w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst
Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Eva Verena Müller: Zwischen Wissenschaft und Theater

Ein Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews

Übersicht: Eva Verena Müller ist sowohl Schauspielerin als auch Wissenschaftlerin. Sie promoviert über Waldökologie. Das Interview rekonstruiert ihre Entwicklung, insbesondere die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst. Dabei kommt auch das Thema wissenschaftliche Objektivität zur Sprache.

Eva Verena Müller, Sie arbeiten einerseits als Wissenschaftlerin, andererseits als Schauspielerin. In w/k ordnen wir Sie als Grenzgängerin zwischen Wissenschaft und darstellender Kunst ein. Im Interview soll Ihre Schnittstellenposition so genau wie möglich herausgearbeitet werden. Charakterisieren Sie bitte zunächst Ihre wissenschaftliche Arbeit.
Ich arbeite an der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft (FAWF) in Trippstadt. Ich promoviere dort über die regulativen Ökosystemdienstleistungen des Waldes im Hinblick auf qualitative und quantitative Grundwasserneubildung. Anders gesagt: Ich erforsche, wie wir unsere Grundwasserressource besser schützen und in Zeiten des Klimawandels erhalten können.

Und was macht die Schauspielerin gerade?
Ich drehe verschiedene Film- und Fernsehproduktionen. Aktuell läuft ein größeres Projekt für einen namhaften Streaming-Dienst. Mehr darf ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verraten.

Wie sind Sie zur Wissenschaftlerin, konkret zur Forsthydrologin geworden?
Ich begeistere mich für die Natur schon, seit ich denken kann. Die der Welt und die des Menschen als Teil von ihr. Als Kind habe ich so viel Zeit im Wald verbracht, wie ich nur konnte. Und das als Städterin! Ich hatte schon damals im Wald das Gefühl, dass er mich irgendwie gesünder macht. Auch über den Umweg der Jahre als Schauspielerin hat sich diese Verbindung immer gehalten. Ich begebe mich regelmäßig in den Wald und genieße seine gesundheitsfördernde Wirkung: Die Perspektive wandelt sich, manche Dinge relativieren sich, der Geist beruhigt sich. Der Wald hat viele gesundheitsfördernde Wirkungen, solange er selbst gesund ist und erhalten wird. Um zu wissen, was der Wald braucht, um gesund zu bleiben, muss man ihn erforschen. Ich betrachte das als Gesundheitsvorsorge sowohl für Menschen, Tiere und Pflanzen als auch für die Stoffkreisläufe der Sphären des Wassers, des Bodens und der Atmosphäre. Wenn wir es nicht schaffen, unsere Welt gesund zu erhalten, erhalten wir uns selbst nicht gesund. Ich fürchte, die Menschen müssen nun den Beweis antreten, dass sie intelligent genug sind, ihre eigene Spezies zu erhalten. Und das geht nun mal nicht ohne die anderen Spezies. Irgendjemand muss also diese Arbeit tun. Als mir das klar wurde, steckte ich knietief in der Schauspielerei mit einem Diplom in darstellender Kunst. Dank eines flammenden Motivationsschreibens wurde ich an der Universität Rostock ohne Bachelornachweis zum Masterstudium der Umweltwissenschaft zugelassen (natürlich nicht ohne schriftliche Prüfung in den Grundlagen der Naturwissenschaften). Ein hochzuschätzendes Beispiel für wissenschaftliche Integrität und Unvoreingenommenheit und daraus folgende Chancengleichheit! Nach meinem Master hat sich dann das Promotionsprojekt angeschlossen.

