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Zur ästhetischen Genese technischer Bilder

Text: Angela Krewani | Bereich: Allgemeines zu „Kunst und Wissenschaft“

Übersicht: Das künstlerische Arbeiten mit Medien basiert auf technischen und massenmedialen Kommunikationsformen, die gleichermaßen in wissenschaftlichen Verfahren wirksam sind. Zeitgenössische Wissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisse oft auf der Grundlage von Datenvisualisierungen. Dadurch rückt die Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen in die Nähe von künstlerischen Verfahren, die fast auswechselbar werden.

Da Medien oft im Rahmen künstlerischer und wissenschaftlicher Verfahren eingesetzt sind, fragt dieser Beitrag nach den Gemeinsamkeiten und inneren Beziehungen von Bildmedien wie Fotografie, Film, Fernsehen und interaktiven Animationen sowie deren Einsatzmöglichkeiten in Kunst und Wissenschaft.

Bereits 1973 verwies der Medienkünstler und Kunsthistoriker Douglas Davis auf die traditionelle Verbindung von Kunst und Technik, die sich seines Erachtens in der Renaissance etabliert hatte und durch die industrielle Revolution bis in die Moderne fortgeführt wurde. Was dem Maler früher die Landschaft war, wird ihm in der technologischen Moderne Davis zufolge die technische Umwelt (Davis 1973), die sich in der Dynamik von Medium, also der materialen Vermittlung von Inhalten, Kommunikations- und Kunstform manifestiert. Das künstlerische Arbeiten mit Medien ist damit immer angebunden an technische und massenmediale Kommunikationsformen. Schon die künstlerische Zentralperspektive, die generell als Form der ‚natürlichen’ Wahrnehmung akzeptiert ist, wird als Technologie des Visuellen betrachtet, die dazu dient, die dreidimensionale Außenwelt auf eine zweidimensionale Fläche zu bannen.

Albrecht Dürer: Der Zeichner der Perspektive (1512–1525). Foto: Hans Loos.
Albrecht Dürer: Der Zeichner der Perspektive (1512–1525). Foto: Hans Loos.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Bedeutung von Dürers Illustration Der Zeichner der Perspektive, in welcher der Benannte mit Hilfe einer quadratischen Matrix die perspektivische Zeichnung eines liegenden Aktes vornimmt, also die „gleichzeitige Wahrnehmbarkeit von Darstellungsebene und Dargestelltem, von medialer Prämisse und ikonischer Formung”, die in der Zentralperspektive realisiert ist, herstellt (Böhm 1999: 170).

Aus dieser visuellen Tradition ergibt sich die Bedeutung der Zentralperspektive, die seit der Renaissancemalerei von anderen Medien aufgegriffen und perfektioniert wurde. Vor allem die Bildgestaltung der technischen Massenmedien wie Fotografie, Film und Fernsehen bezieht sich in ihren konventionelleren Aspekten auf die bildgestalterischen Mittel der Zentralperspektive. Peter Gendolla argumentiert, dass die Zentralperspektive als „symbolische Denk- und Anschauungsform“ in die Kunst- und Kulturgeschichte eingegangen sei und von daher einen für die Neuzeit „prägenden Darstellungsraum“ ausgebildet habe; dennoch bleibe sie eine mentale Konstruktion, die sich durchgängig an mediale Darstellungsformen gekoppelt habe (Gendolla 2001: 20). Diese Anverwandlung von Mathematik und Strukturen der Darstellung skizziert der Kunstwissenschaftler Erwin Panofsky folgendermaßen:

„Von der Struktur des psychophysiologischen Raums abstrahiert die exakt-perspektivische Konstruktion grundsätzlich. Es ist nicht nur ihr Ergebnis, sondern geradezu ihre Bestimmung, jene Homogenität und Unendlichkeit, von der das mittelbare Erlebnis des Raums nichts weiß, in der Darstellung desselben zu verwirklichen – den psychophysiologischen Raum gleichsam in den mathematischen umzuwandeln“ (Panofsky 1974: 101).

