Ein Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews
Übersicht: Brain Painting ist eine von Adi Hoesle zusammen mit Wissenschaftlern und Technikern entwickelte Methode des Malens ohne Arme und Hände. Das digitale Malprogramm wird durch Hirnaktivitäten gesteuert. Die direkte Verbindung zwischen Gehirn und Computer ermöglicht es komplett gelähmten Menschen, bildnerisch tätig zu sein. Darüber hinaus eröffnet Brain Painting Möglichkeiten für die Weiterentwicklung der bildenden Kunst.
Adi Hoesle, Sie haben vor rund 10 Jahren das Brain Painting entwickelt, ein innovatives Konzept wissenschaftsbezogener Kunst. Im Interview sollen diese Wissenschaftsbezüge möglichst prägnant und detailliert herausgearbeitet werden. Zu Beginn könnten Sie kurz darlegen, worum es beim Brain Painting in der Hauptsache geht.
Brain Painting ist eine Form von digitalem Malen ohne Arme und Hände. Hier kann man alleine durch die Vorstellung und Konzentration ein Malprogramm steuern.
Das Beispielbild verweist auf die Praxis des Brain Painting. Geben Sie bitte noch ein weiteres Beispiel, damit den Nutzern die Spannweite der Resultate ansatzweise deutlich wird.
Gern.
Unser Gespräch würde ich gern in drei Phasen gliedern. In der ersten Phase sollen die verschiedenen Schritte bei der Entstehung eines Brain Painting-Bildes beschrieben werden, in der zweiten Phase steigen wir dann in die wissenschaftlich-technischen Hintergründe ein, und in der dritten Phase arbeiten wir schließlich das künstlerische Konzept, dem Sie folgen, und die daraus resultierenden Anwendungsmöglichkeiten heraus.
Einverstanden.
Wie entsteht ein Brain Painting-Bild? Die Anwerbung von Leuten, die bereit sind mitzumachen (von Probanden), und deren allgemeine Einweisung vernachlässigen wir.
Schritt 1: Dem Probanden wird ein Elektroenzephalogramm (eine EEG-Haube) aufgesetzt, um dann die elektrischen Hirnströme zu messen.
Weshalb ist das für die Produktion eines Brain Painting-Bildes notwendig?
Ziel ist es, ein spezifisches Hirnaktivitätsmuster zu lokalisieren. Mit diesem Hirnaktivitätsmuster kann man dann – allgemein gesprochen – die Malsoftware steuern.
Kommen wir zu Schritt 2.
Hier wird die sogenannte P300-Welle mit Hilfe eines Trainingsprogramms im EEG klassifiziert. Man könnte auch vereinfacht sagen: Die P300-Welle wird lokalisiert und herausgefiltert.
Was ist unter der P330-Welle zu verstehen?
Die P300-Welle ist ein typisches EEG-Muster, das relativ stabil gemessen werden kann. Dieses Muster tritt dann im Gehirn auf, wenn eine Person durch einen äußeren Reiz überrascht wird, z.B. durch das Zuschlagen einer Tür oder durch einen optischen Reiz wie einen Kamerablitz. Mit diesem Muster steuert nun der Proband beim eigentlichen Brainpainten die digitale Malerpalette ähnlich einer Malsoftware. Nur eben nicht mit Hand und Maus, sondern allein mit Konzentration und Vorstellung.
Welche Möglichkeiten stehen dem Probanden zur Verfügung?
Ihm werden zwei Monitore angeboten. Auf dem ersten Monitor, der jetzt ausgespart wird, ist eine digitale Malleinwand zu sehen. Auf dem zweiten Monitor wird die sog. Malmatrix gezeigt.
Die Malmatrix besteht aus verschiedenen Tools: Farben, Pinselgröße, Formen. Diese Tools sind jeweils in einen Rahmen eingefasst. Startet das Programm, so öffnen sich die einzelnen Rahmen in einer zufälligen Reihenfolge, und ein Gesicht einer bekannten Persönlichkeit wird für einen kurzen Augenblick sichtbar. Danach verschließt sich der Rahmen wieder.