Terrainwechsel: Wie sind Sie zur Schauspielerin geworden?
Als Schauspielerin habe ich das, was man wohl einen klassischen Werdegang nennt, hingelegt: Ab der Mittelstufe Theater-AG und Jugendclub, nach dem Abitur Schauspielschule (Folkwang Hochschule Essen), 2003 schloss sich das Erstengagement an, dann einige Jahre freischaffend, verschiedene Film- und Fernsehproduktionen und ab 2011 wieder ein festes Engagement – bei Kay Voges am Schauspiel Dortmund. Ich liebe die Schauspielerei. Es gibt nur wenige andere Berufe, die einen so stark nachvollziehen lassen, dass jeder Mensch gute Gründe hat, so zu sein, wie er ist. Als Jugendliche, in der Phase, in der die Welt einen zum ersten Mal in ihrer Gänze enttäuscht, wurde mir klar, dass es ohne gegenseitiges Verständnis keine Schlichtung von Konflikten gibt. Ich halte die Fähigkeit zu gegenseitigem Verständnis in einer Demokratie für essentiell. Das macht unsere Welt zu einer freien Welt. Und ich denke, das Theater hat die Kraft, uns an unsere Empathiefähigkeit zu erinnern. Ich halte Theater für ein Empathie und Demokratie förderndes Gesellschaftsorgan. Als Jugendliche war ich davon überzeugt – und habe deshalb diesen Beruf ergriffen – und bin es heute noch.

Wie hat sich die Verbindung zwischen Wissenschaft und darstellender Kunst bei Ihnen herausgebildet? Welches waren die wichtigsten Entwicklungsphasen?
Diese Verbindung bringe ich quasi intrinsisch mit. Von klein auf haben mich beide Gebiete sehr angezogen. Wobei ich sagen muss, dass es eines kleinen Umwegs über die Philosophie, eine Geisteswissenschaft also, bedurfte, um schlussendlich meine Leidenschaft für die Naturwissenschaft zu entdecken. Als Jugendliche trieb mich früh die Frage um, was es denn ist, das die Welt im Innersten zusammenhält. Antworten auf diese Frage suchte ich in der Philosophie, sie zu finden wäre wohl in der Religion leichter gewesen. Aber da ich nicht getauft und religionskritisch erzogen bin, fand ich ein größeres Faszinosum in der unaufhörlichen Suche und dem Nicht-Verstehen. Ich denke, das hat mich auch bedingungslos in die Kunst getrieben. Aber nach dem Abitur schrieb ich mich zunächst für Philosophie, Psychologie und Germanistik an der Technischen Universität Darmstadt ein. Indes rangen die zwei Seelen, ach, in meiner Brust bald schon um die Vorherrschaft. Und so war diesem Studium sehr bald ein Ende gesetzt.

Da hake ich ein: Sind Sie auf Ihrem Umweg zu Einsichten gelangt, die für Sie auch heute noch bedeutsam sind?
Ich habe die Beschäftigung mit Philosophie nie aufgegeben. Im Grunde ist sie das Bindeglied, Wiege der Wissenschaft und Fundament für die Kunst. Schauspielerei ist, wenn man so will, eine andere Form des Studiums der Psychologie, und wer die deutsche Dichtung mag, ist darin auch gut aufgehoben. So ziemlich alles von meinem Umweg ist im weiteren Verlauf meines Lebens bedeutsam geblieben.

Können Sie rekonstruieren, aus welchem Hauptgrund Sie zur Schauspielschule gewechselt sind?
Mit Beginn des Studiums an der TU war die Schauspielerei erstmal auf Eis gelegt. Allerdings gerade mal ein knappes Jahr, und schon wurde klar, dass der Stachel der darstellenden Künste zu tief in meinem Fleisch saß, als dass ich nicht von Entzugserscheinungen geplagt würde, sollte ich die Schauspielerei dauerhaft sein lassen. Ein damals zu starker Stachel, dem ich nachgab. Ein Drang, auch dasjenige menschliche Leben zu erforschen und zu schmecken, das über meinen eigenen Erfahrungshorizont hinausgeht. Erweiterung – Bewusstseinserweiterung, wenn Sie so wollen.