Aufgrund der von Panofsky pointierten transitorischen Eigenschaften bezeichnet der Medienwissenschaftler Gendolla die Zentralperspektive als „Medium“ (Gendolla 2001: 21). Was uns als ‚natürliche’ Wahrnehmung erscheint, ist demnach ein geschicktes Konstrukt visueller und technischer Medien, deren Stellenwert einer erheblichen Klärung bedarf. Gottfried Böhm argumentiert an dieser Stelle, dass die Zentralperspektive ein „Medium zur Durchsetzung von Sachverhalten” sei (Böhm 1999: 172). Damit sei sie keineswegs neutral, sondern sie fungiere im Interesse der Durchsetzung einer rationalen Ästhetik, die „modellhafte Analoga” zur sichtbaren Welt schaffe, um damit „eine Rationalisierung zustande zu bringen, die das reale Sehen […] mit dem Sehen von dargestellter Realität zur Deckung zu bringen erlaubt” (Böhm 1999:172).

Rationalität, verstanden als Grundlage neuzeitlicher Wissenschaft, erscheint damit nicht ausschließlich als eine Geisteshaltung, sondern sie basiert auf visuellen Strukturen und komplexen Praktiken, die sie konstitutieren und wiederholt herstellen. In diesem Sinne gestaltet sich das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft als eines, das implizit und unbemerkt bereits durch die visuelle Repräsentation von Welt immer schon besteht.
Als Folge aus diesem Verhältnis entwickelten sich die technischen Medien Film und Fotografie, welche die rationalen Bedingungen der Zentralperspektive in ihre Arbeitsweise aufnahmen. Im Gegensatz zum Film, dessen Arbeitsweise auf dem Nachbild, also dem Lichteinfall auf das Auge und der dadurch bewirkten Bewegungsillusion basiert (Crary 1990: 129), bedeutet die Fotografie eine Weiterführung der Camera Obscura.

Athanasius Kircher: Camera Obscura (1646). Foto: Joortje1 (Wikipedia)
Athanasius Kircher: Camera Obscura (1646). Foto: Joortje1.

Dies ist eine Apparatur, welche den Lichteinfall durch eine Linse zu bündeln versteht und in einen dunklen Raum transportiert. An den Wänden des Innenraums werden nun die Bilder der Außenwelt sichtbar. Indem die Fotografie das Modell der Camera Obscura weiterführte, entfernte sie sich von demjenigen der direkten Einwirkung auf das Auge. Sie entwickelte im Gegensatz zu den illusorischen Wahrnehmungstechnologien des Films und der nachfolgenden virtuellen Medien ein Verfahren zur Dokumentation des Gesehenen. Auf diese Art und Weise konnte sie die deutliche Wirkung der Zentralperspektive, die sich zum mobilen Träger von Wissen entwickelt hatte (Latour 1990), für ihre Form der Bildlichkeit ausnutzen. In vielen Fällen verließ sich die Fotografie auf die zentralperspektivische Darstellung und vertiefte ihre dokumentarische Kompetenz. Von daher lassen sich die technischen Dimensionen der Fotografie vor allem aus den Feldern Naturwissenschaft, Ökonomie, Militär und Recht herleiten, die weiterentwickelt und funktionalisiert wurden.

Aufgrund ihrer andersgearteten Verwendungs- und Zuschreibungskontexte wurden Fotografie und Film in unterschiedlicher Art und Weise für die Wissenschaft verwendet. Lorraine Daston und Peter Galison erläutern, dass die Fotografie in dem im 19. Jahrhundert neu entstandenen Wunsch nach mechanischer Objektivität eine erhebliche Rolle spielte und aus diesem Grund in die Bildverfahren der wissenschaftlichen Darstellung aufgenommen werden konnte (Daston/Galison 1992). Wissenschaftliche Forschung bediente sich von ihren Anfängen an der Fotografie, wie die Arbeiten von Robert Koch belegen, der anhand von Fotografien grundlegende Aussagen seiner Bakterienforschung vornahm (Hennig 2004).

Gleichfalls zu benennen sind die Versuche im Rahmen der Sozialanthropologie und -medizin, deren Vertreter mit Hilfe fotografischer Aufnahmen Erscheinungsformen sozialer und anthropologischer Aufzeichnungen klassifizierten und kartierten. Auffallend ist der schnelle Zugriff auf die Bildtechnologie der Fotografie: Hugh Welch Diamond hatte bereits im Jahr 1850 seine wichtigsten fotografischen Arbeiten im psychiatrischen Kontext erstellt, insbesondere während seiner Zeit als Superintendent des Female Department of the Surrey County Lunatic Asylum. Gleichzeitig begannen Martin Charcot und Paul Richert ihre Veröffentlichungen zum Abnormen an der Salpetrière in Paris (Zielinski 2002: 239).