Wozu dient das?
Das Erscheinen des Gesichts evoziert das P300-Muster im Gehirn. Will der Proband nun z.B. die Farbe Rot auswählen, konzentriert er sich auf das Tool „Rot“. Immer wenn nun das Gesicht hinter dem Tool „Rot“ erscheint, reagiert der Proband mit der P300-Welle, und die Software erkennt diese.
Der Proband konzentriert sich auf „Rot“, und die Farbe erscheint dann auf der digitalen Leinwand. Kann er auch den Ort der Farbe und letztlich die gesamte Komposition festlegen?
Ja, selbstverständlich. Auf der Malmatrix ist ein sog. Navigationssystem programmiert (siehe Bild). Die Pfeile geben die Richtung an, in die der Pinsel bzw. das Kreuz wiederum via P300-Welle bewegt werden kann. Dort, wo das Kreuz, das der Pinselspitze entspricht, positioniert wird, kann im nächsten Schritt beispielsweise ein Kreis gesetzt werden. Danach wird die Pinselspitze weiter bewegt, und so kann sukzessive die gesamte digitale Malleinwand bemalt werden.
Damit haben wir die Schritte bei der Entstehung eines Brain Painting-Bildes wohl im Wesentlichen erfasst. In der zweiten Gesprächsphase wenden wir uns den wissenschaftlich-technischen Hintergründen zu. Zu den Hauptzielen von w/k gehört es bekanntlich, die Wissenschaftsbezüge einer bestimmten künstlerischen Praxis möglichst genau herauszuarbeiten.
Die Idee des Brain Painting entstand im Rahmen meines Fragens nach dem Entstehungsort eines Kunstwerkes und dem Übergang von der reinen Idee zur Materialisierung des Gedankens. Bei der Entwicklung hat es dann eine Arbeitsteilung einerseits mit dem Elektro- und Nachrichteningenieur Dirk Franz gegeben, der die Matrix, also die digitale Malerpalette programmierte, andererseits mit Dr. Sebastian Halder, der die Anbindung an das BCI2000 programmierte – die hardware stellte die Firma gtec aus Österreich zur Verfügung.
Sebastian Halder hat für das w/k-Interview einen die Entstehungsgeschichte erläuternden Text verfasst.
Sebastian Halder: Zur Entwicklung von Brain Painting
Vor über zwölf Jahren, am 12. März 2007, trafen sich eine Neuropsychologin (Andrea Kübler), ein Automatisierungsingenieur (Adrian Furdea), ein Nachrichteningenieur (Dirk Franz), ein Bioinformatiker (Sebastian Halder) und ein Retrogradist (das ist Adi Hoesles Bezeichnung für die von ihm praktizierte Kunstform), um, nach den Worten des Künstlers, in der Universitätsstadt Tübingen in einem unscheinbaren Lokal direkt am Neckar ein konspiratives Treffen zur Fragestellung „Provozieren Optionen des Brain Paintings eine evolutionär reflektierte Revolution in Kunst und Medizin?“ abzuhalten. Während der Künstler Fragen stellte wie „Wie kommt das Werk aus dem Kopf?“ und „Sendet das Werk Signale?“, diskutierten die Ingenieure Fragen wie „Verbinden wir die Matrix und die Malsoftware per UDP oder TCP/IP?“, worauf die Neuropsychologin die Frage in den Raum warf „Ist P300, SSVEP oder SMR in diesem Anwendungsfall die bessere Wahl als Kontrollsignal?“ Einige hundert Emails, mehrere Treffen und unzählige Arbeitsstunden später war es dann im Oktober 2007 soweit: Eine erste Version der Brain Painting-Software wurde von Liane Kraus, die an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet, und Adi Hoesle im Künstlerbund Tübingen der Öffentlichkeit vorgestellt.