Wenn ich richtig informiert bin, leisteten Sie sich das für eine Schauspielerin ungewöhnliche Hobby der Leidenschaft für Physik: Womit beschäftigten Sie sich? Wirkte sich das auch auf Ihre schauspielerische Arbeit aus?
Nun ja, da ich Gefallen daran gefunden hatte, der Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, in jeder möglichen Richtung nachzugehen, alle Ecken und Winkel des Seins auszuleuchten, fehlte im Bunde von Geist und Chaos noch die Materie. Und das, was die Materie im Innersten zusammenhält, erforscht die Physik, genauer gesagt die Quantenphysik. Mit Anfang 20 hatte ich mich in der Philosophie mit Platons Ideenlehre und dem Wahrheitsbegriff befasst, als mir Albert Einsteins Relativitätstheorie in die Hände fiel. Nach dieser kann nichts schneller sein als das Licht. In einem der Bücher über diese Theorie gibt es einen Verweis darauf, dass Quanten große Distanzen ohne zeitliche Verzögerung überwinden – also schneller als Licht –, und dass Einstein der Quantentheorie, besonders der Rolle des Zufalls darin, kritisch gegenüberstand, obwohl er, neben Max Planck, als Entdecker der Quanten gelten kann. Mein Interesse war geweckt. Die meisten Menschen wähnen sich als unabhängige Beobachter einer objektiven Wirklichkeit. Doch schon die Fragen, die wir an diese objektive Wirklichkeit stellen, basieren auf Interpretation. Unabhängig und wertfrei Daten zu sammeln, ist schier unmöglich. Was wir neutrale Informationen nennen, folgt unweigerlich allein unseren Denkmustern. Die Wissenschaft trifft durch Fragen, die sie aus dem Blickwinkel, Materie sei stabil und Daten seien objektiv, an die Welt stellt, bereits eine Auswahl der Antworten. Die Welt der Quanten zeigt, dass Objektivität, zumindest aus uns heraus wahrnehmbar, ein Mythos ist, da wir unsere Wahrnehmung der Welt bereits gestalten, während wir die Welt vermeintlich neutral erfassen.

Das w/k-Interview ist nicht der richtige Ort, um eine ausführliche Diskussion zum Thema wissenschaftliche Objektivität zu führen. Wir können dieses Thema nur anreißen: Was verstehen Sie bezogen auf die Quantenphysik unter Objektivität, und weshalb halten Sie diese für unmöglich, für einen Mythos?
Wenn ich sage, Objektivität sei ein Mythos, dann meine ich einen Objektivitätsbegriff, der die Unabhängigkeit der Beurteilung vom Beobachter bzw. vom Subjekt beschreibt. Für ein Subjekt wäre das eine paradoxe Anforderung, finden Sie nicht? Bezogen auf die Quantenphysik geht meine Überlegung auf das Doppelspaltexperiment zurück, das den Welle-Teilchen-Dualismus demonstriert. Einfach gesagt geht das in etwa so: Man lässt Wellen, zum Beispiel Licht, durch zwei schmale, parallele Spalten dringen. In einigem Abstand hinter den beiden Spalten treffen die Wellen auf einen Beobachtungsschirm, also eine Fläche, auf der sich durch das Auftreffen der Lichtwellen ein sogenanntes Interferenzmuster bildet. Ein ganz bestimmtes Muster, das sich nur durch Wellen, deren Beugung an den Spalten und anschließende Überlagerung bildet. Stellen Sie sich der Einfachheit halber Wasser vor: Die Wellen können gleichzeitig an verschiedenen Orten präsent sein. Ein klassisches Teilchen hingegen kann zu einem Zeitpunkt nur an einem bestimmten Ort sein. Die beiden Eigenschaften scheinen sich auszuschließen. Interessanterweise tritt das Interferenzmuster auf dem Beobachtungsschirm nur dann auf, wenn die Versuchsanordnung nicht beobachtet wird. Schaltet man eine Apparatur dazu, wobei allein die physikalische Möglichkeit zur Beobachtung bzw. Informationssammlung ausreicht, verhält sich das Licht wie Teilchen, und es bildet sich ein Streifenmuster auf dem Beobachtungsschirm. Der Beobachter hat also, zumindest auf subatomarer Ebene, einen nicht-vernachlässigbaren Einfluss auf das beobachtete Objektsystem. Anders formuliert: Die kleinsten Bausteine der Materie verwandeln allein durch den Vorgang des Beobachtens ihre Identität. Sie scheinen mit dem Beobachter in einer Wechselwirkung zu stehen. Unserer Beobachtung – und damit uns als Beobachtern – wird also ein Vorgang, ein Aspekt der Wirklichkeit, entzogen.

