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Roland Regner: Arché

Ein Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews

Übersicht: Im zweiten w/k-Interview mit Roland Regner wird zunächst das Konzept des Werkzyklus Arché und der Serien, aus denen er besteht, erläutert. Die Arbeitsschritte, die bei drei Serien anfallen, kommen zur Sprache. Die Transformationen erzeugen aus den Farbinformationen abstrakte Bilder. Ob die Transfomation eines Fotos abgeschlossen ist, wird nach einem objektiven Kriterium entschieden. Ferner werden behandelt: die Kooperationen mit Wissenschaftlern und Technikern, das Prinzip „Inhalt vor Ästhetik“, die Auswahl von Fotos für eine Ausstellung, die Verwechslung der transformierten Fotos mit Malerei, aktuelle Projekte und Zukunftspläne. Im Anhang beantwortet Regner Fragen, die im Kontext der Peer Review aufgekommen sind.

Roland Regner, im Jahr 2019 wurde in w/k das Interview Roland Regner: Transformationen veröffentlicht. Das Gespräch bezieht sich auf Ihr radikales Projekt, in dem biografische Fotos einem bestimmten Bakterium ausgesetzt und dadurch so transformiert werden, dass diese sich zwar in abstrakte Bilder verwandeln, von Rezipienten aber anhand der Auflistung der wichtigsten Bildinhalte in jedem Bildtitel immer noch als – ehemals – biografische Fotos aufgefasst werden können. Sie kooperierten dabei mit dem Mikrobiologischen Institut der Universität Zürich. Im Jahr 2022 wenden wir uns nun anderen Serien innerhalb des Werkzyklus Arché zu, die ebenfalls transformiert werden.

Zeitliche Einordnung und Konzept des Zyklus

Zunächst zur zeitlichen Einordnung: Wann starteten Sie diesen Zyklus? Wie war der zeitliche Ablauf bis heute, und wie sieht der weitere Zeitplan aus?
Begonnen habe ich 2012 während meines Masterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste. Zunächst musste ich alle biografischen Bilder von mir, d.h. alle Fotos, auf denen ich zu sehen bin, sammeln und sortieren. Daraus ergaben sich dann mehrere Serien, weil mein Fotoarchiv sich aus unterschiedlichen Bildträgern zusammensetzt: Dias/Negativen, Fotoabzügen, Röntgenbildern und digitalen Fotografien.
In den ersten Jahren gab es wahnsinnig viel zu transformieren. Zwischendurch legte ich eine ein- bis zweijährige Pause ein. Ich arbeite also nicht kontinuierlich an diesem Projekt. Es ist eher so, dass ich über einen gewissen Zeitraum Bilder sammle und diese danach verwandle. Gerade befasse ich mich mit der zeitaufwändigen Transformation der – sehr vielen – digitalen Fotografien. Es tauchen aber immer wieder vereinzelt analoge Bilder auf, also Dias/Negative und Fotoabzüge, die dann ebenfalls verwandelt werden. Das ist ein stetiger Prozess, der nie abgeschlossen sein wird.

Legen Sie bitte das Konzept des gesamten Zyklus Arché dar. Worum geht es?
Ich transformiere mein gesamtes persönliches Fotoarchiv. Das bedeutet, ich unterwerfe alle Dias, Negative, digitalen Fotografien, Röntgenbilder und fotografischen Abzüge, die mich in Lebenssituationen abbilden, jeweils spezifischen, für die einzelnen Bildträger entwickelten Verfahren. Mit den Bildträgern werden auch die in den verschiedenen Speichermedien angelegten Informationen verändert – die Informationsschicht ändert sich, während das Trägermaterial bestehen bleibt. Eben jene Ebene der visuellen Kodierung, die das Wahrheitsversprechen von Fotografien auszeichnet. Die Dias/Negative werden – wie in Transformationen detailliert beschrieben – mit einem Darmbakterium der Shewanella-Gruppe infiziert und dadurch verwandelt.

Roland Regner: Arché – DN-0206 (Person Osterkorb Wiese Pflanzen 1987) (2014). Foto: Roland Regner.
Roland Regner: ArchéDN-0206 (Person Osterkorb Wiese Pflanzen 1987) (2014). Foto: Roland Regner.

