Text: Peter Tepe | Bereich: Ästhetik und Kunsttheorie
Übersicht: Schönheitserfahrungen im Alltag sind häufig „Das sieht gut aus“-Erfahrungen. Sie setzen einfache sinnliche Erfahrungen voraus. In Schönheitserfahrungen findet eine intuitive Prüfung der sinnlich erfahrenen Eigenschaften auf Stimmigkeit im Sinne einer bestimmten ästhetischen Norm statt. Die Schönheitserfahrungen werden von variablen ästhetischen Wertsystemen gesteuert. Ein ästhetisches Wertsystem kann sowohl in dogmatischer als auch in undogmatischer Form vertreten werden.
Vorbemerkung der Redaktion
Wie im Beitrag Kooperation mit anderen Zeitschriften ausführlicher dargelegt, strebt w/k die Zusammenarbeit mit solchen Zeitschriften an, welche sich ebenfalls – sei es nun ganz oder nur teilweise – mit dem Großthema „Kunst und Wissenschaft“ befassen. Den Anfang macht die von Peter Tepe herausgegebene Online-Zeitschrift Mythos-Magazin (www.mythos-magazin.de). In deren aktueller Veröffentlichungsrunde vom Oktober 2019 wird die neue Reihe Theorie der ästhetischen Erfahrung und der Kunst begründet. In ihr findet sich der rund 100 Seiten umfassende Text Schönheit im Alltag. Zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. Hier wird die ästhetische Erfahrung von Naturphänomenen, Menschen und Gebrauchsgegenständen untersucht; in einer weiteren Studie wird es dann um die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken gehen. Den ausführlichen Text finden Sie hier:
▷ Schönheit im Alltag. Zur Theorie der ästhetischen Erfahrung (PDF)
Eine Relevanz für w/k besteht zunächst auf einer allgemeinen Ebene: Da die Eigenart der Kunst in der ästhetischen Erfahrung erschlossen wird, setzt die Theorie der Kunst – was häufig nicht erkannt wird – eine Theorie der ästhetischen Erfahrung voraus; dieses Voraussetzungsverhältnis besteht speziell auch bei der Theoriebildung über das Thema „Kunst und Wissenschaft“. Auf einer speziellen Ebene, die als Beispiel herausgegriffen wird, ist die Relevanz für w/k so zu bestimmen: In der Mathematik und einigen anderen Wissenschaften wird häufiger von einer schönen Theorie gesprochen und etwa gesagt, Ansatz a sei schöner als Ansatz b. Um beim Nachdenken über diese Dinge voranzukommen, ist es hilfreich, mit einer allgemein angelegten Theorie der Schönheitserfahrung zu arbeiten, die sich nicht ausschließlich mit Kunstphänomenen befasst.
Bei Importen aus anderen Zeitschriften wird so verfahren: Der Autor erstellt aus seinem längeren Text eine Zusammenfassung, welche die für w/k geltende Obergrenze berücksichtigt. Diese Kurzdarstellung ist, um eine Diskussion im Kommentarteil zu erleichtern, in Thesenform gehalten. Bei weiteren Importen wird sich zeigen, ob die nachfolgend verwendete Gestaltung dauerhaft benutzt werden kann; Variationen sind denkbar.
Hinzu kommt ein weiterer Vorteil für die Leser des Mythos-Magazins, das als Online-Journal älterer Bauart keine Kommentarfunktion enthält: Die Veröffentlichung einer Kurzfassung in w/k eröffnet auch Lesern des Mythos-Magazins die Möglichkeit, Kommentare zu diesem Artikel zu verfassen. Der Autor wird auf alle Kommentare reagieren.
Zusammenfassung in 34 Thesen
In Teil I werden folgende Thesen vertreten:
These 1: Zu unterscheiden ist zwischen der Erfahrung von etwas als schön und der sprachlichen Artikulation einer solchen Erfahrung. Hinter die Formen der Schönheitsrede ist auf die Schönheitserfahrungen zurückzugehen.
These 2: Etwas schön zu finden bedeutet bezogen auf das Sehen: Ich finde, dass das Gesehene gut aussieht. Diese Erläuterung lässt sich auf diejenigen Schönheitserfahrungen übertragen, welche auf dem Hören, dem Riechen und dem Tasten basieren: Man findet z.B., dass sich dieser Vogelgesang gut anhört.
These 3: Die Schönheitserfahrung setzt die einfache sinnliche Erfahrung voraus und baut auf ihr auf: In dieser wird das sinnlich Wahrgenommene spontan als das und das eingeordnet, z.B. als Baum im Allgemeinen und als Trauerweide im Besonderen. Hier gilt entsprechend: Hinter die sprachlichen Artikulationen von sinnlichen Erfahrungen ist auf diese selbst zurückzugehen.
