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Studies in the Arts: Ein künstlerisch-wissenschaftliches Doktorat

Text: Thomas Gartmann | Bereich: Allgemeines zu „Kunst und Wissenschaft“

Übersicht: Seit 2011 führen die Universität Bern und die Hochschule der Künste Bern ein gemeinsames interdisziplinäres künstlerisch-wissenschaftliches Doktoratsprogramm, das einzigartig ist. Der Beitrag stellt das Programm und seine Inhalte vor, aber auch seine Herausforderungen, Resultate und Perspektiven. Ein vertiefendes Interview von Angelika Boeck und Peter Tepe mit Thomas Gartmann ist in Vorbereitung.

Studies in the Arts: Forschung in den Künsten ist ein relativ junger Wissenschaftszweig. Das Phänomen von forschenden Künstler*innen allerdings ist nicht neu: Leonardo da Vinci ist das Paradebeispiel eines Universalgelehrten und Künstlers, auch Goethe war einer, oder Alexander Ritter, alle vorab an Naturwissenschaften interessiert. Der künstlerische Zugang zur Forschung hat sich in den letzten Jahren aber verstärkt: die Kunst nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Mittel zur Erkenntnisgewinnung.

Doch was unterscheidet künstlerische von akademischer Forschung? Es sind vor allem institutionelle Unterschiede und solche der Abgrenzung und Arbeitsteilung. Forschung über die Kunst: Solche Grundlagenforschung wird von der Universität und den Kunsthochschulen betrieben. Forschung für die Kunst als angewandte Forschung wird nur von Fachhochschulen geleistet. Ein Beispiel hierzu: Wie verpacken und transportieren wir fragile Kunstwerke? Hier forschte die Hochschule der Künste Bern (HKB) für Museen, Transportunternehmen, Versicherungen. Schließlich haben wir die Forschung in und durch Kunst, oder Kunst durch Forschung, vereinfacht: Kunst als Forschung. Hierzu hat sich in den letzten Jahren ein eigentlicher Metadiskurs entwickelt, zu Definitionen, Qualitätskriterien, Methoden und Evaluationen und vor allem auch über die Berechtigung von Kunst als Forschung.

Andrina Jörg: Utiligeneraceae purae, Aqua Manus rosa, Fingerling aus der Fam. Scopae purae, Putzlinge (2020). Foto: Andrina Jörg.
Andrina Jörg: Utiligeneraceae purae, Aqua Manus rosa, Fingerling aus der Fam. Scopae purae, Putzlinge (2020). Foto: Andrina Jörg.

Heute ist Forschung in den Künsten etabliert und wird etwa in Österreich und der Schweiz auch staatlich gefördert. Die unterschiedlichen Ausprägungen der verschiedenen Schultypen näherten sich gleichzeitig einander an, sodass z.B. der Schweizerische Nationalfonds bald auch hier von anwendungsorientierter Grundlagenforschung sprach und ab 2011 diese Perspektive in die Evaluation der Forschungsanträge einbezog. Konsequenterweise wurde im selben Jahr von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern gemeinsam mit der HKB die Graduate School of the Arts (GSA) gegründet, das erste und für lange Zeit einzige Schweizerische Doktoratsprogramm für Künstler*innen und Gestalter*innen. Seither ist es in der Schweiz möglich, auch als Absolvent*in von Kunst-, Musik- und Theaterhochschulen universitär zu promovieren. Dieses landesweit einzigartige Modell bietet ein gemeinsames künstlerisch/gestalterisch-wissenschaftliches Doktoratsprogramm Studies in the Arts (SINTA, seit 2019 unter diesem Namen, zuvor als Graduate School of the Arts) an. Diese transdisziplinären SINTA bringen Kunst und Wissenschaft zusammen. Dabei greifen Theorie und Praxis eng ineinander, ebenso Grundlagen- und praxisorientierte Forschung.

Bei der Gründung musste man vorerst sorgfältig erläutern, was Forschung in den Künsten und im Design überhaupt bedeuten könnte und diese gegenüber argwöhnischen Einwänden verteidigen. Die Doktorierenden befanden sich quasi im Clinch der Vorurteile: Sie mussten beweisen, dass sie methodisch auf der Höhe sind und zugleich künstlerisch-gestalterisch überzeugen. Heute ist das Programm unbestritten zur Selbstverständlichkeit geworden: Die SINTA haben sich gut konsolidiert. Die Mitgliederzahl hat sich auf knapp 40 eingependelt, die Studiendauer auf fünf Jahre. Ein Großteil der Absolvent*innen hat eine Stelle gefunden oder konnte sich beruflich verbessern; drei sind nun bereits selbst Zweitbetreuer*innen von Dissertationen, einer bekleidet bereits eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Ambizione-Position, d.h. eine Art von Junior-Professur.