Der Institutionalisierung fotografischer Dokumentationen in der Medizin, der Psychiatrie und der Sozialforschung korrespondiert die Etablierung der Fotografie in der damaligen Gerichtspraxis, die von Tal Golan auf ihren medialen Stellenwert hin befragt wird. Golan untersuchte die Gerichtspraxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, derzufolge die Fotografie in der gerichtlichen Praxis erstmals im American Photographic Journal 1852 Erwähnung fand. Die Zeitschrift berichtete über französische Anwälte, die Daguerrotypien benutzten, „um den Richter und die Geschworenen gewandter als mit ihren eigenen Worten zu überzeugen“ (Golan 2002: 172). Ausgehend von dieser Entwicklung konnte sich die Fotografie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schnell als Beweismittel etablieren (Golan 2004). War dies einmal geschehen, wurden auch die nachfolgenden Bildtechnologien von den Gerichten anerkannt. Dazu gehörten die Röntgenbilder und die im 20. Jahrhundert entwickelten Bildtechnologien, die sich unter dem Begriff „Radiologie“ zusammenfassen lassen. Interessanterweise merkt Golan an, dass die gerichtliche Akzeptanz von Röntgenbildern ihre Auswirkungen auf weitere Bereiche gesellschaftlicher Praxis hatte, da nun eine Beweisführung möglich schien, die Verletzungen aller Art eindeutig auf ihre Ursachen rückführen konnte (Golan 2004).

Als Auswirkung der zeitgleichen Akzeptanz der Fotografie in medizinischen und juristischen Kontexten ist wohl auch die Entstehung der Kriminalanthropologie zu verstehen. Diese Entwicklung lässt sich zumindest aus der ausführlichen Darstellung des Lebenslaufs von Cesare Lombroso verstehen, der bereits als Professor der gerichtlichen Medizin und der Psychiatrie tätig war, bevor er 1990 noch die akademische Lehrbefugnis für das Fach Kriminalanthropologie erhielt, das er selbst mitbegründet hatte. Fotografie, die er als Analyse-Instrument und als Speichermedium benutzte, spielte in seiner neuen wissenschaftlichen Disziplin ebenfalls eine außerordentliche Rolle (Zielinski 2002: 241f).

Diese Eigenschaften der Fotografie und die an sie getätigten Zuschreibungen von Objektivität gehen bruchlos an den wissenschaftlichen Dokumentarfilm über, der den sezierenden und klassifizierenden Blick noch verschärft. Als Bindeglied zwischen Fotografie und Film gelten die Chronofotografien von Charles Muybridge und Edgar Marey, die mit dem Auge nicht wahrnehmbare Bewegungen aufzeichneten. Andere filmische Verfahren der Sichtbarmachung wurden in biologischen und physikalischen Kontexten entwickelt, und sie basierten hier vor allem auf der Eigenschaft des Films, Bewegungsillusionen zu erzeugen (Curtis 2005; Landecker 2005; Kelty 2004). Schwerpunkt der filmischen Sichtbarmachung sind die Verfahren, die dem Auge verborgene Strukturen oder Bewegungen sichtbar machen und diese damit in den wissenschaftlichen Diskurs überführen. So gelingt es Scott Curtis aufzuzeigen, dass in den Forschungen über die Elektronenbewegungen in der Brown’schen Röhre nur die Filmkamera die für das Auge unsichtbaren Bewegungen aufzeichnen kann, somit – als Zeugin und Dokumentarin eines ansonsten unsichtbaren Vorgangs – zur Konstituentin von Wissen, also zum wissenschaftlichen Instrument wird (Curtis 2005).

Angesichts der wissenschaftlichen Bedeutung filmischer Aufzeichnung bemüht Brian Winston den Begriff „scientific inscription“, der die instrumentellen Messungen des Labors in visuelle oder textuelle Aufzeichnungen überführt und somit deren Sichtbarkeit herstellt. Das wissenschaftliche Instrument fällt damit mit dem „inscription device” zusammen: ”This perturbation, invisible in the chamber, is visible on paper; the chemical, no matter what it is, is given shape on paper” (Winston 1993: 41). Die Beobachterposition im Labor und die Arbeit der Aufzeichnungs- und Inskriptionsinstrumente vergleicht Winston mit der Wissens- und Schauanordnung im Dokumentarfilm, indem er die dokumentarische Kameraarbeit als wissenschaftliches Aufzeichnungsinstrument bezeichnet: „The camera as no more and no less than a device for representing the world of natural phenomena, a device like any other […] instrument” (Winston 1993: 41f).

