Text: Stefan Oehm | Bereich: Ästhetik und Kunsttheorie
Übersicht: Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? Eine Frage, die sich die wenigsten stellen, wenn sie über Kunst reden. Und stattdessen drauflos reden. Im alltäglichen Kontext wie vielfach auch in dem der Kunstwelt. Ohne jede systematische Begriffsdifferenzierung. Ohne Erklärung, wie sich die Bedeutung des Wortes Kunst und der Begriff „Kunst“ konstituieren, etablieren, wandeln. Mithilfe von Rudi Kellers Sprachwandelkonzept und H.P. Grice’ handlungstheoretischem Modell versucht sich Stefan Oehm an einem Lösungsansatz.
1.
Der Umgang mit dem Begriff „Kunst“ bereitet, so scheint es, niemandem Schwierigkeiten. Selbst denen nicht, die mit Kunst nichts am Hut haben. Jeder weiß offensichtlich, worum es geht, wenn von ihr die Rede ist. Und weiß auch, dass alles Kunst sein kann, spätestens seit Marcel Duchamp seine ikonischen Readymades – den Flaschentrockner, das Urinal oder das Fahrrad-Rad – schuf, wobei hier, gegenläufig zu dieser Entgrenzung, eine Begrenzung stattfindet: Der Gebrauch des Begriffs „Kunst“ wird zunehmend auf den Bereich der bildenden Kunst reduziert. Was aber niemanden davon abhält zu fragen, ob dies oder das denn Kunst ist. Die einen sagen, dies sei eine Geschmacksfrage, über Kunst könne man nicht streiten. Die anderen, die sich professionell mit Kunst beschäftigen, bemühen sich redlich um eine seriöse Antwort. Manche versuchen, Kriterien zu entwickeln, woran man Kunst erkennen kann, um so Kunst von Nicht-Kunst oder von schlechter Kunst unterscheiden zu können. Manche versuchen sogar, aus solchen Kriterien eine Definition von Kunst zu extrahieren. Und wer glaubt, dass dies möglich ist, dem dürfte auch der Gedanke nicht fremd sein, dass es die Kunst gibt. Dass es, so die Position der Essentialisten unter den Kunstphilosophen und Kunstkritikern wie Clive Bell, Harold Osborne oder Monroe C. Beardsley, Eigenschaften gibt, die allen Kunstwerken gemeinsam sind und, so die Hoffnung, Antwort auf die ästhetische Kernfrage Was ist Kunst? geben. Jedoch beschleicht einen das ungute Gefühl, dass alle, die über Kunst reden, zwar das gleiche Wort Kunst benutzen, dabei aber durchaus nicht immer über das Gleiche reden. Ja, dass sogar jeder Einzelne, der über Kunst redet, dabei zwar das Wort Kunst verwendet, sich aber mitnichten stets auf den gleichen Begriff „Kunst“ bezieht. Warum beschleicht einen dieses ungute Gefühl? Es gibt doch eine schier unfassbare Fülle höchst eloquenter Abhandlungen zur Kunst. Es gibt sogar, seit den frühen 1950er Jahren, eine sprachanalytische Ästhetik in der Tradition Ludwig Wittgensteins, namentlich Morris Weitz, Paul Ziff und William E. Kennick, die im Kontext des Disputs um die Definierbarkeit von Kunst und Kunstwerken die Gebrauchsweise des Begriffs „Kunst“ diskutiert. Eine Diskussion, die in der Kunstphilosophie kontrovers geführt wurde und im Grunde bis heute andauert. Aber es liegt, soweit mir bekannt ist, keine systematische Darstellung der Problemlage vor.
