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Zeichnerische Forschung

Text: Oliver Thie | Bereich: Beiträge von Künstlerinnen | Zeichnerische Forschung

Übersicht: Oliver Thie erläutert sein Verständnis der zeichnerischen Forschung in Abgrenzung zur wissenschaftlichen Forschung. Im Rahmen sinnlicher Erfahrung wird ein genaues Erkennen realisiert. Blickwinkel, die von der Wissenschaft nicht adressiert werden, werden aufgezeigt. Die zeichnerische wird als Variante der künstlerischen Forschung begriffen. Sie produziert ein Wissen, das durchlebt und erlebt werden muss. Thies Arbeitsweise wird anhand eines Fallbeispiels erläutert: Die Werkgruppe Umrinden verwandelt naturwissenschaftliche Methoden in künstlerische Weltzugriffe.

Dieser Text erschien zuerst im  – von der Willms Neuhaus Stiftung Zufall und Gestaltung herausgegebenen – Buch Spiel Zufall Experiment. Zur künstlerischen Praxis (Berlin 2024). Die Zweitveröffentlichung geschieht mit freundlicher Genehmigung. http://willms-neuhaus-stiftung.de/publikationen/

Wenn ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit von Forschung spreche, so ist dies nicht deckungsgleich mit wissenschaftlicher Forschung. Die strengen Kriterien für Experimente und Erkenntnisziele, welche in den (Erfahrungs-)Wissenschaften gelten, sind für mich nicht bindend. Mein Forschen ist zunächst im allgemeinen, lebenspraktischen Sinne als eine systematische Betätigung zur Wissensvermehrung zu verstehen, für die Nochnichtwissen und Erkennenwollen[1] die Triebfedern sind. Im Zeichnen als Wahrnehmung erweiternder Technik ist das Vermögen in diesem Sinne zu forschen bereits angelegt, so ist meine Bezeichnung der zeichnerischen Forschung denn im Grunde eine Unterstreichung. Das Wissen, das hierbei entsteht, entfaltet sich in zwei Phasen: zum einen durch die Erfahrungen, welche mir im Forschungsprozess, also während des Zeichnens, zuteilwerden, zum anderen mit den Wahrnehmungen, die der gezeichnete Niederschlag anschließend, auch anderen, eröffnet.

Zeichnen aktiviert tiefe Konzentration. Das Auge wird, mit dem Stift als Gehstock, in die Lage versetzt, das Blickfeld wie ein grasendes Tier zu bewandern. Auf diese Weise erreiche ich alle Angebote des Sichtbaren. Ich bemerke, was man verpasst, wenn sich die sinnliche Aufmerksamkeit zugunsten der bequemen Identifikation darauf beschränkt, „ihrem Rohmaterial Schablonen von relativ einfacher Form“[2] anzupassen. Durchs Zeichnen wird eine „Konkretisierung der interessierenden Phänomene ermöglicht, die über die alltägliche Wahrnehmung weit hinausgeht.“[3]

Jene Konkretisierung realisiert ein genaues Erkennen, worin die spezifische, in der ersten Phase zeichnerischer Forschung erstrebte Erkenntnis besteht. Überdies kann die formende Bewegung und die haptische Resonanz durch das zeichnende Werkzeug eine Empfindung kreieren, als würde das Beobachtete selbst betastet. Die Beteiligung von Motorik und Tastsinn reichert das visuelle Erkennen multisensorisch an und schafft ein nochmals vertieftes, körperliches Verständnis. Zeichnen bietet also einen Weg embodied knowledge[4] zu erlangen, was insbesondere bei zu kleinen, zu fernen oder auf andere Weise unerreichbaren Phänomenen ein Zugewinn ist.