Zwei Serien als Beispiele

Wir können in unserem Gespräch nicht auf alle weiteren Serien aus dem Werkzyklus Arché eingehen; wählen Sie bitte drei aus, die wir exemplarisch behandeln können.

Roland Regner: Arché – FV-0027 (Person Himmel Schule Treppe Baum 1985) (2013).
Roland Regner: Arché – FV-0027 (Person Himmel Schule Treppe Baum 1985) (2013).

Wir können mit den Fotoabzügen beginnen, dann zu den digitalen Fotografien übergehen und am Ende die Röntgenbilder behandeln.

Wie gehen Sie bezogen auf Serie Fotoabzüge bei einem bestimmten Foto vor? Welche Arbeitsschritte lassen sich unterscheiden?
Für die Fotoabzüge nutze ich Natronlauge, also eine chemische Substanz. Natronlauge hat einen PH-Wert zwischen 8 und 14, je nachdem, in welchem Verhältnis NaOH und Wasser gemischt werden. Erst ein bestimmter pH-Wert (nicht zu ätzend) führte zum erhofften Ergebnis.
Die Fotoabzüge werden dann einzeln in Behältnisse mit Natronlauge eingelegt, und hier ist fast tägliches Überprüfen und Aussortieren der Abzüge notwendig. Wenn die ursprüngliche Bildinformation nicht mehr erkennbar ist, wird der Transformationsprozess gestoppt und das Ergebnis der Umwandlung getrocknet. Anders als z.B. bei den Dias/Negativen ist bei den Fotoabzügen die transformierte Farbschicht nach dem Prozess äußerst fragil und sehr empfindlich.

Roland Regner: Arché – FV-0006 (Personen Couch 2009) (2013). Foto: Roland Regner.

Welche entsprechenden Arbeitsschritte sind bei der Serie Digitale Fotografien zu konstatieren?
Für die Transformation der digitalen Fotografien habe ich mir in Zusammenarbeit mit Interaction-Designern und Informatikern/Programmierern ein spezielles Computervirusprogramm schreiben lassen. Dieses läuft autark und in chaotischen Algorithmen ab. Dafür musste ich mir einen Hochleistungsrechner mit großem Arbeitsspeicher und zwei extrem leistungsstarken Grafikkarten kaufen. Diese Komponenten sind wichtig, damit das Programm in Echtzeit abläuft und ich so die Möglichkeit habe, den Transformationsprozess direkt zu stoppen, wenn der Bildinhalt nicht mehr erkennbar ist. Durch Zufallsgeneratoren werden verschiedene Transformationsalgorithmen in Gang gesetzt. Als Trigger dafür dient ein zusätzliches Musikprogramm, in dem man Sounds laden kann. Die Bedienoberfläche des Programms ist eher simpel aufgebaut. Das Foto wird geladen und das Musikprogramm gestartet. Dann öffnet sich ein Fenster, welches den Transformationsprozess wie beschrieben in Echtzeit anzeigt. Und natürlich gibt es eine Stopp-Taste. Sobald ich diese betätige, wird das Originalbild überschrieben, und das transformierte Foto bleibt bestehen. Wie bei den anderen Serien ist auch hier der Prozess irreversibel und das Ergebnis nicht vorhersehbar.

Roland Regner: Arché – DF-0024 (Personen Tor Fahrrad 2008) (2020). Foto: Roland Regner.

Auch Ihre Serie Röntgenbilder soll noch kurz zur Sprache kommen.
Dafür stand ich zu Anfang im engen Austausch mit Röntgenfilm-Entwicklern. Sie brachten mich auf die Idee, die Röntgenbilder mittels intensiver UV- und Rotlichtbestrahlung zu transformieren. Dieser Prozess ist der langwierigste und dauert im Schnitt zwei Monate – bei fast täglicher Bestrahlung von acht Stunden.

Roland Regner: Arché – R-0008 (Knie 1997) (2014). Foto: Roland Regner.

