht fortgesetzt mit der europäischen, der amerikanischen oder der deutschen Brille auf andere schauen. Die anderen sind keine Fremden; sie sind nicht so viel anders als man selbst. Die Japaner, auch die Chinesen nicht. Hier wäre mein Abhandlung Nötig ist der Blick nach Osten[1] leitmotivisch anzusetzen. Wenn die Politik das mit der Diplomatie nicht mehr hinbekommt, müssen eben Schriftsteller und Philosophen für Aufklärung und interkulturelles Verstehen sorgen. 

Waren Sie auch in der philosophischen Lehre tätig?
In Tsukuba bestritt ich Colloquien, die von Forschungsstudenten und Kollegen zum Thema Postmoderne und neuere deutsche Philosophie besucht wurden. In Okayama am Philosophischen Institut konnte ich den Schwerpunkt auf die Medienphilosophie, insbesondere auf die Theorien Vilém Flussers, legen. In Japan entstanden viele Abhandlungen, die in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht wurden. Schließlich war so viel Material beisammen, dass ich in den Jahren 1996–97 meine philosophische Ästhetik niederschreiben konnte. 

Zum Schluss unseres Gesprächs sollten wir auf Ihre Beschäftigung mit der japanischen und chinesischen Philosophie zu sprechen kommen. 
Hinsichtlich Japans habe ich die neuere deutsche Philosophie, die in Japan mit einer Nietzsche-Rezeption beginnt, und Tendenzen in der japanischen Philosophie mit der deutschen verglichen, zum Beispiel Kuki Shuzo und Martin Heidegger.[2] Bezogen auf die chinesische Philosophie verdanke ich den Arbeiten von Wolfgang Kubin und dessen zehnbändigem Werk Klassiker des chinesischen Denkens (2011–2020), beginnend mit Konfuzius‘ Gesprächen und endend mit Mo Zis Von Sorge und Fürsorge, die meisten Anregungen. Hier interessiert mich neben dem frühen Sozialphilosophen Mo Zi besonders der Daoismus, nicht nur Laotse, sondern auch Zhuang Zi. Geistig anregend finde ich die paradoxe Ausrichtung des Daoismus, die, wie im Zen, psychologische und auch psychoanalytische Einsichten gewährt.[3]      

Wulf Noll, danke für das Ihren beeindruckenden Lebensweg erhellende Gespräch.

[1] Nötig ist der Blick nach Osten. Zur Kritik des kulturellen Eurozentrismus. In: minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist, 29.2 (2017), OSTASIEN Verlag, Großheirath-Gossenberg 2018, 83-102.
[2] Vergleichende Philosophie: Über Beziehungen und Entwicklungen des japanischen mit dem deutschen und des deutschen mit dem japanischen Denken. In: Orientierungen. Zeitschrift zur Kultur Asiens, 30 (2018), OSTASIEN Verlag, Großheirath-Gossenberg 2019, 157-170.
[3] Von der „Freude der Fische“ (Zhuang Zi): Ein Plädoyer für interkulturelles Philosophieren mit Blick auf Wolfgang Kubin. In: minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist, 30.1 (2018), OSTASIEN Verlag, Großheirath-Gossenberg 2019, 17-36.


Beitragsbild über dem Text: Wulf Noll an der Meeresuniversität von China, Qingdao (2017). Foto: Archiv des Autors.

Zitierweise

Wulf Noll und Peter Tepe (2024): Wulf Noll. Teil 2: Grenzgänger zwischen Europa und Asien. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d19104

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