Die zeichnende Analyse befähigt zu Auswahl, Abgrenzung, Reduktion, Ergänzung, Improvisation und Spekulation; sie dokumentiert unmittelbar jede getroffene Entscheidung und macht diese für andere nachvollziehbar. Durch die Übersetzung in grafische Codes betrete ich dabei das Reich der Abstraktion. Das Vorwissen über ein beobachtetes Objekt, sein Name und Bedeutungskontext, tritt in den Hintergrund, was bleibt, ist pures Denken in Formen. Ich kann das Individuelle jeder Form besser herausschälen als Worte es könnten. Gleichzeitig schreiben sich Zufälle aus dem Eigenleben des zeichnenden Instrumentariums (Auge, Nervensystem, Hand) mit ein und berichten von dessen Dynamiken.

Mit dem gezeichneten Bildergebnis entsteht ein Wahrnehmungsvehikel, welches das oben Beschriebene, genau Erkannte, speichert und intersubjektiv verhandelbar macht. Neben dem intensiven Einfühlen in eine Untersuchungssache ist es denn ein weiteres Potential zeichnerischer Forschung diesen empathischen Akt zu veräußern und als Wahrnehmungsmöglichkeit für andere anzubieten. Die zeichnerische Übersetzung schafft dabei eine Transformation, angesichts derer sich auch neue Erfahrungen auftun. Es eröffnet sich die Möglichkeit, in Etwas etwas Anderes zu sehen. Es entsteht Mehrdeutigkeit, die Anschauung des Beobachteten wird für Assoziationen und Vergleiche empfänglich.

Ich begreife meinen Ansatz des genauen Beobachtens, für den alles, selbst die Fußbewegung einer Laus, schon eine Entdeckung ist, als eine qualitative Datenaufnahme. Hiermit beabsichtige ich einer Wissenskultur von dominierend quantitativem Ergebnisstreben die sinnliche Erfahrung zur Seite zu stellen.

Mein besonderer Fokus gilt den Naturwissenschaften, was sich aus Erfahrungen als wissenschaftlicher Illustrator entwickelt hat. In engem Austausch mit Biologinnen und Biologen zeichnete ich einige Male neu entdeckte Insekten für Fachzeitschriften. Wie Barbara Wittmann schreibt, ist „die Form der Organismen […] für den Morphologen nicht schlichtweg gegeben, sie muss mühsam geborgen, gesichert, ja mehr noch: artikuliert werden, bevor sich Wissen über ihre Struktur und Funktion ableiten lässt.“ [5]

Eine solche Artikulation ist kaum anders als zeichnerisch zu erringen. Ich hatte mir hier also eine Domäne erschlossen, in der die Zeichnung zunächst im wissenschaftlichen Verständnis anerkanntes Forschungsinstrument ist und war begeistert als Zeichner einen Beitrag zum Wissen über die Natur leisten zu können. Gleichzeitig lernte ich so auch die blinden Flecke naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen aus nächster Nähe kennen. Unter dem Paradigma der Beweisbarkeit verstellen Schematisierungen, enge Ausschnitte und selektive Aufmerksamkeiten mancherorts den Blick für Vielfalt, Individualität und Ganzheitlichkeit.

Mit der vorgegebenen Zielsetzung innerhalb der Auftragsbeziehung waren meinen künstlerischen Forschungsinteressen zu viele Grenzen gesetzt, so dass ich mich bald davon emanzipieren musste. Heute geht es mir nicht mehr darum, einen wissenschaftlichen Beitrag im engeren Sinne zu leisten. Dennoch bleibt die Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein wichtiger Ausgangspunkt.[6] Ihre sehr speziellen Interessen an der Natur und die durch ihre Herangehensweisen ermöglichten Wahrnehmungszugänge sind meine zentrale Inspirationsquelle. Indem ich mich den gleichen Sujets widme oder Momente naturwissenschaftlicher Methoden in zeichnerischen Strategien aufgreife, will ich in einer parallelen Forschungstätigkeit Blickwinkel, die von der Wissenschaft nicht adressiert werden, aufzeigen.