Was bedeutet nun dieser Hybrid von künstlerisch-wissenschaftlichem Doktoratsprogramm, zu dem sich unsere Kooperation bekennt und den sich das Programm auf Flagge und Website (www.sinta.unibe.ch) schreibt? Es ist nicht der practice-based PhD, wie ihn derzeit verschiedene Kunsthochschulen erproben. Es ist auch nicht die rein akademische Ausbildung, wie ich sie selbst als Musikwissenschaftler seinerzeit genossen habe. Sondern es handelt sich eben um das Berner Modell, das in beiden Institutionen verankert ist, mit einer konsequenten Doppelbetreuung aus unterschiedlichen Perspektiven, mit einem paritätisch zusammengesetzten Lenkungsausschuss, mit Kolloquien und weiteren Veranstaltungen an beiden Institutionen und mit einem Programm, das sich transdisziplinär mit den unterschiedlichsten Theorien und Methoden auseinandersetzt, einschließlich ethnografischer Stadterforschung, Prototyping (bei dieser Design-Methode werden Prozesse oder Produkte aufgrund von Rückmeldungen der Benutzergruppen laufend verbessert) und weiterer Entwurfsmethoden sowie künstlerischem Reenactment oder Embodiment, bei dem beispielsweise das Setting einer musikalischen Phonographenaufnahme von 1903 nachgestellt und so am eigenen Körper neu erfahren wird. Das folgende Video zeigt, wie durch die Reproduktion einer konkreten Aufnahmesituation Erkenntnisse zu interpretationspraktischen Fragen gewonnen werden.

HKB: Videostill aus Joseph Joachim, Romance C major, Reenactment of the composer's recording 1903 (2016). Foto: HKB.
HKB: Videostill aus Joseph Joachim, Romance C major, Reenactment of the composer’s recording 1903 (2016). Foto: HKB.
HKB: Youtube-Video Joseph Joachim, Romance C major, Reenactment of the composer’s recording 1903 (2016). Video: HKB.

Den Absolvent*innen stehen später beide Wege offen, der universitär-akademische ebenso wie der künstlerisch-gestalterische, ob innerhalb der Institutionen, in deren Umfeld oder in der freien Wildbahn. Die hierzu notwendige Vielseitigkeit zeigt sich in einigen Besonderheiten dieser Hybrid-Ausbildung eines künstlerisch-wissenschaftlichen Doktorats. Da sind zum einen die Leute selbst, Persönlichkeiten, die nicht lineare Karrieren verfolgen, sondern meist bereits einen durch Lebenserfahrung genährten breiteren Horizont mitbringen. Es sind andere, ungewohnte, noch nicht erprobte Zugangsweisen, Methoden und Diskurse, die gerade bei der Design- und Interpretationsforschung (bei der sowohl Tonträger wie auch Notenausgaben von bedeutenden Interpret*innen, Briefe, Notizen von Schüler*innen, Musikkritiken und weitere Quellen herbeigezogen werden) zusätzlich ihre eigene Theoriebildung, ja ihre eigene Sprache suchen und finden müssen. Und es geht um neue Themen und Themenkombinationen, die ohne praktische Erfahrung und künstlerische Kompetenz gar nicht behandelt werden könnten.

Zurzeit realisieren 39 Doktorierende aus den Fächern Musik-, Theater- und Tanzwissenschaft, Kunstgeschichte und Grafikdesign, Archäologie, Sozialanthropologie, Germanistik und Romanistik ihre Projekte im Rahmen der SINTA. Viele sind ehemalige Studierende oder Mitarbeitende der HKB, weitere gelangten von anderen Kunsthochschulen oder Universitäten – von St. Petersburg bis Harvard – nach Bern.