Insbesondere das Direct Cinema, der amerikanische Dokumentarfilm ohne einen gesprochenen Kommentar, das voice over, wird für Winston zur kinematographischen Form des wissenschaftlichen Zugriffs auf Ereignisse, innerhalb derer die Kamera als Instrument der Beobachtung gesellschaftlicher Ereignisse eingesetzt wird. Winston verweist auf die außerordentliche Betonung der Ton- und Kameratechnik im amerikanischen Dokumentarfilm, „with this equipment they can approximate quite closely the flexibility of the human senses” (Winston 1993: 43). Mit diesen Äußerungen zu einer populären, journalistisch geprägten Form des dokumentarischen Films verbindet Winston die Überlegungen zu den Aussagen des wissenschaftlichen Films und misst die Strategien des journalistischen Direct Cinema an den bewährten Praktiken wissenschaftlicher Aufzeichnungssysteme.

Wie aus diesen wenigen Beispielen hervorgehen konnte, wurden die Bildmedien Fotografie und Film von ihren Anfängen an als künstlerische und wissenschaftliche Instrumentarien eingesetzt, wobei die Grenzen oft fließend wurden. Diese Betrachtung lässt sich in zeitgenössische Wissensformen und Wissenschaften fortführen, die oft auf der Grundlage von Datenvisualisierungen ihre Erkenntnisse gewinnen. Die angeführten Beispiele bezogen sich vor allem auf Wissenschaftsformen, in denen Daten gewonnen und in Bilder umgewandelt werden, wie es in den Nanowissenschaften, der Gentechnologie und den Biotechnologies gerne angewendet wird. Diese Wissenschaften arbeiten heute vielfach mit digitalen Bildern, deren Grundlage Daten sind. Diese Verfahren rücken die Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen häufig in die Nähe von künstlerischen Verfahren – was sich in zeitgenössischen, digitalen Kunstwerken widerspiegelt.

Beitragsbild über dem Text: Max Pixel: Symmetry Darkness Contrast Mirroring Dark Black. CC0 1.0 Universal.

Biographische Informationen zur Autorin finden sich hier.


Literaturnachweis

Böhm, Gottfried. 1999. Vom Medium zum Bild. In: Bild-Medium-Kunst, Hgg. Yvonne Spielmann und Gundolf Winter, 165–177. München: Fink Verlag.
Crary, Jonathan. 1990. Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass.: MIT Press.
Curtis, Scott. 2005. Die Kinematographische Methode. Das ‚bewegte Bild’ und die Brownsche Bewegung. In: montage a/v 14, no. 2: 22–43.
Daston, Lorraine und Peter Galison. 1992. The Image of Objectivity. In: Representations 40: 81–128.
Davis, Douglas. 1973. Art and the Future. History/Prophecy of the Collaboration Between Science, Technology and Art. London: Thames and Hudson.
Gendolla, Peter. 2001. Zur Interaktion von Raum und Zeit. In: Formen interaktiver Medienkunst, Hg. Peter Gendolla et.al, 19–38. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Golan, Tal. 2002. Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen. In: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Hg. Peter Geimer, 171–210. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Golan, Tal. 2004. The Emergence of the Silent Witness: The Legal and Medical Reception of X-Rays in the USA. In: Social Studies of Science 34, no. 4: 469–499.
Hennig, Jochen. 2004. Vom Experiment zur Utopie. Bilder in der Nanotechnologie. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2, no. 2: 9–18.
Kelty, Christopher, Landecker, Hannah. 2004. A Theory of Animation: Cells, L-Systems, and Film. In: Grey 17: 31–63.
Kittler, Friedrich. 2010. Optical Media: Berlin Lectures 1999. Cambridge, UK ; Malden, MA: Polity.
Landecker, Hannah. 2005. Cellular Features: Microcinematography and Film Theory. In: Critical Inquiry 31, no. 4 (Summer): 903–937.
Latour, Bruno. 1990. Drawing Things Together. In: Representation in Scientific Practice, Hgg. Steve Woolgar und Michael Lynch, 16–68. Cambridge: MIT Press.
Panofsky, Erwin. 1974. Die Perspektive als Symbolische Form (1924). In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Hgg. Hariolf Oberer und Egon Verheyen, 99–168. 2. Aufl. Berlin.
Zielinski, Siegfried. 2002. Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Frankfurt am Main: Rowohlt.

Zitierweise

Angela Krewani (2018): Zur ästhetischen Genese technischer Bilder. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d504

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