An dieser Stelle sei zeichnerische Forschung als Programm künstlerischer Forschung[7] deklariert. Meine Definition einer forschenden Arbeitsweise umfasst ein methodisches Vorgehen zum Gewinn der bereits charakterisierten Erkenntnisart und eine Form der Veröffentlichung, welche individuelle Gewissheiten verfügbar macht und damit zu allgemeiner Kenntnis bringt. Mit dieser Verwandtschaft mit den Grundkriterien naturwissenschaftlicher Forschung wird ein Vergleich möglich, der meine Versuche deutlich als eine Variante im Gefüge der Wissenserzeugung platziert.

Meine Methoden bestehen darin, mich in wiederholbare Wahrnehmungskonfigurationen zu begeben und dabei systematische zeichnerische Reaktionen auszuführen. Wie schon mit der Bezeichnung embodied knowledge ausgedrückt, produziert zeichnerische Forschung ein Wissen, das durchlebt und erlebt werden muss, das nach der Produktion also auch entsprechende Formen der Präsentation und Rezeption benötigt.[8] Ausstellungen betrachte ich demnach als Veröffentlichungsmedien, die in Gestalt der Wahrnehmungen, welche sich angesichts der Zeichnungen eröffnen, die Forschungserkenntnisse zur Entfaltung bringen. Die Zeichnungen sind intensiv und am besten im Original zu betrachten, manchmal ist dies auch nicht anders möglich, weil sich die Formate der Reproduktion entziehen. Zusätzlich gebe ich schriftliche Dokumentationen und Reflexionen bei, welche die Erkenntnisse auf anderer Ebene diskutierbar machen sollen.

Fallbeispiel: Umrinden

Zur Veranschaulichung meiner Arbeitsweise und der weiteren Erörterung ihres Zusammenhangs mit den Naturwissenschaften, möchte ich einige Jahre zurückschauen. 2012 verbrachte ich als Stipendiat der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sechs Monate in Brasilien und wurde in einer Arbeitsgruppe des Umweltministeriums eingesetzt, die mit dem Aufbau eines landesweiten Programms zur Erhebung von Biodiversitätsdaten befasst war. Zuerst wusste dort niemand, was mit einem Künstler anzufangen sei, war es doch eher üblich Biologen oder Umwelttechniker zu integrieren. Nach einer gewissen Zeit des stillen Zusehens entdeckte ich jedoch eine Möglichkeit mich einzubringen. Das langfristig und großräumig angelegte Forschungsprogramm war auf die Unterstützung vieler Hilfskräfte angewiesen, weshalb die lokale Landbevölkerung für die Mitarbeit geschult werden sollte. Allerdings können dort viele nicht lesen und herkömmliches Unterrichtsmaterial war ungeeignet. Ich machte es zu meiner Aufgabe, die Feldforschungsmethoden in Zeichnungen für Bild-Anleitungen zu übersetzen. In dieser Funktion konnte ich mehrere biologische Expeditionen begleiten, weil ich die Verfahren eigenhändig erleben musste, um die entscheidenden Handgriffe herausfiltern und anschaulich darstellen zu können. Unter anderem war ich im Amazonas-Regenwald und lernte dort die Vorgehensweise zur Waldinventur kennen: Auf ausgewählten Untersuchungsflächen werden alle Bäume nummeriert, ihr Umfang in Brusthöhe gemessen und mit der Nummer notiert.

Oliver Thie: Detail aus Guia de procedimentos de plantas (2013). Foto: Oliver Thie.

Seither ist die biologische Feldforschung zu einem Vorbild für meine künstlerischen Forschungsbestrebungen geworden. Ich erlebte, wie Biologinnen und Biologen mit Verfahren, die auf systematischem Messen, Sammeln und Beobachten beruhen, eine Rahmung setzen, was auch die Entscheidung beinhaltet, anderes außen vor zu lassen. Innerhalb der Rahmung aber leuchtet etwas auf, wird scharf gestellt, kann es gelingen einige Splitter aus dem konturlosen Ungewissen zu bergen. Dieses Prinzip nenne ich Weltzugriff.