Bei allen Serien des Werkzyklus findet ein Überprüfen und Aussortieren der Bilder statt. Stoppen Sie den Transformationsprozess immer dann, „wenn die ursprüngliche Bildinformation nicht mehr erkennbar ist“? Oder entscheiden Sie intuitiv nach ästhetischen Kriterien, ob der Abzug so bleiben kann?
Ich stoppe den Prozess, wenn die ursprüngliche Bildinformation nicht mehr erkennbar ist. Intuitives Entscheiden anhand ästhetischer Kriterien wäre bei dieser Arbeit schwer umzusetzen: Ich müsste antizipieren, ob der momentane ästhetische Status des Bildes noch schöner wird oder nicht. Warte ich auf ein vielleicht besseres Ergebnis, kann es sein, dass das Bild komplett aufgelöst wird.

Ob die Transformation eines biografischen Fotos abgeschlossen ist, wird also nach einem objektiven Kriterium entschieden – sie ist immer dann abgeschlossen bzw. das neue Bild ist fertig, „wenn die ursprüngliche Bildinformation nicht mehr erkennbar ist“. Ästhetische Kriterien spielen dabei keine Rolle.
Das ist korrekt.

Wenden Sie dieses objektive Kriterium bei allen Serien des Zyklus Arché an?
Ja.

Die Rolle der Farben

Der Transformationsprozess weist generell zwei Aspekte auf: Einerseits werden die biografischen Bildinformationen wie eben behandelt so verändert, dass nicht mehr erkennbar ist, dass Roland Regner in diesem oder jenem Alter in wechselnder Umgebung abgebildet wird. Andererseits bleiben die Farbinformationen des ursprünglichen Fotos erhalten: Im Verwandlungsprozess werden sie auf unvorhersehbare Weise neu gemischt – ein abstraktes Bild entsteht, das einen mehr oder weniger großen ästhetischen Reiz besitzt.
Das stimmt. Das Trägermaterial der verschiedenen Bildträger wird einerseits in seiner Konsistenz belassen, andererseits nur die darauf enthaltene Informationsschicht gewandelt. Die Farbinformation auf der Trägerschicht der transformierten Bilder ist somit weiterhin vorhanden, nur anders und/oder chaotischer angeordnet.

Roland Regner: Arché – DN-0113 (Person Balkon Himmel Spielzeug Tisch 1984) (2014). Foto: Roland Regner.
Roland Regner: Arché – DN-0113 (Person Balkon Himmel Spielzeug Tisch 1984) (2014). Foto: Roland Regner.

Wenn das künstlerische Konzept darin besteht, die signifikante Verwandlung der biographischen Bildinformationen mit der Erzeugung eines abstrakten farbigen Bildes aus den Farbinformationen zu verbinden, so ergibt sich die Frage, wie Sie das Letztere in den verschiedenen Serien hinbekommen.
Wodurch die Farbigkeit der einzelnen Serien ganz genau entsteht, kann ich nicht im Einzelnen beschreiben. Bei den Fotoabzügen ist es die chemische Reaktion der Natronlauge mit der Zusammensetzung des jeweiligen Abzugs, bei den Dias/Negativen die bakterielle Reaktion mit der Farbschicht, und bei den digitalen Fotografien sind es die Zufallsgeneratoren und Algorithmen. Die primäre Aufgabe besteht aber darin, die Farb- bzw. Informationsschicht der einzelnen Bildträger zu wandeln, das Trägermaterial dabei aber nicht zu zerstören. Dies wird bei den Fotoabzügen durch die bereits oben beschriebene Ermittlung eines bestimmten pH-Werts der Natronlauge erreicht oder im Falle der Dias/Negative durch die Bestimmung der richtigen Konzentration des Bakteriums in der Nährflüssigkeit. Bei den digitalen Fotografien geht es um die Erhaltung der Lesbarkeit der Datei – dass diese nach der Transformation nicht dauerhaft beschädigt ist und somit weiterhin von Programmen erkannt und geöffnet werden kann.

Roland Regner: Arché – DF-0026 (Person Haus Baum Himmel Auto Kamera 2013) (2020). Foto: Roland Regner.