Student*innen der Kunsthochschulen kommen mit präzisen Fragen und Themen und wollen sich wissenschaftlich weiterqualifizieren, Absolvent*innen der Universitäten suchen die praktische Nähe zu den Künsten. Doppelbegabungen sind aber die meisten. Die einen bringen mehr künstlerisch-gestalterische Erfahrung mit, die anderen mehr methodisches Wissen und Schreibroutine. Bei einem Kunsthochschulmaster werden Auflagen erteilt: Veranstaltungen, in denen das spezifische disziplinäre Handwerk und Methodenkompetenz vermittelt wird, sind zu besuchen. Diese Auflagen machen etwaige Defizite wett und bieten einen guten Einstieg in die universitäre Praxis. Die SINTA geben sowohl der Forschung wie auch der Kunst frische Impulse und eröffnen neue Perspektiven und Forschungsfelder.

Das Curriculum in diesem strukturierten Doktoratsprogramm umfasst eine interdisziplinäre Reihe von Workshops zu Themen, Theorien und Methoden der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Es verbindet „unterschiedliche geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche sowie künstlerische Disziplinen. Es fördert die Forschung und Reflexion in Bezug auf künstlerische Praktiken, gestalterische und ästhetische Fragestellungen sowie die Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Die Profilausrichtung des Programms ist eine praxisorientierte, künstlerisch-wissenschaftliche.“[1] Ein Modul Forschung in den Künsten behandelt Geschichte, Diskurse, Theorien, Konzepte, Methoden, Begriffe, Paradigmen und Positionierung künstlerischer Forschung und schärft im interdisziplinären Austausch mit Beispielen, Lektüren, Methodenfestival und Diskussionsring den Blick auf das Eigene.

Daneben werden auch Soft-Skill-Kurse angeboten, vom Antragschreiben bis zu Präsentationstechniken, vom Self-Management bis zum wissenschaftlichen Englisch. Exkursionen etwa zur Landesphonothek, zur Paul Sacher Stiftung, zur Abegg-Stiftung für Textil-Kunst, ans Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien, in den Vitra-Campus von Weil mit dem Besuch einer Papánek-Ausstellung oder an das Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) runden das Programm ab. Betreut werden die Doktorierenden von je einem Professor, einer Professorin beider Institutionen.

Anfangs gab es wie erwähnt die üblichen Vorurteile – von beiden Seiten. Die Skepsis ist inzwischen verflogen. Heute findet das Berner Modell national wie international Anerkennung, andere Schulen möchten es gar kopieren. Je öfter die Doktorierenden ihre Arbeiten präsentieren konnten und je breiter und zugleich profilierter die Auswahl wurde, desto deutlicher zeigten sich die Stärken dieses Erfolgsmodells. Insbesondere die Doppelbetreuung durch Professor*innen beider Schulen wird sehr geschätzt. Heute kommen Anfragen aus allen fünf Kontinenten, und in Berlin und Zürich schaut man neidisch nach Bern – oder bewirbt sich gleich selbst. Dieses künstlerisch/gestalterisch-wissenschaftliche Hybridmodell ist zukunftsträchtig und wird auch vom Schweizerischen Nationalfonds geschätzt. 2016 wurden die ersten Projekte abgeschlossen; darunter eine Dissertation, die gestalterisches Wissen, kunsthistorische Zugänge und geografische Kartentechniken voraussetzt und damit beeindruckend vor Augen führt, wie transdisziplinär in den SINTA gearbeitet wird.

Um den Doktorierenden zu ermöglichen, noch mehr Vortragserfahrung zu sammeln, wurde 2016 der SINTA-Forschungstag eingerichtet: Die Doktorierenden präsentieren hier während 30 Minuten ihre ersten Thesen und Fragen oder auch schon Teilresultate ihrer Dissertation und stellen sie in einer zweiten halben Stunde zur Diskussion, die selbstredend von Kommiliton*innen moderiert wird. Später haben die Doktorierenden dann die Gelegenheit, ihre Beiträge zu Aufsätzen auszubauen, die ebenfalls von ihren Kolleg*innen redigiert werden, um damit Erfahrung und Praxis im wissenschaftlichen Publizieren zu erwerben. Diese erscheinen in einer Schriftenreihe Studies in the Arts – Neue Perspektiven auf Forschung über, in und durch Kunst und Design bei transcript.

▷ Website des Programms: www.sinta.unibe.ch.

Beitragsbild über dem Text: Coverbild Studies in the Arts (2022). Unter Verwendung von Luzia Hürzeler: How to sleep among wolves 1 (2014). Foto: Luzia Hürzeler.

Zitierweise

Thomas Gartmann (2022): Studies in the Arts: Ein künstlerisch-wissenschaftliches Doktorat. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d16289

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