Mit meiner Arbeit möchte ich ähnliches versuchen und dabei die Bandbreite von Möglichkeiten des Weltzugriffs erweitern. Ich agiere unter der Annahme, dass ich mit einer Herangehensweise, welche sich der Welt durch die subjektive Erfahrung nähert und die Wahrnehmung des Individuellen statt allgemeiner Theorien erstrebt, naturwissenschaftliche Erklärungsformen ergänzen kann.

Auskunft des Experten Dr. Georg Toepfer vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung:

Im elektronischen Briefwechsel mit Oliver Thie schreibt er im November 2023:

„Die Phänomenologie, die Lehre der Erscheinungen, geht von der Mannigfaltigkeit der Dinge als dem Gegebenen aus, das es zunächst genau zu beobachten und zu beschreiben gilt. Die möglichst unvoreingenommene Annäherung an die Gegenstände der Welt charakterisiert den phänomenologischen Ansatz. Die Dinge werden in der Phänomenologie zunächst nicht theoretisch analysiert, nicht durch Erklärungen auf Andere bezogen, sondern in ihrem jeweiligen Sosein wahrgenommen. Zur Phänomenologie gehört es dabei auch, die Gegenstände nicht isoliert für sich zu betrachten, sondern als verortete Dinge in der Welt, die in jeweiligen Bezügen stehen, wozu auch der gerichtete Bezug des erkennenden Subjekts auf das Ding gehört. Die Einsicht in die Eingebundenheit des Subjekts in die Prozesse von Wahrnehmung und Erkenntnis der Gegenstände bildet ein wesentliches Element der Phänomenologie. Zur phänomenologischen Erfahrung gehört dabei das Erleben, Leib und Sinnlichkeit, das sinnliche Aufnehmen der Objekte und das physische Umgehen mit ihnen sowie das ganzheitliche Erfassen von räumlichen Atmosphären. Der Leib gilt in der Phänomenologie daher als Bedingung der Möglichkeit aller Wahrnehmung. Der traditionelle Leib-Seele-Dualismus wird damit unterlaufen: Die Abtrennung des Denkens vom leiblichen Fühlen und Handeln gilt in der Phänomenologie als eines der Grundübel der abendländischen Philosophie.“

2023 bot eine Residenz im Künstlerhaus Eisenhammer, das sich in einem kleinen Dorf im Spreewald befindet, die Gelegenheit, eine eigene Strategie des zeichnerischen Wald-Weltzugriffs zu entwickeln. Mein ursprüngliches Vorhaben war es, Blattläuse zu beobachten, wie ich es in der Zwischenzeit während einer anderen Expeditionsbegleitung in den USA getan hatte. Gemeinsam mit einem Insektenspezialisten war ich durch mehrere Bundesstaaten gefahren, um Arten der winzigen Tiere aufzuspüren, die an bestimmten Wirtsbäumen leben, allesamt Vertreter von Pappeln. Im Spreewald wollte ich daran anknüpfen und eine in Deutschland beheimatete Verwandte der US-amerikanischen Arten untersuchen. Ich aktivierte meinen Blick für Pappeln, fand in der Umgebung des Ortes auch einige, aber allesamt ohne Blattläuse. Sie scheinen dort nicht vorzukommen, ich musste umschwenken und konnte mich so ganz den Bäumen zuwenden. Meine während mehrerer Aufenthalte von Mai bis Oktober entwickelte Untersuchung widmete ich aufgrund der Vorprägung dennoch nicht irgendwelchen Bäumen, sondern einer Gruppe von fünf Pappeln am Waldrand nordöstlich von Schlepzig. (Ich bin mir sicher, dass zuweilen auch in der naturwissenschaftlichen Forschung solcherart Einflüsse für die Wahl eines Sujets mitverantwortlich sind.)