Das soll zur Darstellung der Lage in der Quantenphysik genügen. Hier besteht nach Auffassung vieler Fachleute eine besondere Konstellation, die man mit Ihren Worten so fassen kann: Der Beobachter hat auf subatomarer Ebene einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf das beobachtete Objektsystem. In anderen erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen halten aber viele – natürlich nicht alle – Forscher an einem Verständnis von Objektivität fest, das man etwa so erläutern kann: Sie streben erstens die sorgfältige Beschreibung der jeweiligen Sachverhalte und zweitens deren bestmögliche theoriegebundene Erklärung, die aber stets verbesserungsfähig bleibt, an. Hier (und das gilt auch für viele Wissenschaftstheoretiker) wird unter Objektivität nicht eine totale Unabhängigkeit vom erkennenden Subjekt verstanden, die dann als prinzipiell unerreichbar einzuschätzen ist, sondern das Streben nach (für Menschen erreichbarer) Objektivität wird aufgefasst als eines nach möglichst faktenkonformen theoretischen Konstruktionen, die eine möglichst umfassende und tiefgreifende Erklärungsleistung erbringen; solche Ergebnisse sind von den Meinungen des einzelnen Subjekts unabhängig und ihnen überlegen. Verwerfen Sie auch ein solches Verständnis von Objektivität?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich negiere nicht die Existenz einer objektiven Wirklichkeit. Und natürlich gehe ich mit der von Ihnen beschriebenen wissenschaftlichen Arbeitsweise konform. Sie benennen aber bereits ein entscheidendes Detail: Die Ergebnisse sind von der Meinung des Subjekts unabhängig. Es wäre sicher fatal für die Wissenschaften, wenn sie auf Meinungen des Individuums, das forscht, basierten. Und trotzdem wage ich zu bezweifeln, dass es dem Menschen gelingt, sich von Interpretationen völlig frei zu machen. Das ist womöglich eine Frage der Begrifflichkeiten, aber ich denke, mit dem Begriff Objektivität sollte man vorsichtig umgehen. Ich will meinen Ansatz mit der Theorie des Radikalen Konstruktivismus beschreiben: Diese philosophische Position befasst sich mit der Frage, inwieweit wir als Menschen überhaupt in der Lage sind, das objektive Wesen einer außen stehenden Wirklichkeit zu erfassen. Innerhalb des Systems der menschlichen Existenz, unserer Wahrnehmung und Erfahrung, werden im Sinnesverarbeitungssystem, dem Gehirn, kognitive Strukturen konstruiert, welche der Limitierung dieses Systems nicht entsteigen können. Nach dieser Annahme können wir also nur auf diejenigen Fragen kommen, die diesen Strukturen entspringen. Unsere Fragen entsprechen auf gewisse Weise bereits unserer Erwartung an die von uns wahrgenommene und auf bestimmte Weise erlebte Wirklichkeit. Wenn wir unser kognitives System nicht aus der Beziehung zur Umwelt heraussubtrahieren und unsere Wechselwirkung mit uns umgebenden Objektsystemen nicht unterbinden können, haben wir unweigerlich den Blickwinkel eines Subjekts. Und das halte ich insofern für eine wichtige Position, als sie hilft, unsere Erkenntnisse über die Welt zu relativieren und den menschlichen Bezug nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist sicher geboten, wenn man sich klar macht, auf welcher Wissensbasis wir in hochsensible Prozesse der Natur eingreifen, ohne uns über mögliche Folgen gewahr zu sein. Der Anspruch auf Objektivität läuft Gefahr, eine Überlegenheit zu suggerieren, die leicht zu Selbstüberschätzung führen kann. Viele Beispiele in der Geschichte der Menschheit demonstrieren das eindrücklich. Die Klimakrise und die sich in manchen Teilen der Weltbevölkerung hartnäckig haltende Ignoranz unseres Anteils daran ist ein solches Beispiel aus heutiger Zeit. Seit in den 1970er Jahren erkannt wurde, dass menschliche Aktivitäten das Klimasystem beeinflussen, gibt es Wissenschaftler, die mit vermeintlich objektiven Fakten Gegenstimmen zum anthropogenen, also dem menschengemachten Klimawandel bilden. Wissenschaft ist eben doch auch eine Frage der Interpretation. Und leider häufig auch des Geldes.