Nun zu Ihrer Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Wissenschaft und Technik in den ausgewählten Serien: Was haben diese Kooperationen im Einzelnen erbracht, was wäre ohne sie nicht möglich gewesen?
Ich war immer mehr oder weniger auf die Hilfe von Experten und Fachleuten angewiesen. Beispielsweise hätte ich das Computervirusprogramm mit all den Zufallsgeneratoren nie selbst erarbeiten können. Oder das Experimentieren, welches Bakterium in welcher Konzentration geeignet ist, um die Dias/Negative zu wandeln. Auch wie ätzend die Natronlauge sein muss, um die Fotoabzüge nicht gänzlich zu zerstören. Bei den Röntgenbildern hätte ich ohne die Hilfe von Experten*innen keine Idee zur Transformierung gehabt. Erst durch den direkten Austausch und das Experimentieren wurde dies ermöglicht. Am Mikrobiologischen Institut der Universität Zürich durfte ich sogar fast zwei Jahre durchgängig arbeiten, um die erste größere Menge an Dias/Negativen zu transformieren. Es gab nicht nur die wissenschaftliche Hilfestellung, sondern auch sehr viele spannende Gespräche und Auseinandersetzungen über das Projekt.

Wie sah eine solche inhaltliche Auseinandersetzung aus?
Es gab etliche Fragen, die mir gestellt wurden: Warum machen Sie so ein radikales Projekt überhaupt? Was bedeutet es für Sie und Ihre Familie, wenn es kein figürliches Erinnerungsbild mehr von Ihnen gibt? Aus diesen persönlichen Fragestellungen sind längere Diskussionen darüber entstanden, was ein fotografisches Bild überhaupt ist oder sein kann. Dabei ging es um Fragen wie: Wie fragil ist diese Informations- und Erinnerungsfläche eigentlich? Was projizieren wir selbst hinein? Was bedeutet Erinnern im Allgemeinen? Ist Erinnern anhand von Bildern ein kulturell und sozial erlernter Prozess?
Das waren oft spannende Diskussionen, die auf der Gegenseite auch mal ins Unverständnis abgeglitten sind. Aber ich fand, dass diese für beide Seiten höchst produktiv waren.

Inhalt vor Ästhetik

Themenwechsel. Angenommen, Sie wählen für eine Ausstellung aus 100 transformierten biografischen Fotos 10 aus. Alle 100 Bilder erfüllen das objektive Kriterium: Von Roland Regner und Umgebung ist nichts mehr zu sehen. Kommen jetzt nicht bei der Auswahl ästhetische Kriterien zwangsläufig ins Spiel – in dem Sinn, dass Ihnen Bild a besser gefällt als Bild b, dass Sie es schöner, in ästhetischer Hinsicht gelungener finden und es deshalb für die Ausstellung auswählen?
Bislang habe ich über den Arbeitsprozess am Bildträger gesprochen. Jetzt bringen Sie die Frage ins Spiel, welche Arbeiten für eine Ausstellung ausgewählt werden. Hier spielen zuerst andere Kriterien eine Rolle: Welche Bezüge möchte ich innerhalb der ausgewählten Bilder herstellen? Soll es ein Narrativ geben und wenn ja, welches? Welches Ziel verfolgt die Ausstellung? Wie ist der Ausstellungsraum beschaffen? Welche Werke anderer Künstler*innen sind noch mit im Raum?
Es gibt also zuerst eine inhaltliche Auseinandersetzung. Darum ist es auch so wichtig, die Titel der Bilder mit den maximal sechs wichtigsten Bildinhalten mitzudenken. Sind die Bilder ausgewählt, schaue ich, welche Bilder formal-ästhetisch gut nebeneinander funktionieren, wenn es die inhaltliche Idee, die ich verfolge, zulässt: Inhalt vor Ästhetik. Es würde den konzeptuellen und medienreflexiven Ansatz der Arbeit schwächen, wenn ich mich nur anhand ästhetischer Kriterien für das eine oder andere Bild entscheiden würde.

