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Polygone – Ein Begleittext zur Ausstellung

Text: Markus Schrenk | Bereich: Beiträge von Künstlern

Übersicht: In der Ausstellung Kunst und Wissenschaft: Beispiele symbiotischer Verhältnisse zeigte Markus Schrenk mit seinem Bild Polygone eine Hommage an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat. Sein w/k-Beitrag liefert ergänzende Informationen zu den Inspirationsquellen: zum Tangram-Puzzle, zu (russischen) Ikonen, zum Schwarzen Quadrat und zur in Polygone verwendeten Typografie.

Polygone

Das Bild Polygone hat die Maße 79,5 x 79,5 cm. Gold-/ockerfarbene, aus großen Holzpolygonen zusammengesetzte Grobspanplatte. Schwarze, aus Kasein (Milcheiweißen) bestehende Plakafarbe. Farblich verlaufende, ausfasernde Buchstaben in einer an Jan Tschichold angelehnten Retro-Typografie (Stuntman von Daniel Zadorozny, 2003). Hängung im Haus der Universität der Heinrich-Heine-Universität (Ausstellung Kunst und Wissenschaft: Beispiele symbiotischer Verhältnisse vom 16.11.2017 bis zum 31.12.2017) in Anlehnung an die traditionelle Hängung russischer Ikonen.

In Begriffe zerlegt formen die 9 x 9 Buchstaben die Aussage: “Infinite Possibilities unfold when Malevich’s Black Square disintegrates into Tangram Pieces.” Polygone war zunächst als reine konkrete Poesie konzipiert und ist in einer frühen Version in La traductière (Nr. 29, Paris 2011) auf Papier veröffentlicht. Der poetischen Komponente wird hier ein Spiel mit Materialität, visueller Ästhetik und räumlicher Positionierung hinzugefügt.

Der vorliegende Text handelt vom Tangram-Puzzle, von (russischen) Ikonen, Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat und der in Polygone verwendeten Typografie. Zu jedem dieser Themen gibt es Fundierteres und Wissenschaftlicheres zu sagen. Der Text beschränkt sich auf das, was als Inspirationsquelle für Polygone diente.[1]

Tangram

Das wahrscheinlich einige hundert Jahre vor Christus entstandene chinesische Legespiel Tangram besteht aus sieben (oft schwarzen) einfachen geometrischen Formen (meist) aus Holz: aus einem kleinen Quadrat, einem Parallelogramm, zwei kleinen, einem mittleren und zwei großen Dreiecken. Die sieben Polygone können sowohl zu einem großen Quadrat (die übliche Grundform) als auch zu gegenständlichen Bildern von Tieren, Menschen, Alltagsobjekten etc. aneinander gefügt werden. Dabei ähneln die aus Tangramteilen entstehenden zweidimensionalen figurativen Darstellungen den stark vereinfachten, flächigen, in Facetten zerlegten Formen des Kubofuturismus.[2]

Das Tangram-Puzzle entstand der Legende nach, als einem Novizen, der von seinem Abt beauftragt war, die Welt zu bereisen und ihre Schönheit zu zeichnen, seine viereckige Tafel herunter fiel und in die oben aufgezählten sieben Teile zerbrach. Offenbar vermochte er es nicht, sie zum ursprünglichen Quadrat zusammen zu setzen. Bei seinen Versuchen entdeckte der Schüler allerdings, dass durch das Aneinanderfügen der Polygone unendlich viele Möglichkeiten entstehen, die mannigfaltigen Formen der Natur abzubilden.