Der Sachverhalt ist unstrittig, dass es viele verschiedene Kunstbegriffe gibt. Ebenso unstrittig ist, dass sich der Kunstbegriff wandelt. Beides wird jedoch zumeist nur festgestellt. Erklärt werden beide Sachverhalte, wenn überhaupt, dann nur in Ansätzen. Was recht verwunderlich ist, könnte uns eine systematische Erklärung doch einiges darüber sagen, wie ein Kunstbegriff entsteht, wie er sich etabliert, wie es zu den verschiedenen Kunstbegriffen kommt, welcher Art diese verschiedenen Kunstbegriffe sind und wie sie sich wandeln. Wer um diese Dinge weiß, gelangt vielleicht auch zu einem präziseren Gebrauch des Wortes Kunst. Für den alltagssprachlichen Umgang mag das ohne Belang sein, da stellt der unbedarfte, unreflektierte Gebrauch kein Problem dar. Im wissenschaftlichen Diskurs ist jedoch eine angemessene Differenzierung nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar. Dies ist bislang nur in Ansätzen und dann auch nicht systematisch geschehen. Gegenwärtig besteht ein begriffliches Chaos. Alle Beteiligten des Kunstdiskurses benutzen zwar ständig das Wort Kunst, tun dies aber, ungeachtet seiner vielfältigen Gebrauchsweisen, undifferenziert, kreuz und quer über alle Ebenen. Ein Chaos, das jedoch in der Filterblase des Kunstdiskurses durch die oftmals bemerkenswerte Eloquenz der Beteiligten meisterhaft verschleiert wird.
2.
Damit die Selbstverständlichkeit, mit der der Begriff „Kunst“ gebraucht wird, zumindest im fachsprachlichen Diskurs keine trügerische, sondern eine begründete ist, sollten grundlegende Faktoren des Sprachgebrauchs bei der Betrachtung der Problemlage Berücksichtigung finden. Meines Erachtens sollte aufgezeigt werden[1],
- dass es nicht nur verschiedene Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf der horizontalen Ebene (cf. Absatz 4: z.B. die Ebene A3 [bezogen auf ein Kunstwerk]), sondern auch auf der vertikalen Ebene gibt (cf. Absatz 4: z.B. die Ebenen AK.3 [Kunstwerk], AK.4 [Oeuvre], BK.1 [Stil], BK.2 [Musik], BK.3 [die Kunst]).
- wie der Weg von der singulären Gebrauchsweise des Wortes Kunst hin zu der etablierten und konventionellen Gebrauchsweise verläuft, wird doch so erst die Gebrauchsweise (und damit deren Verständnis) systematisch erklärt.
- dass allein dieser Weg zu den verschiedenen etablierten Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf allen Ebenen (siehe Punkt 1.) führt.
- dass so systematisch zwischen den jeweiligen singulären Gebrauchsweisen Einzelner und den jeweiligen etablierten einer Gemeinschaft (seien es z.B. die der Kunstwelt, seien es, im größeren Rahmen, die der Sprachgemeinschaft) differenziert wird.
- dass jede dieser Gebrauchsweisen des Wortes Kunst nicht nur eine entsprechende Bedeutung des Wortes Kunst darstellt (Mikroebene des individuellen Gebrauchs: parole), sondern auch einen Begriff „Kunst“ erzeugt (Makroebene der Institutionen: langue).
- dass jeder erzeugte Begriff „Kunst“ wiederum (mindestens) einem spezifischen Begriffstypus entspricht.
- wie sich der Prozess der Etablierung und Wandlung der jeweiligen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst (also seiner Bedeutungen) auf den verschiedenen Ebenen sowie der durch sie erzeugten Kunstbegriffe vollzieht.
- dass dieser Etablierungs- und Wandlungsprozess kein einmaliger Vorgang innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist, sondern einer, der sich permanent parallel in den verschiedenen sozialen Gruppen einer Sprachgemeinschaft und anderen Sprachgemeinschaften vollzieht.
- welches die strukturellen Rahmenbedingungen sind.
- wie es dazu kommt, dass ein Werk Kunst resp. Kunstwerk genannt wird.
- wie eine systematische Begriffsdifferenzierung zwischen den verschiedenen Aggregatzuständen dessen lauten kann, was Kunst resp. Kunstwerk genannt wird.
3.