Über das Prinzip „Inhalt vor Ästhetik“ würde ich gern mehr erfahren. Für eine Ausstellung wählen Sie die verwandelten Fotos nach einer inhaltlichen Idee aus. Ich bitte Sie, das an einem Beispiel zu verdeutlichen und dabei auch zu klären, welche Rolle in diesem Fall die Titel der Bilder spielen.
Ich wähle zu diesem Zweck zwei Arbeiten aus der Serie Fotoabzüge aus:

Roland Regner: Arché – FV-0055 (Person Weihnachtsbaum Geschenke Fenster Couch 1983) (2014). Foto: Roland Regner.
Roland Regner: Arché – FV-0055 (Person Weihnachtsbaum Geschenke Fenster Couch 1983) (2014). Foto: Roland Regner.
Roland Regner: Arché – FV-0199 (Person Weihnachtsbaum Geschenke Fenster 1996), Lambda-print, Größe variabel (2015). Foto: Roland Regner.
Roland Regner: Arché – FV-0199 (Person Weihnachtsbaum Geschenke Fenster 1996) (2015). Foto: Roland Regner.

Wichtig für die Auswahl ist das, was auf den Bildern ehemals abgebildet war.
Die beiden ausgewählten Bilder zeigten mich ursprünglich einmal als 5-Jährigen und einmal als 18-Jährigen bei einem Weihnachtsfest.

Für die Ausstellung wählen Sie somit Transformationen solcher Fotos aus, deren ursprüngliche Gegenstände miteinander verwandt sind, z.B. eben Weihnachtsfotos, die Sie neben einem Weihnachtsbaum und Geschenken zeigen. Damit diese Gegenstandsbezüge, die auf den transformierten Fotos nicht mehr erkennbar sind, nicht in Vergessenheit geraten, geben Sie jedem verwandelten Foto einen entsprechenden Titel, der nach einem bestimmten Schema aufgebaut ist.
Die ausgewählten Bilder müssen aber nicht zwangsläufig immer dasselbe Motiv haben, um in Beziehung zueinander gesetzt zu werden. Da ist es, wie bereits oben beschrieben, wichtig, welche inhaltlichen Bezüge ich bei einer Ausstellung innerhalb der ausgewählten Bilder herstellen möchte. Ich habe eine Systematisierung der Titel erarbeitet, die den verwandelten Fotos einerseits chronologisch geordnete Seriennummern und andererseits jeder dieser Nummern maximal sechs Begriffe und die Jahreszahl zuordnet; damit versuche ich die wichtigsten (ehemaligen) Bildinhalte zu erfassen.

Das Prinzip „Inhalt vor Ästhetik“ besagt somit, dass z.B. die beiden gezeigten transformierten Fotos für eine Ausstellung aufgrund der eben erläuterten ursprünglichen Gegenstandsbezüge ausgewählt werden. Ästhetische Präferenzen können für die Auswahl aber hinzukommen, wenn etwa fünf Bilder inhaltlich passen, aber in der Ausstellung nur Platz für zwei von ihnen ist.
Das ist korrekt.

Roland Regner:Ausstellungsansicht Arché. Museum Kunstpalast Düsseldorf (2022). Foto: Roland Regner. 
Roland Regner: Arché – DF-0052 (Person Haus Statue Himmel Tor 2012) (2020). Foto: Roland Regner.

Wenn man die transformierten Fotos isoliert betrachtet, so erinnern sie stark an Werke der informellen Malerei des 20. Jahrhunderts, allgemeiner gefasst: der abstrakten bildenden Kunst. Wenn aber das Prinzip „Inhalt vor Ästhetik“ gilt, so stellt diese Sichtweise der verwandelten Fotos in gewisser Hinsicht ein Missverständnis dar.
Die Ästhetik der neuen biografischen Fotos hat mich zu Anfang gestresst. Genauer gesagt, die auch von Ihnen beschriebene ästhetische Nähe zur Malerei. Es kam manchmal vor, dass in Ausstellungen die Bilder auf den ersten Blick als Malereien gesehen wurden. Erst auf den zweiten Blick wurde das Medium Fotografie wahrgenommen: Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass es sich um einen fotografischen Abzug handelt. Der erste Teil des Titels verweist auf das ursprüngliche fotografische Bildmaterial: Dias/Negative, Fotoabzüge, Röntgenbilder und Digitale Fotografien. Die aufgelisteten Bildinhalte tragen dann zusätzlich dazu bei, Anhaltspunkte zu geben, was vormals auf dem Bild erkennbar war. Meist wird in den Ausstellungen zusätzlich ein Text präsentiert, der technisch beschreibt, was ich mit meinen biografischen Fotos getan habe.