Ausgehend vom Ansinnen einer künstlerischen Anverwandlung der naturwissenschaftlichen Waldinventur und einem starken Interesse an Rindenstrukturen entwickelte ich folgende Methode: Um einen ausgewählten Baum wird knapp unter Augenhöhe ein dem Umfang des Stammes entsprechend langer und 13 cm hoher Papierstreifen gelegt. Der Rindenbereich überhalb der Banderole wird in einem Abstand, welcher der Papierhöhe entspricht, mit einem Faden begrenzt. Diese Zone wird betrachtet und auf dem Papier darunter auf das Gesehene zeichnerisch reagiert. Weiterhin legte ich als Parameter der zeichnerischen Übersetzung fest: Es wird ein 6B-Graphitstift benutzt und selten gespitzt, es werden nur (Umriss-)Linien eingesetzt, durch senkrechtes Peilen mit dem Stift wird relative Proportionstreue erstrebt, die Entscheidungen zu Aufnahme oder Aussparung von Formen geschehen intuitiv.

Oliver Thie: Baumgruppe von fünf Pappeln (2023). Foto: Oliver Thie.

Oliver Thie zeichnet an einer Gruppe von fünf Pappeln (2023). Foto: Oliver Thie.

Oliver Thie: Methode Umrinden (2023). Foto: Oliver Thie.

„Die Zeichnung entfaltet einen noch nicht dagewesenen Sinn, der mit keinem bereits ausgeformten Projekt konform ist, aber von einer Absicht getragen wird, die mit der Bewegung, der Geste und dem Schwung des Strichs verschmilzt. Ihre Lust ist das Genießen dieses Entfaltens, […] während es sich erfindet, sich findet und weitergetrieben wird, auf der Spur dessen, was gleichwohl vorher nicht da war.“ [9]

Die Strukturen der Rinden wollte ich mit Auge und Stift einsammeln, ihrer habhaft werden und dabei erleben, welcher grafische Niederschlag sich bilden würde. Beim zeichnenden Erkennen und im Staunen über das Transformationsresultat entfaltete sich eine große Schaulust. Um sie zu erreichen, muss es jedoch erst gelingen die Kargheitsschwelle zu übertreten: Monoton, fade und wüst erstreckt sich die Rinde, spartanisch und dürr kräuseln sich graphitene Strichchen ins Weiß, endlos. Um in der Öde zunächst eintönig erscheinender Sinnesreize ausharren und die Blumen finden zu können, muss meine rastlose und Spektakel heischende Geistestätigkeit zur Ruhe gebracht werden. Eine Askese im doppelten Wortsinn – Verzicht, aber auch Übung – ist nötig, was mir durchaus manchmal schwerfällt, was von der an Sinneseindrücken reichen Umgebung des Waldes aber erleichtert wurde. Im Atelier rebelliert mein Kopf viel stärker gegen die Reduktion von verbaler Beschäftigung, erhebt sich eine Unzahl innerer Stimmen, welche nach Input verlangen oder sich mit Phantomen selbst unterhalten. Hier wurde ich von den vielfältigen, wohltuenden, beiläufigen Reizen getragen.

Als erstrebter Nebeneffekt ergab es sich stundenlang nahezu reglos vor einem Baum stehen zu lernen. Brust an Borke, Knie an Knorz, wurde ich selbst zum Baum. Zugegeben eine steile These, welche mir aber von dem Reh bestätigt wurde, das eines Tages keine drei Schritte entfernt vorbei stapfte, ohne von mir Notiz zu nehmen.

Im Wechsel der Jahreszeiten veränderten sich nicht nur die umgebenden Felder, auch die Rindenlandschaft wandelte immer wieder ihr Erscheinen. Menschliche Anwohner ließen sich nicht blicken, aber vielfarbige Raupen mit langen Haaren und wippenden Fortsätzen prozessierten übers Papier. Häufig erschreckten mich Ameisen, welche sich mir angriffslustig mit weit offenen Beißzangen entgegenwarfen. Oder der Stiftspitze, was ich bald nicht mehr recht trennen konnte.