Die Etymologie des Wortes „Tangram” ist umstritten. „Tan” könnte sich auf die Tang-Kaiserdynastie (618-907) beziehen oder für Chinesisch „t’an”, d.h. „ausbreiten“ stehen. „Gram” könnte Griechisch γράμμα, also „Geschriebenes“ oder „Buchstabe“ meinen.[3]

Ikonen

Die kirchlich geweihten Heiligenbilder der Ostkirchen werden meist auf durch Blattgold oder Ockerfarbe grundiertes Holz ohne Rahmen in Eitempera gemalt. Der durchscheinende goldene Hintergrund soll dabei das göttliche Licht symbolisieren. Eine nicht-zentralperspektivische, zweidimensionale Darstellung wird bevorzugt, um zu exemplifizieren, dass Ikonen bloße Abbilder und nicht die Wirklichkeit selbst sind. Dem Dargestellten, nicht der Darstellung soll gehuldigt werden. In der traditionellen russischen Stube hängen religiöse Ikonen, die Glaubenden beschützend, diagonal in der oberen östlichen Raumecke.

Malewitsch

Es gibt mindestens vier Versionen von Malewitschs Schwarzem Quadrat. Die erste Variante[4] von 1915, die auf der Kunstausstellung 0,10 der Suprematisten in der Galerie Dobytschina in Petrograd gezeigt wurde, hatte die Maße 79,5cm x 79,5cm. In der Ausstellung hing das Schwarze Quadrat im „schönen Winkel”. Über die traditionelle Hängung für Ikonen wurde bereits oben gesprochen.[5]

Die Ausstellung wollte den Durchbruch zur nicht-darstellenden, abstrakten Kunst vollziehen. Die „0” ihres Namens[6] steht für den Nullpunkt der Malerei, die vom Dienst der Gegenständlichkeit und indirekt von der Knechtschaft der Religion und des Staates befreit werden sollte.

Malewitsch selbst notierte in einem Text zur Ausstellung: „Ich habe mich in die Null der Formen verwandelt und habe mich aus dem stinkenden Morast der akademischen Kunst herausgefischt.“[7] Und:

„Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld […]. Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“[8]

Wie Horst Bredekamp anschaulich schreibt, hat Malewitschs Quadrat mindestens einen Vorläufer. Bredekamp benennt dabei Eigenheiten jener Quadrate, die auch Polygone aufgreift:

„Im ersten Band seiner Geschichte des Makrokosmos hat der englische Arzt und Naturphilosoph Robert Fludd[9] eine Schöpfungsgeschichte[10] visualisiert[11], die mit dem Urbild der Hyle, dem Äquivalent zum Nichts[12], als ein schwarzes Viereck beginnt. […] Die Farbe seiner dunklen Fläche ist keineswegs konsistent. […] die Struktur [lässt] Licht durchscheinen […]. [Der] Auftrag des Schwarz [ist] nicht in einheitlicher Schicht aufgetragen […], sondern teils schließend, teils transparent […]. Ein ähnlicher Vorgang hat sich bei einer Ikone der Moderne ereignet, Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat. […] Vor vier Jahren[13] ist auf Grund von Materialuntersuchungen nahegelegt worden, dass die feinen Risse, die sich in dem Dunkel der schwarzen Farbe bald abzeichneten, von Beginn an angelegt waren. Denn da Malewitsch das Gemälde übermalte, noch bevor es getrocknet war, musste er wissen, dass sich ein Craquelé einstellen würde […]. Bei Fludd wie bei Malewitsch ist von einer Homogenität des Schwarz daher nicht zu sprechen, und bei beiden gilt die von unten her aufbrechende Irritierung des Schwarz definitiv als unendlicher Prozess des ‚Et sic in infinitum’ (‚Und so in die Unendlichkeit’)[14] […]. Wichtiger aber noch ist das interne Agens, das Durchschlagen einer inneren Kraft, die es unmöglich macht, das zu Sehende statisch zu fixieren. […] [Die] flirrende Struktur […] [gehört] zum Prinzip der Weltschöpfung […] [jene] innere Kraft des Werks […], die sich im Flimmern von Oberfläche und Tiefe äußert.“[15]

Da Malewitschs Schwarzes Quadrat „eher ein Manifest als ein Gemälde” (Irina Antonowa)[16] ist, verwundert es nicht, dass er nicht exakt malte. Die Seiten des Quadrats fasern aus und verlaufen nicht parallel zu den Seiten der Leinwand. Wie das oben bereits erwähnte Craquelé trägt die unexakte Abweichung von der Regelmäßigkeit zur Lebendigkeit des Werks bei.