Was wollen Sie bei den Betrachterinnen und Betrachtern mit der Kombination Transformierte Fotos plus systematisierte Titel erreichen?
Im besten Falle können sich die Betrachter*innen selbst anhand eigener biografischer Fotos/Bilder/Erinnerungen und des Titels ein Bild im Kopf zusammensetzen. Das Verständnis von fotografischen Bildern ist primär eine Rezeptionsleistung. Ob dies gelingt oder nicht bzw. ob der Betrachter sich darauf einlässt, ist ihm überlassen.
Die Arbeit zeigt, welche Rolle das fotografische Bild als persönliches Speichermedium und das damit verbundene Wahrheitsversprechen, dass das biografische Foto ein Abbild der Realität darstellt, spielt. Ich nutze Dokumente meiner Vergangenheit, um den Betrachtern zeigen zu können, wie fragil die Materialität fotografischer Bildträger ist und wie leicht jene Bildflächen zu irritieren sind, auf denen wir ehemals existierende Situationen zu speichern versuchen. Ich verweise darauf, dass Betrachter von Fotografien immer eine Abstraktionsleistung, eine Ablösung von der Materialität diverser Bildträger vollziehen müssen, um überhaupt die Vergangenheit innerhalb des zu Sehenden aufscheinen zu lassen. Es stellt sich die Frage, was bleibt, wenn man jene historisch konstruierte Zuweisung, dass Fotografien das Wirkliche in die Ebene des Medialen transferieren können, auflöst.

Roland Regner: Arché – DN-0346 (Personen Tisch Lampe Getränke Essen 1987) (2016). Foto: Roland Regner.

Ausblick

Woran arbeiten Sie aktuell, und was ist für die nähere Zukunft geplant?
Aktuell arbeite ich an mehreren anderen Projekten. Diese haben ebenfalls einen stark medienreflexiven Ansatz. Bezogen auf den Werkzyklus Arché steht momentan die Transformation der digitalen Fotografien im Vordergrund. Das Computervirusprogramm wurde vor zwei Jahren entwickelt, und es haben sich in der Zeit davor sehr viele digitale Bilder angesammelt, die nun alle gewandelt werden müssen. Wenn ich nicht gerade am eigentlichen Transformationsprozess arbeite, sammle ich weiterhin die biografischen Bilder, um sie dann später zu transformieren. Da der Werkzyklus als Lebensprojekt angelegt ist, hört die Arbeit daran also nie auf. Es müssen auch immer wieder Anpassungen an bestehende Transformationsprozesse vorgenommen oder neue entwickelt werden. Das hängt davon ab, wie sich das Medium Fotografie und speziell die Materialität des fotografischen Bildes in der Zukunft weiterentwickelt. Da die Arbeit mittlerweile sehr viele Bilder umfasst, ist ein auch größeres Buchprojekt geplant – eine Art Enzyklopädie, die aus mehreren Büchern besteht und regelmäßig erweitert werden kann.
In naher Zukunft steht noch die testamentarische Verfügung im Fall meines Todes an. Da ich es vermutlich nicht schaffen werde, vor meinem Tod alle biografischen Bilder den Transformationsprozessen zu unterwerfen, bedarf es in dieser Hinsicht einer genauen Regelung, damit dann auch die letzten Bilder von mir posthum transformiert werden können.

Roland Regner, ich danke Ihnen für das Gespräch, das ein vertieftes Verständnis Ihres Großprojekts ermöglicht hat.

Beitragsbild über dem Text: Roland Regner: Arché. Filmstill aus dem Videoportrait: Roland Regner – Fotograf und Künstler (2022).

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Blog:
http://blog.qah.koeln/2022/05/14/roland-regner-fotograf-und-kuenstler/


Fragen des Reviewers

Im Rahmen der Peer Review haben sich einige zusätzliche Fragen ergeben. Üblicherweise werden in w/k die vorgeschlagenen neuen Fragen und die Antworten darauf in das Interview integriert – in diesem Fall erscheint es jedoch sinnvoller, sie in einem Anhang als Block zu bringen.