Es ist mein Anspruch mich bei meinen Feldforschungen dem Lebensraum, der Umwelt des Untersuchten intensiv auszusetzen, sie zu durchleben, um mit ihr ein Stück weit in Einklang zu kommen. Ich folge der Überzeugung, dass jede Erkenntnis von einer Konfiguration abhängt, an der der Körper beteiligt ist (vgl. abermals die Phänomenologie). Diese Zusammenhänge möchte ich ausloten, und auskosten, wie sie ihren Weg in die Feinstofflichkeit der Zeichnung finden.

Die Ausbeute meiner Streifzüge jenseits der Kargheitsschwelle lässt sich an den fünf entstandenen Zeichnungen nachvollziehen. Chronologisch betrachtet, zeigen sie einen sukzessive zunehmenden Detailreichtum. Mit der fortgesetzten Betrachtung kam eine immer weiter zunehmende Blickschärfung in Gang, ein unweigerliches Eintauchen in Einzelheiten, die vorher nicht sichtbar waren, aber doch da gewesen sein mussten. So entdeckte ich erst nach etlichen Tagen winzige Flechten auf einer Baumseite, welche dann in die Aufzeichnung eingehen mussten. Eine solche Blickschärfung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Ich entfernte mich immer weiter von der groben Auffassung des Anfangs, als ob man eine neue Sprache erlernt, die einem zuerst vollkommen verschlüsselt erscheint und die man später wie nebenbei registriert.

Mit dem sehr breiten Querformat der Banderolen erprobe ich ein ungewöhnliches Zeichnungsformat und eröffne, indem sie sich nicht nur ringförmig, sondern auch flach entrollt betrachten lassen, eine neue Perspektive auf die Rinde. Die Bilanz der Forschung ist aber, wie gesagt, vor den Zeichnungen zu entfalten. Blick-Askese wird hierfür auch von Rezipierenden verlangt. Ich empfehle das Anschauen anzugehen, wie das Lauschen bei einem Konzert, im Sessel bleiben, bis die letzte Note vernommen ist. Es soll damit der Übertritt in eine andere Zeitlichkeit (Baumzeit?) gelingen. Wilhelm Genazino spricht in seinem für diesen Versuch hilfreichen Essay Der gedehnte Blick vom über die Zeit betrachten:

„Offenbar haben wir verinnerlicht, wieviel Zeit wir für die Betrachtung diverser Objekte veranschlagen dürfen. Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können. Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können. Der gedehnte Blick sieht auch dann noch, wenn es nach allgemeiner Übereinkunft, die schon längst beim nächsten und übernächsten Bild angekommen ist, nichts mehr zu sehen gibt. Wir können sagen: Erst dann, wenn das gemeine, das verallgemeinerte Auge die Oberflächenstruktur eines Bildes fixiert und das Bild damit ‚erledigt‘, das heißt registriert ist, erst dann beginnt die Arbeit des gedehnten Blicks. “ [10]

Oliver Thie: Umrindung 3 (2023). Foto: Eric Tschernow.
Oliver Thie: Detail aus Umrindung 3 (2023). Foto: Eric Tschernow.

Es bleibt der Vergleich mit der ursprünglichen, naturwissenschaftlichen Methode. Die hohe Komplexität des gezeichneten Messergebnisses entspricht der Erscheinung des Gemessenen besser als die einzelne Zahl, wie sie mit der schnell gemachten metrischen Umfangsmessung erstrebt wird. Gegenüber eigenschaftsverkürzenden Begriffen wie zum Beispiel Artnamen, wird die Individualität der Bäume berücksichtigt. Die enorme Verlangsamung beim Zeichnen erlaubt eine intensivere Anteilnahme am Untersuchungsgegenstand und seiner Umwelt. Der künstlerische Datensatz spiegelt, anders als etwa Zahlenkolonnen, im Ergebnis die Subjektivität des Messenden.