In Ihrem Dissertationsprojekt geht es um die Beantwortung der Frage, wie wir unsere Grundwasserressource besser schützen und in Zeiten des Klimawandels erhalten können. Wie ordnen Sie dieses Projekt in Ihre konstruktivistischen Überzeugungen ein? Ist damit nicht ein Anspruch auf Objektivität im von mir erläuterten Sinn verbunden?
Ökologische Systeme haben durch zahllose biotische und abiotische Beziehungen, also solche, die die belebte und unbelebte Natur betreffen, ein hochkomplexes Netz an Wechselwirkungen. Die wenigstens davon verstehen wir bis heute voll und ganz. Überall da, wo wir etwas nicht oder noch nicht verstehen, wartet eine Frage, auf die wir erst noch kommen müssen. Der Faktor Mensch hat mittlerweile einen so gravierenden Einfluss auf natürliche Systeme, und das vorrangig aus subjektiven Interessen heraus, dass ihre Funktionstüchtigkeit gefährdet ist. Aus den Wechselwirkungen, denen innerhalb der natürlichen Funktionszusammenhänge und denen der natürlichen Systeme mit dem Menschen, können wir lernen, was wir tun müssen und wie wir unser Verhalten anpassen können, um mit den natürlichen Systemen, von deren Erhaltung wir abhängig sind, zu leben und zu überleben. Wenn Sie mit ein „Anspruch auf Objektivität“ die wissenschaftliche Arbeitsweise meinen, würde ich vorschlagen, dass man sich lieber an der Logik orientiert. Es wäre ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, würde man dabei Objektivität im eigentlichen Sinn erzielen wollen. Ein streitbarer Standpunkt aus Sicht vieler Wissenschaftler. Aber nicht umsonst ist Objektivität ein Ideal, dem wir uns in den Wissenschaften durch anerkannte, das heißt durch häufige Wiederholung erprobter Methoden anzunähern versuchen. Wir versuchen daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, um uns zu orientieren. Diese von uns postulierten Gesetzmäßigkeiten kann man als Momentaufnahme des zu einer bestimmten Zeit aktuellen Erkenntnisstands innerhalb des Erkenntnissystems (d.h. im Rahmen seiner Ausstattung mit Geist und Sinnen) bezeichnen.

Die Diskussion über den Begriff der Objektivität wollen wir jetzt nicht weiter vertiefen. Wie wirkte sich Ihre Beschäftigung mit der Quantenphysik auf Ihre Schauspielerei aus?
Diese Einsichten beeinflussten mich als Schauspielerin insofern, als ich den Absolutheitsanspruch einer jeden Subjektivität in meinen Rollen verstand. Nach über 10 Jahren auf deutschen Bühnen, in denen das Chaos in mir seine Regentschaft gefeiert hatte, legte es sich allmählich in mir, und in die Stille trat der Ruf der Schwester: der Materie. Ich strebte mehr und mehr der Wissenschaft zu. Die Beschäftigung mit Physik hat mich also vor allem meinem zweiten Beruf in die Arme getrieben. Betrachtet man Physik mit den Augen der Interaktion – und so sind meine Augen durch die Kunst ausgerichtet –, landet man schnell bei der Chemie. Physik befasst sich mit der fundamentalen Wechselwirkung, den Grundkräften der Natur also, wobei die Eigenschaften des jeweiligen Interaktionspartners bei der Interaktion erhalten bleiben. In der Chemie gehen Stoffe eine Wechselwirkung ein, bei der etwas Neues entsteht. Das Ergebnis ist mehr als die Summe der Einzelteile. In der Kunst geht es häufig um genau diese Qualität von Interaktion, bei der etwas entsteht, das mehr ist als die Summe der Einzelteile, das über sich selbst hinauswächst. Ein Meister der Bindungsfähigkeit und damit der Interaktion in der Chemie ist der Kohlenstoff, Protagonist der organischen Chemie. Und schon ist man in der Sphäre des Lebendigen, die sich in Fragen der Komplexität ihrer Wechselwirkungen von nichts so schnell den Rang ablaufen lässt. Zur Synthese aus Kunst und Wissenschaft kam es allerdings auf den Brettern, die die Welt bedeuten, erst, als ich 2018 vom Intendanten des Schauspiels Dortmund, Kay Voges, gebeten wurde, ein Stück über Quantenphysik mitzuschreiben. Erst da wurde mir klar, was für eine Einheit sich in mir gebildet hatte, und ich brachte des Pudels Kern nach Hause.