Was genau wurde hier geschaffen? Das Brain Painting basiert auf einer sogenannten Gehirncomputerschnittstelle (Brain-Computer Interface, BCI). Hierbei handelt es sich um eine direkte Verbindung zwischen Gehirn und Computer, die entwickelt wurde, um es komplett gelähmten Menschen zu ermöglichen, zu kommunizieren und mit ihrer Umgebung zu interagieren. Die entscheidende Eigenschaft eines BCIs ist, dass es möglich ist, es ohne jegliche Muskelbewegung zu steuern. Diese Eigenschaft ist notwendig, da bestimmte Erkrankungen wie die ALS und Verletzungen des Gehirns zu einer vollständigen körperlichen Lähmung bei Erhalt der geistigen Fähigkeiten führen können. Hierfür werden mit einem BCI Gehirnströme in Form des Elektroenzephalogramms (EEG) aufgezeichnet und verarbeitet. Ein solches System ermöglicht es dem Nutzer, mehrere Buchstaben pro Minute zu schreiben. Das mag für eine gesunde Person wenig erscheinen, ist aber für Personen mit schweren Lähmungen von unschätzbarem Wert. Das Brain Painting nutzt eine Komponente des EEGs, die als Ereigniskorreliertes Potential (event-related potential, ERP) bezeichnet wird. Diese ERPs können von einer Person beeinflusst werden, indem sie bestimmte Reize, z.B. Lichtblitze, beachtet oder ignoriert. Auf Basis dieses Prinzips können nun Symbole auf einem Bildschirm, die der Nutzer entweder beachtet oder ignoriert, präsentiert werden. Die beachteten Symbole werden vom Programm ausgeführt, sodass nach und nach ein Bild entsteht.
Macht Brain Painting nun, wie Adi Hoesle es 2007 ausdrückte, „das Gehirn zum Atelier des Künstlers im 3. Jahrtausend“? Das konnte ich Anfang 2007, als ich gerade meine Doktorarbeit in Tübingen anfing, nicht beurteilen und traue es mir auch heute zwölf Jahre später nicht zu. Ich bin aber überzeugt, dass das Projekt, das wir damals konzipierten und umsetzten, und das später von meinen Kollegen Elisa Holz und Loïc Botrel an der Universität Würzburg weiterentwickelt wurde, die kontrollierten Bedingungen des wissenschaftlichen Labors verlassen und zur Bereicherung und Verbesserung der Lebensqualität von Menschen in der realen Welt geführt hat. So ist Brain Painting zu einer der meistverwendeten BCI-Anwendungen überhaupt geworden. Darauf kann jeder der Beteiligten stolz sein.
Wir können jetzt in die dritte und letzte Phase eintreten, in der es darum geht, das künstlerische Konzept, auf dem das Brain Painting-Projekt beruht, sowie relevante Hintergrundüberzeugungen des Künstlers möglichst genau zu erschließen. Was sind die wichtigsten Fragen, mit denen Sie sich – auch unabhängig von diesem Projekt –beschäftigen?
Fragen nach dem Entstehungsort und nach den Entstehungsmechanismen von Kunst aus der Sicht des Künstlers wie auch der Zweifel am eigenen künstlerischen Tun halten mich seit mehr als 20 Jahren in Bann und auf Trab. Der Zweifel an dem, was der Künstler tut, was er sieht und was letztendlich auch die Rezipienten zu sehen bekommen, ist ja untersuchungswürdig. Ist es das, was man sieht, oder sieht man nur das, was man sehen will und sehen kann? Wie schaut es mit Präsenz und Absenz in der Kunst aus, was heißt materielle Präsenz und immaterielle Wahrnehmung? Wo ist der Link zwischen Geist und Physis? Fragen über Fragen, die mich in meiner Arbeit bewegen. Beim Versuch, sie zu beantworten, stößt man zwangsläufig auf die Zentrale, d.h. auf das Gehirn und seine physiologischen Prozesse, und nicht zuletzt auf den Geist und mentale Prozesse. Aber letztendlich stochere ich in einem schwarzen Nichts, ohne zu wissen, was passiert, was ich vielleicht ansteche … Das Brain Painting-Projekt ist aus dem Versuch entstanden, die eben genannten kunstimmanenten Fragen zu beantworten.