Auf der anderen Seite sehe ich aber auch Ähnlichkeiten zur Naturwissenschaft. Die Entscheidung zur Übersetzung in ausschließlich Linien lässt mein Auge vor allem nach Kontrastkanten suchen, von vornherein bestimmt also eine selektive Aufmerksamkeit meine Betrachtung. Die gezeichnete Banderole zeigt nur eine Scheibe des Stammes, sie ist ein kleiner Ausschnitt und beileibe keine Wiedergabe der Vielfalt dessen, was ein Baum dem Bewusstsein anbietet. Enthält mein Versuch die wissenschaftliche Forschung sinnlich zu ergänzen, am Ende ein Gleichnis auf die grobe Schematisierung[11] im Weltbild der modernen Biologie?

Oliver Thie: Hängungsversuch mit Umrindungen 3, 4, 5 (2023). Foto: Eric Tschernow.

Dieser Text erschien zuerst im  – von der Willms Neuhaus Stiftung Zufall und Gestaltung herausgegebenen – Buch Spiel Zufall Experiment. Zur künstlerischen Praxis (Berlin 2024). Die Zweitveröffentlichung geschieht mit freundlicher Genehmigung. http://willms-neuhaus-stiftung.de/publikationen/

Beitragsbild über dem Text: Oliver Thie zeichnet an einer Gruppe von fünf Pappeln, Spreewald (2023). Foto: Oliver Thie.


[1] Julian Klein, Was ist künstlerische Forschung?, Kunsttexte.de 2011, S. 1.

[2] Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken, Köln 1977, S. 37–38.

[3] Barbara Wittman, Morphologische Erkundungen. Zeichnen am Mikroskop, in: Hrsg. Matthias Bruhn und Gerhard Scholtz, Bildwelten des Wissens, Band 9.2, Berlin 2013, S. 45–54, hier S. 45.

[4] Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle, Wie kann Forschung künstlerisch sein?, in: Hrsg. Martin Tröndle und Julia Warmers, Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld 2012, S. 139-146, hier S. 145–146.

[5] Barbara Wittman, Morphologische Erkundungen. Zeichnen am Mikroskop, in: Hrsg. Matthias Bruhn und Gerhard Scholtz, Bildwelten des Wissens, Band 9.2, Berlin 2013, S. 45–54, hier S. 45.

[6] Vergleiche hierzu: https://wissenschaft-kunst.de/oliver-thie-forschendes-zeichnen-teil-i/

[7] Ich beabsichtige keine allgemeine Theorie künstlerischer Forschung zu formulieren, sondern stelle nur meine eigene Position dar und schreibe meine Arbeit diesem Feld einer bestimmten Kunstrichtung zu. Zusätzlich verweise ich auf die Definition für wissenschaftsbezogene Kunst, wie sie Peter Tepe vorschlägt: „Wissenschaftsbezogene Kunst liegt vor, wenn eine Künstlerin oder ein Künstler im Arbeitsprozess auf Theorien und/oder Methoden und/oder Ergebnisse dieser oder jener Wissenschaft zurückgreift.“ Siehe: https://wissenschaft-kunst.de/fruehe-verbindungen-zwischen-wissenschaft-und-bildender-kunst/

[8] Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle, Wie kann Forschung künstlerisch sein?, in: Hrsg. Martin Tröndle und Julia Warmers, Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld 2012, S. 139–146, hier S. 146.

[9] Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung, Wien 2011, S. 35.

[10] Wilhelm Genazino, Der gedehnte Blick, München 2004, S. 42–43.

[11] Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M. 1984, S. 42.

Zitierweise

Julia Frese (2024): Zeichnerische Forschung. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d19239

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