Wie lassen sich die Ergebnisse der Transformationen – biologisch-bakteriell, chemisch, digital – überhaupt klassifizieren? Schwerlich noch als Fotografie, von der zu reden mir jenseits einer dunklen Kammer, einer hinreichend kleinen Öffnung und einer lichtempfindlichen Schicht unsinnig erscheint. Auch der vor Jahrzehnten noch geläufige Begriff der Erweiterten Fotografie lässt sich hier wohl nicht mehr verwenden.
Die Klassifizierung gehört zu den Aufgaben des kunsthistorischen Diskurses, in dem es um die Einbettung und Verortung von künstlerischen Arbeiten geht. Das hat wenig mit meiner künstlerischen Praxis zu tun; deshalb überlasse ich das den Kunsthistorikern.
Für mich bleibt es weiterhin ein fotografisches Bild. Die Farbinformation auf der Trägerschicht der transformierten Bilder ist ja weiterhin vorhanden, nur anders und/oder chaotischer angeordnet.

Was für einem Artefakt sieht sich der Betrachter gegenüber?
Einem transformierten biografischen Foto.

Wird er – darf er? – gelungene und weniger gelungene Bilder unterscheiden?
Für mich gibt es keine weniger gelungenen Bilder, sondern die konzeptionelle Idee des gesamten Projekts steht im Vordergrund. Der Betrachter hingegen findet bestimmt gewisse Bilder ästhetisch ansprechender als andere oder kann bei manchen einen besseren Zugang finden.

Verändert es die Wahrnehmung der Betrachter*innen, wenn sie die Bildlegenden zur Kenntnis nehmen?
Ja, die Erfahrung habe ich in Ausstellungen gemacht. Sobald der Betrachter weiß, dass es sich um ein biografisches Foto handelt, schaut er anders auf das Bild und versucht, Bezüge bei sich selbst und im Bild zu finden. Er wird ein Stück weit auf sich selbst zurückgeworfen. Der Bildtitel versteht sich als ein Andockpunkt. Im besten Falle können sich die Betrachter*innen selbst anhand eigener biografischer Fotos / Bilder / Erinnerungen und des Titels ein Bild im Kopf zusammensetzen.

Würde eine einfache Nummerierung 1, 2 usw. nicht dasselbe leisten?
Nein. Es gibt die verschiedenen Serien (Dias/Negative, Fotoabzüge, Röntgenbilder und Digitale Fotografien) innerhalb des Werkzyklus, mit jeweils unterschiedlicher Materialität. Diese materielle Ebene der einzelnen Bildträger wollte ich voneinander abgrenzen. Die Auflistung der maximal sechs wichtigsten Bildinhalte plus Jahresangabe ist für den Versuch der Codierung bzw. Decodierung des Bildes, wie bereits erwähnt, wichtig.

Wird der lebensgeschichtliche Bezug, Ort, Zeit etc., nicht vollkommen obsolet?
Bezogen auf mich selbst wird das die Zeit zeigen. Es gibt für mich wichtige Bilder, die auch transformiert nicht an Bedeutung verloren haben, also immer noch einen starken lebensgeschichtlichen Bezug besitzen.
Das Bild meiner Einschulung beispielsweise ist mir noch sehr präsent. Ich stehe vor einer Treppe. Im Hintergrund die Schule und eine aufgebaute Tafel, auf der das Jahr meiner Einschulung steht. Gekleidet mit hellblauen Puma-Sneakern und kurzen gelben Hosen die Schultüte haltend. Ich weiß auch, dass da ein Baum ist …, aber ich weiß nicht mehr, ob er links oder rechts von mir steht.
In der Arbeit steckt aber natürlich auch die Frage, was das Foto jenseits klassischer Einordnungen, in diesem Fall als biografisches Bild, überhaupt sein könnte. Man könnte das genannte Bildbeispiel als eine Art von bildlichem Loslösungprozess von der eigenen Biografie begreifen. Nun ist man auf sich selbst, seine eigene Geschichte und auf sein Gedächtnis zurückgeworfen. Das könnte eine gewisse Befreiung von der Macht der fotografischen Bilder sein.

Zitierweise

Peter Tepe (2022): Roland Regner: Arché. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d17251

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