Eine angemessene Erklärung der Etablierung von Bedeutung muss ihren Ausgangspunkt bei den handelnden Individuen nehmen. Die Frage, wie sich Bedeutung etablieren kann, geht mit der Frage der Etablierung des Verständnisses eben dieser Bedeutung einher: Es muss gezeigt werden, was es bedeutet, wenn eine singuläre Äußerung von einem anderen ‚verstanden‘ wird und wie im Laufe der „sozialen Kristallisation“[2] (de Saussure; vgl. Anm. 2) eine singuläre Sprecher-Bedeutung via etablierter Bedeutung zur konventionellen Bedeutung werden kann. Diesen Prozess werde ich anhand des handlungstheoretischen Modells des britischen Sprachphilosophen H.P. Grice zu erläutern versuchen:
- Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
- Ich intendiere, dass du meine Intention (A.) erkennst.
- Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention (B.) erkennst.
Um eine flüssige Kommunikation zu gewährleisten, bedarf es der Etablierung der jeweiligen Bedeutung, auf die die Gesprächsteilnehmer zurückgreifen können. Dieser Prozess der Etablierung der Bedeutung eines Wortes, also seiner Gebrauchsweise, ist, wie ich im Anschluss an das Sprachwandel-Konzept des Düsseldorfer Linguisten Rudi Keller zu zeigen versuche, ein Prozess der unsichtbaren Hand[3]: Die etablierte Bedeutung eines Ausdrucks ist damit ein Phänomen der dritten Art, weder natürlich gegeben noch künstlich geschaffen. Ihre Etablierung wie ihr Wandel sind Resultat menschlicher Handlungen, nicht aber Ergebnisse eines menschlichen Plans: Es ist eine nicht geplante, kollektive kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen.
4.
So, wie es bei der Sprache eine Mikroebene (parole) und eine Makroebene (langue) gibt, so gibt es auch bei der Kunst die Mikroebene des individuellen Kunstschaffens und die Makroebene der sozialen Institutionen. Dabei lassen sich auf der Mikroebene vorläufig vier Gebrauchsweisen des Wortes Kunst differenzieren, die ich mit dem Kürzel (AK) kennzeichnen möchte:
AK.1: Kunst bezogen auf die subjektive Befindlichkeit („Er lebt seine Kunst.“)
AK.2: auf den eigentlichen Prozess des Kunstschaffens („Malen ist Kunst.“)
AK.3: auf das konkrete Werk („Das ist Kunst!“)
AK.4: das gesamte Oeuvre („Seine Kunst ist in vielen Genres zu Hause.“)
Zudem lassen sich auf der Makroebene mindestens drei verschiedene mit dem Kürzel (BK) gekennzeichnete Gebrauchsweisen des Wortes Kunst differenzieren:
BK.1: Kunst als episodales Ereignis einer spezifischen überindividuellen sozialen Institution (so z.B. Stile in der Musik: Jazz, Rap, Klassik …; Medien in der bildenden Kunst: Performance, Malerei, Fotografie … („Fotografie ist die Kunst, die mich am meisten anspricht.“)
BK.2: Kunst als spezifische überindividuelle soziale Institution (Kunstgattungen, z.B. die Musik, die bildende Kunst, das Theater …; auf dieser Ebene des Gebrauchs wird selbst im fachspezifischen und wissenschaftlichen Diskurs oftmals der Kunstbegriff auf die bildende Kunst beschränkt [„Im Museum wird die Kunst des 19. Jahrhunderts gezeigt.“])
BK.3: Kunst als allgemeine überindividuelle soziale Institution (die Kunst – auch auf dieser Ebene gibt es sie nur als ein mass noun, als ein nicht zählbares Substantiv. Das heißt: Der Begriff kann nicht im Plural auftreten – rede ich von den Künsten, beziehe ich mich z.B. auf die Gebrauchsweise des Begriffs auf BK.2 [„Die Kunst ist etwas zutiefst Menschliches.“])
Die verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst erzeugen ihrerseits jeweils einen je spezifischen Begriff „Kunst“, der wiederum einem spezifischen Begriffstypus entspricht (so Wittgensteins Begriffe mit unscharfen Rändern; darunter sind Begriffe zu verstehen, bei denen es weder klare Grenzen noch einheitliche Kriterien dafür gibt, was unter die Kategorie fällt und was nicht [z.B. der Begriff „Haus“]). Von diesen etablierten Gebrauchsweisen des Wortes Kunst logisch zu unterscheiden ist der Prozess der Zuschreibung, also der aktuale Akt der Attribution von etwas als Kunst. Der wohl am häufigsten anzutreffende Fall der Zuschreibung ist der der Benennung eines einzelnen Werkes als Kunst (AK.3). Aber ebenso kann eine solche Zuschreibung das Oeuvre eines Künstlers betreffen (AK.4), einen Stil resp. ein Medium (BK.1) oder auch eine Gattung (BK.2).