These 4: Beiden Erfahrungsformen liegt eine Einstellung zugrunde, die auf die Beantwortung einer impliziten Leitfrage ausgerichtet ist. Diese lautet hier: „Um welche Art von Phänomen bzw. Gegenstand handelt es sich?“ und dort (bezogen auf das Sehen formuliert): „Sieht das sinnlich Wahrgenommene gut aus?“.
These 5: Von der spontanen Schönheitserfahrung, die unwillkürlich auftritt, ist die Reflexion über sie abzugrenzen, die im Kontext bestimmter Redesituationen auftritt – hier werden Gründe dafür angegeben, weshalb man etwas schön/hässlich findet.
These 6: Von der kleineren Schönheitserfahrung, die etwa beim Sockenkauf vorkommt, ist die größere zu unterscheiden, z.B. das Erleben eines Menschen als außerordentlich schön.
These 7: Wird das Gesehene spontan als schön/hässlich erfahren, so beruht das auf einer Norm des gut Aussehenden, die intuitiv angewandt wird – auf einer ästhetischen Norm. Über diese Voraussetzung der eigenen ästhetischen Erfahrung wird in der Regel nicht nachgedacht.
These 8: Zur Schönheitserfahrung gehört sowohl eine subjektive als auch eine objektive Komponente: Die subjektive Komponente besteht darin, dass das jeweilige Phänomen mit Wohlgefallen bzw. Lust wahrgenommen wird, die objektive Komponente darin, dass etwas Bestimmtes (dieser Sonnenuntergang, dieses Kind, dieses Kleidungsstück) als schön erlebt wird. In meiner Schönheitstheorie wird die objektive Komponente besonders herausgestellt.
These 9: Viele Schönheitserfahrungen sind komplexer Art, z.B. die in Bezug auf einen Esstisch, dessen Kauf erwogen wird. Während bei der einfachen sinnlichen Erfahrung erfasst wird, dass dieser Tisch schwarz ist, eine runde Deckplatte hat usw., findet bei der Schönheitserfahrung eine positive Reaktion auf die Gesamtheit seiner wahrgenommenen Eigenschaften statt. Man findet, dass diese gut zusammenpassen, eine stimmige Einheit bilden. Auf intuitive Weise findet eine Prüfung der sinnlich erfahrenen Eigenschaften auf Stimmigkeit im Sinne einer bestimmten ästhetischen Norm statt. Die komplexe Schönheits- ist eine Stimmigkeitserfahrung.
These 10: Von der komplexen ist die einfache Schönheitserfahrung zu unterscheiden. Hier geht es z.B. um die – implizite oder explizite – Frage, welche Farbe man am schönsten findet.
These 11: Der konkrete ästhetische Sprachgebrauch ist in jedem Einzelfall daraufhin zu sichten, ob in ihm eine Schönheitserfahrung, die meistens eine „Das sieht gut aus“-Erfahrung ist, artikuliert wird. Ist das nicht der Fall – wie z.B. bei „Schön, dass du da bist“ –, so ist eine andere Disziplin als die Theorie der ästhetischen Erfahrung zuständig.
These 12: Das Schönheitserleben eines Individuums steht zwar häufig, aber nicht immer mit seinen sprachlichen Äußerungen im Einklang. Manchmal stimmt man einer ästhetischen Einschätzung, die man nicht teilt, zu, da sonst Nachteile befürchtet werden.
These 13: Bei der Reflexion über eine eigene Schönheitserfahrung wird darauf reagiert, dass die Artikulation einer solchen Erfahrung auf Widerstand gestoßen ist, oder man folgt dem Bedürfnis, Gründe für die eigene Einschätzung anzugeben.
These 14: Um die Entwicklung der ästhetischen Erfahrung über die elementaren Formen der Schönheits- und Hässlichkeitserfahrung hinaus beschreiben und erklären zu können, ist es erforderlich, zwischen Laien und Kennern zu unterscheiden. Unter einem Kenner – mitzudenken sind stets die Kennerinnen sowie die Kenner des dritten Geschlechts; das gilt auch für alle vergleichbaren Formulierungen – wird ein Individuum verstanden, das bezogen auf bestimmte Phänomene – wie z.B. Möbel – über ein besonderes Sachwissen verfügt. Dabei sind einerseits Grade der Kennerschaft und andererseits verschiedene Arten von Sachwissen zu unterscheiden.