Eva Verena Müller (2017). Foto: Gregory B. Waldis.
Eva Verena Müller (2017). Foto: Gregory B. Waldis.

Welche künstlerischen Ziele verfolgen Sie als Grenzgängerin? Und damit verbunden: Wie gehen Sie selbst über diese Grenzen?
Mich auf ungewohntes Terrain zu begeben, Neues auszuprobieren, zu hinterfragen, was ich für richtig halte, mich und andere herauszufordern, im Denken und Handeln offen zu bleiben, nicht beim Gewohnten stehenzubleiben. Die Kunst hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder neu erfunden. Und das ist wichtig, um mit der Zeit zu gehen und sich zu erweitern, Neuland zu betreten. Gerade dieses Neuland interessiert mich sehr. Die Inszenierung Die Parallelwelt von Kay Voges, bei der ich zum ersten Mal als Co-Autorin mitwirkten durfte, ist ein gutes Beispiel dafür, künstlerisches Neuland zu betreten: Die Vorstellung fand zeitgleich an zwei verschiedenen Orten statt, am Schauspiel Dortmund und am 492 km entfernten Berliner Ensemble. Die beiden Ensembles waren durch eine Live-Videoschaltung verbunden und konnten ohne zeitliche Verzögerung unmittelbar miteinander spielen. Die Texte wurden zum Teil chorisch von Mitgliedern beider Ensembles gesprochen, und auch thematisch wurde die Tatsache, zugleich an zwei verschiedenen Orten zu sein, aufgegriffen, indem die Quantenphysik ein zentrales inhaltliches Moment bildete. Eine solche Versuchsanordnung verlangt den Spielern ab, ihre Sensibilität für die Mitspieler über den realen Raum hinaus in den virtuellen zu erweitern. Und dem Zuschauer, sich auf das Experiment einzulassen, gewohnte Vorstellungen von Theater aufzubrechen und sich auch inhaltlich an die Grenze des Verstehbaren zu begeben. An dieser Grenze kann das Nicht-Verstehen möglicherweise als inspirierender Vorgang wahrgenommen werden, der mich mit dem assoziativen Denken – und damit mit dem eigenen Innenleben – in Berührung bringt. Mein Innenleben und die Inszenierung gehen eine Wechselwirkung ein, bei der die Theatervorstellung in mir entsteht und mehr ist als die Summe beider Teile. Im Grunde gilt das für jede Vorstellung, die Subjekte besuchen, aber dennoch wird die Grenzauflösung zwischen meinem Innenleben und der Vorstellung in dieser Inszenierung besonders deutlich erfahrbar. Mich reizt als Künstlerin wohl vor allem, über Grenzen nachzudenken, sie aufzuzeigen, und ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass man sie überschreiten kann. Und Letzteres meine ich in jedem erdenklichen Sinn, seien es gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche oder persönliche Grenzen, im Innen oder Außen. Grenzen können sehr wichtig sein, wenn es Anlass gibt, sich vor etwas zu schützen. Grenzen engen uns aber auch ein. Im Geist, in unserem Potential, in unserer Kreativität. Sie sind begrenzend – und mehr noch, sie existieren offenbar nicht auf subatomarer Ebene, auf der tiefsten, innenliegenden Ebene unseres Seins. Die tiefste Ebene unserer Materie zeigt sich uns so, dass es dort keine Abtrennung gibt. Nur Interaktion. Interaktion ist offenbar nicht nur grundlegend für die Natur – die Idee, dass wir zusammen mehr sind als die Summe der Einzelteile, ist ein Ansatz, der sowohl auf unsere Demokratie als auch auf die Beziehung zu unserer Lebensgrundlage lebensspendend wirken kann. Ich denke, die Probleme des 21. Jahrhunderts werden sich auf gesellschaftlicher Ebene nicht lösen lassen, wenn die Interaktionen unserer Länder sich auf Gebietsansprüche und Protektionismus zurückziehen, statt sich auf wechselseitige Dependenzen zu besinnen. Auf wissenschaftlicher Ebene werden sich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kaum ohne interdisziplinäres Denken, also Interaktion der Wissenschaftsdisziplinen, bewältigen lassen. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo das Maß an Komplexität, das wir bis hierhin erahnen, von uns auch bewältigt werden muss, um weiterzugehen. Und da stellt sich die Frage: Wo hört das eine auf und fängt das andere an? Und das gilt selbstredend auch für die Kunst, die die Zeit ventiliert.