Strukturell kann auch eine Zuschreibung, ausgehend vom singulären Gebrauch handelnder Individuen, die Etablierung einer neuen resp. gewandelten Gebrauchsweise des Wortes Kunst initiieren. Bei konstanter Zuschreibung von etwas als Kunst durch das handelnde Individuum kann sich eine gewisse Regelhaftigkeit ergeben, der sich unter Umständen andere Personen zustimmend anschließen. Das kollektive, nicht intendierte und nicht geplante Resultat dieser individuellen Zuschreibungen und Zustimmungen kann sein, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt x eine bestimmte Gruppe y ein bestimmtes Werk z (oder auch: ein Oeuvre, einen Stil, ein Medium oder eine Gattung) in gleicher Weise als Kunst bezeichnet. Diese Gruppe kann sich stetig erweitern, so dass zu einem weiteren Zeitpunkt eine ganze Gesellschaft (Kultur; Epoche) ein bestimmtes Werk (oder eben auch: ein Oeuvre, einen Stil, ein Medium oder eine Gattung) übereinstimmend als Kunst bezeichnet. Was aber noch lange nicht bedeutet, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft auch hinsichtlich der Gebrauchsweise des Wortes Kunst übereinstimmen.
Eine Konsequenz dieser These lautet: Weder obliegt es exponierten Vertretern der sozialen Gruppe Kunstexperten, den Gebrauch des Wortes Kunst auf den Ebenen seines Gebrauchs festzulegen, noch obliegt es ihnen, verbindlich zu bestimmen, welches Werk zum Zeitpunkt x in einer Kultur/Gesellschaft/ Sprachgemeinschaft y zur Kategorie Kunstwerke zu zählen ist. Sowohl Sprachfestsetzung als auch Zuschreibung sind vielmehr Resultat eines Prozesses der unsichtbaren Hand. Kunst ist jeweils das, was in allgemeiner Übereinstimmung innerhalb einer Sprachgemeinschaft auf allen Ebenen des Gebrauchs Kunst genannt wird.
Beitragsbild über dem Text: Marcel Duchamp: Fountain (1917). Foto: FHKE (Flickr).
[1] Es wird vielleicht als Defizit empfunden, dass die Unterscheidung zwischen normativem und deskriptivem Kunstbegriff nicht thematisiert wird. Dass dies nicht geschieht, ist allein dem Arbeitsziel geschuldet: Es geht hier primär um den systematischen Aufweis grundlegender Strukturen beim Gebrauch des Wortes Kunst.
[2] „Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt aus: alle reproduzieren – allerdings nicht genau, aber annähernd – dieselben Zeichen, die an dieselben Vorstellungen geknüpft sind“. Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaften. Berlin 1967, S. 15.
[3] Rudi Keller: Sprachwandel – Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen 2014. Den Begriff der unsichtbaren Hand (engl. invisible hand) führte der englische Nationalökonom Adam Smith 1776 in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen ein (München 1978, S. 371).
Zitierweise
Stefan Oehm (2019): Der Begriff „Kunst“ – revisited. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d9809
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