These 15: Bei Personen, welche in einem Bereich zu Kennern werden, verändern sich auch die Schönheits- und Hässlichkeitserfahrungen – es kommt zu Verfeinerungen. Auch bezogen auf die sprachlichen Artikulationen der ästhetischen Erfahrungen bilden sich Differenzierungen heraus. Menschen bleiben in diesem oder jenem Bereich aber immer auch Laien.
These 16: Der Kenner stellt z.B. fest, dass Schuh a besser verarbeitet ist als Schuh b. Der darüber informierte Laie wie auch der Kenner selbst kann aber Schuh b schöner finden.
These 17: Die Schönheits- und Hässlichkeitserfahrung variiert in der Geschichte und in den verschiedenen soziokulturellen Kontexten stark. Zur Erklärung dieser Unterschiede wird auf die anthropologischen Annahmen der kognitiven Hermeneutik zurückgegriffen: Menschen sind Lebewesen, die an Überzeugungssysteme gebunden sind; deren Grundlagen bilden Weltbildannahmen hier und ein Wertsystem dort. Zu den Wertüberzeugungen gehört auch ein ästhetisches Wertsystem. Dieses steuert die Schönheits- und Hässlichkeitserfahrung eines Individuums auf eine Weise, die diesem zumeist nicht klar bewusst ist.
These 18: Aus These 17 ergibt sich: Etwas (z.B. einen Tisch) schön zu finden besagt, dass er im Licht bestimmter ästhetischer Wertüberzeugungen als gut aussehend erfahren wird. Bei seiner Schönheitserfahrung wendet ein Individuum sein ästhetisches Wertsystem auf ein Phänomen an und gelangt sekundenschnell zu dem Ergebnis, dass dessen gesamte sinnlich erfahrene Beschaffenheit mit den hier relevanten ästhetischen Wertüberzeugungen im Einklang steht – die Wertkonformität der wahrgenommenen Eigenschaften wird festgestellt.
These 19: Dort, wo Erkenntnis angestrebt wird (was im Alltagsleben nur manchmal der Fall ist), ist die traditionelle Aussageform „x ist schön“ als systematisch irreführend zu betrachten und zu ersetzen durch: „x wird von A im Rahmen seines ästhetischen Wertsystems als schön erfahren“. X kann von B im Rahmen eines andersartigen ästhetischen Wertsystems als nur begrenzt schön und sogar als hässlich erlebt werden.
These 20: Menschen sind Lebewesen, die sich in mehreren Erfahrungsformen bewegen, von der einen zur anderen übergehen sowie die eine mit der anderen verbinden. So ist die auf Schönheit ausgerichtete ästhetische Erfahrung in vielen Fällen mit anderen Arten der Erfahrung verbunden, z.B. mit einer praktisch-nutzenorientierten, einer technischen, einer ökologischen, einer erotisch-sexuellen.
These 21: Die mit einer positiven Bewertung verbundene Erfahrung des Anmutigen, des Grazilen usw. ist als Unterform der Schönheitserfahrung zu begreifen.
These 22: Individuen machen vielfältige Erfahrungen des Angenehmen, die von denen des Schönen abzugrenzen sind: Bei der Schönheitserfahrung wird ein Phänomen als wertkonform, als zu den jeweiligen ästhetischen Wertüberzeugungen passend erlebt; bei der Erfahrung des Angenehmen wird hingegen ein Phänomen als wohltuend, als mit bestimmten Bedürfnissen körperlicher und sozialer Art im Einklang stehend empfunden. Aufgrund dieses Unterschieds stellt die Erfahrung des Angenehmen keine weitere Form der ästhetischen Erfahrung dar.
These 23: Bezogen auf Naturphänomene, Menschen und Gebrauchsgegenstände gibt es keine spezifische Erfahrung des Erhabenen, die sich von der des Schönen und Hässlichen grundsätzlich unterscheidet. Die Auffassung, dass die Erfahrung des Erhabenen mit dem potenziell Bedrohlichen verbunden sei, die des Schönen aber nicht, ist verfehlt.
These 24: Menschen neigen in vielen Fällen dazu, ihr Überzeugungssystem oder bestimmte Teile davon als definitiv gültig bzw. absolut wahr zu betrachten. Von dieser dogmatischen ist die undogmatische Einstellung zu unterscheiden, welche davon ausgeht, dass es sich in allen Fällen um Konstruktionen des menschlichen Geistes handelt, die sich zwar mehr oder weniger gut bewähren können, aber nie den Status endgültiger Gewissheiten erlangen.
These 25: Der Grundfehler der dogmatischen Denkweise besteht darin, dass eine bestimmte Annahme unter der Hand als definitiv gültig gesetzt wird. Da jede Position eine solche Setzung vornehmen kann, muss sie als kognitiv wertlos gelten.