Typografie

Jan Tschichold (1902-1974) greift in einer Sonderausgabe der Typographischen Mitteilungen (1925) Thesen László Moholy-Nagys auf, der 1923 eine Neue Typographie forderte (die unter anderem die Abkehr von Groß- und Kleinschreibung beinhaltet). Tschichold stand mit Moholy-Nagy, El Lissitzky und anderen Bauhauskünstlern in engem Kontakt, die sich bekanntermaßen der gleichen geometrischen, klar reduzierten Formensprache bedienten wie das russische Bauhaus-Pendant, der Konstruktivismus bzw. Malewitschs Suprematismus.[17] Die Tschicholdsche elementare Schrift besteht aus für das Bauhaus üblichen von Ornament befreiten, einfachen Buchstaben.[18]

Beitragsbild über dem Text: Markus Schrenk: Polygone (2017). Foto: Karsten Enderlein.


[1] Ich danke Simone Brandes für ihre essentielle Unterstützung – kunsthistorisch, künstlerisch, handwerklich – und Swen Kuttner – http://www.beschriftungen-kuttner.de – für die ungemein hilfreiche Beratung zur Typografie, für den Entwurf, den Folienschnitt und den Auftrag der Buchstaben.
[2] Malewitsch war vor seinem gegenstandslosen Suprematismus Anhänger des Kubofuturismus.
[3] Mein Wissen über das Tangram-Puzzle habe ich entnommen aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Tangram und aus https://en.wikipedia.org/wiki/Tangram.
[4] Auf dem von Kasimir Malewitsch (18781935) entworfenen Vorhang für die futuristische Oper Sieg über die Sonne des Komponisten Michail Matjuschin, für die er 1913 das Bühnenbild entwarf, findet sich schon das Motiv des Schwarzen Quadrats. Auf dem Vorhang sollte es den Übergang von der Alltagserfahrung in eine jenseitige Welt symbolisieren.
[5] Siehe: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:0.10_Exhibition.jpg.
[6] Zehn Künstler sollten ursprünglich statt der 14 tatsächlichen teilnehmen, daher die Ziffer „10“ nach der Null.
[7] Entnommen aus: http://www.db-artmag.com/archiv/06/d/thema-malewitsch.html.
[8] Aus Dorothea Eimert: Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Band 1 (New York : Parkstone International, 2010: 84).
[9] Robert Fludd: 1574–1637.
[10] Metaphysik und Natur- und Kunstgeschichte beider Welten, nämlich des Makro- und des Mikrokosmos (1617).
[11] Mit einem monochromen quadratischen Kupferstich von Matthäus Merian dem Älteren.
[12] In der aristotelischen Metaphysik der allem zugrundeliegende Urstoff.
[13] D.h. 2008.
[14] „Et sic in infinitum“ steht an allen vier Seiten des Kupferstichs von Merian.
[15] Aus Horst Bredekamp: Beuys als Mitstreiter der Form, in Ulrich Müller: Joseph Beuys. Parallelprozesse. Archäologe einer künstlerischen Praxis (München: Hirmer Verlag 2012: 28–31).
[16] Irina Antonowa war Präsidentin des Puschkin-Museums. Das Zitat stammt aus: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/bilder-hinter-malewitschs-schwarzem-quadrat-a-1062749.html.
[17] Mein Wissen um Tschicholds Typografie habe ich entnommen aus: http://www.fontblog.de/konstruktivistische-schriften, https://de.wikipedia.org/wiki/Elementare_Typografie und https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Tschichold.
[18] Die hier verwendete an Tschichold angelehnte Typografie Stuntman ist entnommen aus Gregor Stawinski: Retrofonts (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2009: 260).

Zitierweise

Markus Schrenk (2017): Polygone – Ein Begleittext zur Ausstellung. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d579

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