Im Jahr 2004 begegnete ich dann allerdings Jörg Immendorff, der an der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) litt – einer irreversiblen Schädigung der Nervenzellen, die für Muskelbewegungen zuständig sind. Das Gespräch mit ihm motivierte mich, für ihn eine Option des Malens zu entwickeln.
Hat Immendorff Brain Painting gekannt und damit gearbeitet?
Ja, er kannte mein Projekt. Als das Programm problemlos funktionierte, war er leider krankheitsbedingt nicht mehr imstande zu malen. „Ich habe keine Kraft mehr, Herr Hoesle!“
In einer Berliner Ankündigung ist zu lesen: „2018 hat Adi Hoesle Angela Jansen für ein Projekt gewinnen können. Unter dem Titel I’m a model hat er Angela Jansen in seine Ausstellung Ich male, also bin ich im Kleisthaus in den Kunstkontext gestellt.“ „Angela Jansen ist seit 20 Jahren komplett gelähmt und wird künstlich beatmet. Sie leidet an einer irreversiblen Schädigung der Motorneuronen, Nervenzellen, die für Muskelbewegungen zuständig sind. Die Krankheit heißt ALS – Amyotrophe Lateralsklerose.“ Diese Zusammenarbeit ist für w/k interessant. Können Sie genauere Auskünfte darüber geben?
Angela Jansen leidet wie Jörg Immendorff an der Krankheit ALS und ist seit 20 Jahren komplett unbeweglich in ihrem Körper eingeschlossen. Man könnte sagen, sie ist in einen Kokon eingesponnen. Interessanterweise erlebt sie diesen Zustand selbst aber gar nicht so. Sie sagt: „Ich bin wie du auch, nur dass ich mich nicht bewegen kann, unterscheidet uns beide!“ Was für eine großartige Reflexion des Daseins! Merken Sie: Präsenz und Absenz finden ihre Synthese im Kokon. Der Geist siegt über den Körper!
Natürlich spielt es eine nicht unwesentliche Rolle, dass Frau Jansen durch ein hightec-Gerät via Augenbewegung kommunizieren kann. Das sog. Eyegaze öffnet ihr die Tür zur Welt. Damit kann sie schreiben, sich in den social media bewegen und im Internet durch die virtuelle Welt surfen. Ist das nicht großartig? Brain Painting ermöglicht Angela Jansen, aktiv, kreativ und produktiv an der Welt teilzunehmen.
Welchen Nutzen hat das Brain Painting darüber hinaus für die Kunst und ihre weitere Entwicklung?
Da muss man abwarten, wie das Projekt später aus kunsthistorischer Sicht bewertet werden wird. Interessanterweise werden ja gerade die neuesten Digitalwerke, die durch neuronale Netze generiert werden, heftig diskutiert und zu Höchstpreisen verkauft. Brain Painting geht aber über diese Vorgehensweise hinaus. Nun, jedenfalls ist es auch mit dieser Arbeit so, wie in der Kunst an sich, dass sie primär keinen Zweck verfolgt. Sie ist von ihrem Wesen her zweckfrei.
Brain Painting thematisiert stark die Hirnmasse des Künstlers; als weiterer Schritt ist denkbar, das Gehirn des Rezipienten zu beeinflussen, indem man z.B. bestimmte Neurotransmitter, die eine ästhetische Erfahrung mitverantworten, gezielt auslöst. Vielleicht ist es sogar möglich, durch direkte neuronale Reizung ein ästhetisches Erlebnis zu erzeugen.
Ich bedanke mich bei Adi Hoesle für das erhellende Gespräch und bei Sebastian Halder für die ergänzenden Erläuterungen.
Beitragsbild über dem Text: Adi Hoesle: Brain Painting Print (2018). Foto: Adi Hoesle.
Zitierweise
Peter Tepe (2019): Adi Hoesle: Brain Painting. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d10582
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