These 26: Die generelle Kritik trifft auch die Annahme, dass es überzeitlich gültige ästhetische Werte gebe, welche man einfach anwenden könne. Unter dogmatischen Vorzeichen wird das ästhetische Urteils-Spiel so gespielt: A glaubt, über den definitiv richtigen Geschmack zu verfügen; wenn B nun das Phänomen x anders bewertet als A, so schreibt A B zu, gar keinen bzw. einen schlechten Geschmack zu haben. Geht man hingegen zur undogmatischen Einstellung über, so wird man die Varianten des auf das Schöne/Hässliche bezogenen Geschmacks zunächst einmal respektieren und tolerieren – und dann vielleicht nach den Hintergrundannahmen fragen, welche diesen Formen der ästhetischen Erfahrung zugrunde liegen.
These 27: Im Prinzip kann jedes ästhetische Wertsystem sowohl in dogmatischer als auch in undogmatischer Form vertreten werden.
Teil II befasst sich dann mit der Erfahrung des Leckeren/Wohlschmeckenden und ihrem Verhältnis zur Schönheitserfahrung.
These 28: Zur Erfahrung des Schönen gehört eine gewisse Distanz zum gesehenen, gehörten, gerochenen oder ertasteten Phänomen; dieses bleibt unabhängig von dieser Erfahrungsform bestehen. Es ändert z.B. nichts am wahrgenommenen Auto, dass es als schön erlebt wird. Für die Erfahrung des Leckeren ist es demgegenüber charakteristisch, dass man sich das jeweilige Phänomen (ein Essen, ein Stück Kuchen, ein Bier) einverleibt bzw. vertilgt.
These 29: In Teil II wird im Einzelnen gezeigt, dass die Ergebnisse der Analyse der Schönheitserfahrung ansonsten in den meisten Fällen auf die Erfahrung des Wohlschmeckenden übertragbar sind. Darauf wird in der Zusammenfassung nicht näher eingegangen.
These 30: Mit der menschlichen Bindung an ein ästhetisches korrespondiert die an ein gustatorisches Wertsystem, das in der Geschichte und den soziokulturellen Kontexten ebenfalls stark variiert.
These 31: Ein Individuum wendet sein gustatorisches Wertsystem auf Speisen und Getränke intuitiv an und gelangt sekundenschnell zu dem Ergebnis, dass die gesamte sinnlich erfahrene Beschaffenheit des jeweiligen Phänomens mit den eigenen gustatorischen Wertüberzeugungen ganz, teilweise oder gar nicht im Einklang steht. Bei der gustatorischen Erfahrung und der sie artikulierenden Aussage wird die Wertkonformität der wahrgenommenen Eigenschaften festgestellt.
These 32: Die Erfahrung des Leckeren lässt sich – wie schon die des Schönen – klar von der Erfahrung des Angenehmen abgrenzen.
These 33: Auch ein gustatorisches Wertsystem kann sowohl in dogmatischer als auch in undogmatischer Einstellung vertreten werden.
These 34: Da die Erfahrung des Leckeren mit der des Schönen – wenn man von dem in These 28 angesprochenen Unterschied absieht – strukturgleich ist, da der ästhetische also mit dem gustatorischen Geschmack verwandt ist, muss die Erfahrung des Leckeren als zweite Grundform der ästhetischen Erfahrung eingeordnet werden. Es gibt somit zwei Typen der ästhetischen Erfahrung. Aus diesen beiden Typen entwickeln sich vielfältige verfeinerte Formen, denen verschiedene Formen der Kennerschaft entsprechen.
In Teil III erfolgt eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit repräsentativen Texten der Fachliteratur. Ausgewählt wurden Arbeiten von Gernot Böhme, Martin Seel, Frank Sibley und Jens Glatzer. Dabei geht es darum, das Verhältnis der kognitiven Ästhetik zur jeweiligen Theorie in zweierlei Hinsicht zu bestimmen: Erstens wird ausgeführt, was gegen die konkurrierende Theorie einzuwenden ist, und zweitens wird untersucht, ob in diesem oder jenem Punkt eine Kooperation mit dieser Theorie möglich ist – dazu gehört vor allem die Frage, ob Elemente der anderen Theorie mit der kognitiven Ästhetik vereinbar sind oder zu deren Weiterentwicklung verwendet werden können.
Angaben zum Beitragsbild: Peter Tepe: Vier Versionen von schön (2019). Foto: Till Bödeker.
Zitierweise
Peter Tepe (2019): Schönheit im Alltag. Zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d11610
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