In welchem Verhältnis steht Ihre wissenschaftliche Tätigkeit zur künstlerischen: Welche Verbindungen bzw. Wechselwirkungen gibt es zwischen beiden Bereichen?
Die Verbindung bin ich, ist das Leben in von mir nicht zu trennender Gesellschaft, in von mir nicht zu trennender Umwelt, dem Planeten und die Gesamtheit des von ihm nicht zu trennenden Lebens darauf. Das ist die ultimative Verbindung. Die Wechselwirkung ist das Bewusstsein. Kunst schafft Bewusstsein von Berufswegen und sucht nach jeder Tür, die es dafür aufzustoßen gilt. Sie schmeckt die Wirklichkeit aus uns heraus. Die Wissenschaft legt Wirklichkeit frei, sortiert uns darin ein und stößt von Berufswegen ständig an Grenzen. Grenzen des Bewusstseins. Da stehen sich nun Geist und Materie gegenüber, und ein jedes wirkt auf das andere zurück. Die Wissenschaft kann der Kunst bei ihrer Suche helfen, genau an diesen Grenzen zu grasen und Fragen zu stellen. Es gibt kaum eine ertragreichere Quelle für Absurdität – eine Praxis, die sich Theaterschaffende erst mühsam erarbeiten müssen – als die Quantenphysik! Und im Gegenzug kann die Kunst die Wissenschaft lehren, kreativ zu denken, um auf neue Fragen zu kommen – denn die Fragen, die wir an die Welt stellen, determinieren die Antworten, die wir kriegen. So mancher geniale Wissenschaftler hat seine Genialität der Tatsache zu verdanken, dass er zwei lose Enden verbunden hat.

Ordnen Sie das kreative Denken ganz der Kunst zu?
Nein. Ich spreche hier nicht von der Kunst oder der Wissenschaft, sondern von denjenigen Aspekten, die das jeweils eine vom jeweils andern mitnehmen kann. Das Hauptpotenzial der Kunst ist Kreativität. Das ist das, was sie vor allen anderen Dingen ausmacht. Daraus lässt sich meines Erachtens nach nicht der Schluss ziehen, dass ausschließlich sie kreativ sei. Und dass sie der Wissenschaft helfen kann, sich dieses Potenzials zu bedienen, sagt nicht, die Wissenschaft sei kategorisch unkreativ.

Hat die künstlerische Tätigkeit in einigen Fällen die Hervorbringung einer wissenschaftlichen Theorie begünstigt – und/oder umgekehrt?
Meinen Sie bei mir oder bei Albert Einstein und seiner Geige? Derzeit schreibe ich an meiner Doktorarbeit über Forsthydrologie. Ich kann bisher nicht behaupten, dass dort Luft für Künstlerisches sei, wenngleich ich das kreative Denken nicht aus mir raussubtrahieren kann. Es ist sicher hilfreich, um mental Verbindungen zwischen Dingen zu erkennen. Die wissenschaftliche Tätigkeit wiederum hat bereits zwei künstlerische Theorien in Form von Stücken hervorgebracht. Eins davon wartet noch auf seine Umsetzung.

Eva Verena Müller, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Gespräch.

Angaben zum Beitragsbild: Eva Verena Müller als Hexe Hella in Kay Voges‘ Der Meister & Margarita, Schauspiel Dortmund (2012). Foto: Birgit Hupfeld.

Zitierweise

Peter Tepe (2020): Eva Verena Müller: Zwischen Wissenschaft und Theater. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d14152

Gib den ersten Kommentar ab

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert