Text: Fernand Hörner | Bereich: Kunstbezogene Wissenschaft
Übersicht: Dieser Beitrag fragt aus Perspektive der Wissenschaft, wie man wissenschaftliche Erkenntnisprozesse durch künstlerische Verfahren bzw. Methoden bereichern kann. Es wird skizziert, wie künstlerische Forschung (neben Verfahren der bildenden Kunst auch Performance, Literatur und nicht zuletzt Musik) im Rahmen einer Methodentriangulation angewendet werden können, sodass die künstlerische Forschung andere Verfahren der Erkenntnisgewinnung flankiert und ergänzt. Der Beobachtung zweiter und dritter Ordnung kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Beiträge zur Theorie der künstlerischen Forschung stammen bislang hauptsächlich aus einer Bewegung von der Kunst hin zur Wissenschaft. Mein Ansatz ist umgekehrt: Ich gehe als Wissenschaftler von der Frage aus, wie man wissenschaftliche Erkenntnisprozesse durch künstlerische Verfahren bzw. Methoden bereichern kann. In meiner Lehre an der Hochschule Düsseldorf, insbesondere im Masterstudiengang Kultur, Ästhetik, Medien, vermittle ich den Studierenden solche Methoden und rege sie zu deren Anwendung an. Dabei geht es nicht nur um Verfahren der bildenden Kunst – auch Performance, Literatur und nicht zuletzt Musik werden als künstlerische Verfahren angesehen. Künstlerische Forschung wird dabei meistens im Rahmen einer Methodentriangulation angewendet, d.h., sie steht neben anderen Verfahren der Erkenntnisgewinnung, die sich gegenseitig flankieren und ergänzen. Der Selbstreflexion der Studierenden als angehende Wissenschaftler*innen und Künstler*innen kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Frage 1:
Beschreiben Sie diejenigen Methoden, die Sie als Methoden der künstlerischen Forschung begreifen. Geben Sie dabei auch Beispiele.
Künstlerische Forschung ist ein Verfahren, das von einem wechselseitig befruchtenden Zusammenspiel von Sprache und Ästhetik ausgeht. Sie wendet dabei wissenschaftliche Verfahren an wie Archivieren, Synthetisieren, Neu-Kontextualisieren, Experimentieren, Interpretieren. Künstlerische Tätigkeit ist dabei nicht per se künstlerische Forschung, sondern muss Qualitätskriterien erfüllen (u.a. Recherche, Kenntnis des Forschungsstandes, Formulierung und Beantwortung einer Forschungsfrage), die auch für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn relevant sind.
Ich wähle zur Verdeutlichung ein Beispiel. Ein nichtportugiesischer Musiker unternimmt den Versuch, portugiesischen Fado zu komponieren und mit einer Band aufzuführen; vom Fado sagt man, er sei nur durch das typisch portugiesische Lebensgefühl des saudade möglich, das sich nicht in Worten beschreiben lasse und gelebt werden müsse. Ein solcher künstlerischer Versuch in Komposition und Aufführung ermöglicht durch Selbstbeobachtung und Selbstreflexion ein tiefergehendes Verständnis etwa des Zusammenspiels von Selbst- und Fremdbild. Da ich Selbstbeobachtung und Selbstreflexion als Standardverfahren der künstlerischen Forschung betrachte, kann man sagen: Die Stereotypenforschung befasst sich empirisch und theoretisch mit Bildern, die man sich von den anderen macht; die künstlerische Forschung, wie ich sie verstehe, fügt dem durch Selbstbeobachtung und Selbstreflexion weitere Facetten hinzu.
Mein Ausgangspunkt ist die konstruktivistische Grundannahme, dass die Beobachtung das Beobachtete verändert. Wenn man Künstler*innen, systemtheoretisch gesprochen, als Beobachter*innen zweiter Ordnung auffasst, die die Beobachtung beobachten, so könnte man künstlerische Forschung als eine Beobachtung dritter Ordnung auffassen, welche die eigene Beobachtung der Beobachtung noch einmal beobachtet. So kann die subjektive künstlerische Wahrnehmung intersubjektiv beschrieben werden.
Frage 2:
Worin unterscheiden sich diejenigen Wissenschaftler, welche die Methodologie der künstlerischen Forschung anwenden, von den anderen Wissenschaftlern?
Die künstlerische Forschung ist bestrebt, sich als wissenschaftliche Forschung künstlerischer Art zu etablieren. Kunst- und Wissenschaftsbetrieb zeichnet die Tendenz aus, sich einerseits zu spezialisieren, andererseits jedem zugänglich zu sein. Joseph Beuys‘ These, jeder Mensch sei ein Künstler, entspricht der Versuch, Artistic Research als das Forschen aller zu propagieren. Die teils ironische Schlussfolgerung „Wenn alle forschen, forscht keiner“[1] lässt sich sicherlich auch auf die Kunst rückübertragen. Denn beide Bereiche, Kunst und Wissenschaft, haben zweifelsohne auf der anderen Seite eine lange Institutionalisierung hinter sich, verleihen – in den Worten Bourdieus – institutionalisiertes kulturelles Kapital in Form von Hochschulabschlüssen, Promotionen etc., errichten dafür Zugangshürden und erzeugen Felder, auf denen dieses Kapital seine Wirksamkeit entwickeln kann. Diese Legitimationsinstanzen, die den Übergang vom Forschen aller zur wissenschaftlichen Aktivität markieren, werde ich bei Frage 4 skizzieren. Hier soll nur die Frage beantwortet werden, ob es bereits formale Kriterien gibt, um von künstlerischer Forschung als Wissenschaftsdisziplin zu sprechen. Diese Antworten sollen nicht nur den Status Quo abbilden, sondern vor allem skizzieren, was der künstlerischen Forschung auf dem (möglichen, aber langen) Weg zu einer Wissenschaftsdisziplin noch fehlt.
Zunächst einmal muss geklärt werden, worin künstlerische Forschung anderen Wissenschaften ähnelt, also welche Kriterien für wissenschaftliches Arbeiten sie erfüllt. Vor jedem Erkenntnisgewinn steht ein klar formuliertes Erkenntnisinteresse, also eine Frage. Wenn die Forschung auf wohlkonstruierte Fragestellungen nach Antworten sucht und die Kunst andersherum Antworten liefert, deren Fragen man rekonstruieren muss, muss die künstlerische Forschung auch die Frage nach dem Verhältnis von Frage und Antwort beantworten. Die künstlerische Forschung vereint geistig-rationales und körperlich-performatives Wissen, und die Versprachlichung ist Voraussetzung für ihre Verwissenschaftlichung. Deswegen könnte man sagen, dass die künstlerische Forschung auf eine Frage zwei Antworten gibt, eine künstlerische und eine sprachliche (wobei man natürlich auch künstlerisch mit Sprache umgehen kann; dann gibt es eine literarische/poetische und eine wissenschaftssprachliche Antwort).
Natürlich können Ergebnisse der künstlerischen Forschung auch in einem nicht (bzw. nicht primär) sprachlichen Medium wie z.B. einer Ausstellung veröffentlicht werden. Und natürlich stellen der orale Wissenstransfer und performatives Wissen Alternativen zur Wissenschaft als Schriftkultur dar. Aber die große Aufgabe der künstlerischen Forschung bleibt die Übersetzung vom Oralen/Ästhetischen ins Literale, von Wissen in künstlerische Sprache und jeweils umgekehrt. Die künstlerische Forschung arbeitet hauptberuflich als Übersetzerin.
Wenn künstlerische Forschung wissenschaftliche Kriterien erfüllt, so muss sie auch den Stand der Dinge berücksichtigen: den wissenschaftlichen Erkenntnisstand (ich kann das Rad nicht neu erfinden), den Stand der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema sowie vor allem den Stand der künstlerischen Forschung über das Thema. Geht man davon aus, dass es sich um individuelle Herangehensweisen handelt, so müssen eben auch verwandte Fragestellungen berücksichtigt werden. Dies setzt voraus, dass die Ergebnisse der künstlerischen Forschung zur Kenntnis genommen, veröffentlicht, herausgegeben, archiviert (mehr dazu weiter unten) und evaluiert werden.[2]
Fragenkomplex 3:
a) Von welchen anderen Konzepten grenzt sich Ihre Methodologie der künstlerischen Forschung ab?
b) Welches sind die Hauptfehler dieser konkurrierenden Methodologien, die Sie vermeiden wollen? Welches sind die Hauptargumente, die gegen diese Konzepte sprechen?
Der zu vermeidende Fehler besteht hauptsächlich darin, sich in einem rein subjektiven, künstlerisch legitimierten Dunstkreis zu bewegen, ohne dass ein Anspruch auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit oder die Möglichkeit zur Verallgemeinerung besteht. Deswegen muss die Übernahme von Regeln der Wissenschaft ergebnisorientiert, prozessorientiert, dynamisch, aber auch zwanglos erfolgen: So regelgetreu wie nötig und so frei wie möglich. Das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sind formal und material nachvollziehbare Aussagen. Dieses Grundprinzip muss auch die künstlerische Forschung verfolgen. Das bedeutet im Einzelnen:
- Die selbst auferlegten wissenschaftlichen Regeln werden thematisiert. Am Beispiel Fado: Das Versuchssetting wird genau beschrieben, am besten so, dass es unter ähnlichen Voraussetzungen wiederholbar wäre.
- Falsifizierbare Aussagen werden von subjektiven Eindrücken unterschieden. Am Beispiel Fado: Das subjektive Gefühl, dass das eigene Fado-Konzert gut ankommt, ist keine Aussage, die man als wahr oder falsch bezeichnen kann. Wohl aber Angaben zum Besucherandrang, zur Verweildauer etc. im Vergleich zu ähnlichen Konzerten.
- Materielle Nachvollziehbarkeit wird durch wissenschaftliche Standards gewährleistet. Empirische Daten, z.B. in Form einer Befragung der Teilnehmenden, deren Auswertungsmöglichkeiten aber auch kritisch reflektiert werden, belegen die Thesen. Literaturbelege machen die Aussagen überprüfbar.
- Formale Nachvollziehbarkeit wird durch Logik und Beschreibung der einzelnen Schritte gewährleistet. Logik ist die Kunst, aus für wahr erachteten Aussagen andere Aussagen abzuleiten. Hierbei gibt es in der Wissenschaft nur drei zulässige Verfahren: Die Induktion stellt aus Beobachtungen Regeln auf, die Deduktion prüft bestehende Regeln durch Anwendung auf neue Einzelfälle. Schließlich existiert die Abduktion als Kombination beider Verfahren. Am Anfang steht hier ein überraschendes Ereignis, das die bestehenden Regeln in Frage stellt. Daraus wird auf eine neue Regel und auf neue Einzelfälle geschlossen. Charles Sanders Peirce hat die Abduktion als einziges erkenntniserweiterndes Verfahren bezeichnet und selbst auch angewendet.[3] Die künstlerische Forschung geht oft abduktiv vor, sollte diese Verfahrensweise aber offen reflektieren.
Fragenkomplex 4:
a) Mit welchen anderen Methodologien steht Ihre Methodologie der künstlerischen Forschung in einem Verwandtschaftsverhältnis?
b) Welche Thesen und Argumente dieser Methodologien halten Sie für richtig?
Mein Ausgangspunkt ist die Diskursanalyse Michel Foucaults. Foucault zufolge entsteht Wissen dadurch, dass es durch eine diskursive Praxis geformt wird, und diese diskursive Praxis wiederum zeichnet sich durch bestimmte Formationsregeln aus, die sich nach und nach vereinheitlichen und es ermöglichen zu beschreiben, wie der Wissenschaftsdiskurs seinen Untersuchungsgegenstand umreißt, seine Äußerungen institutionalisiert, Begriffe und Strategien entwickelt. Mein Ansatz ist dabei von einer gewissen Strenge geprägt, da es ohne Strenge keine (wissenschaftliche) Disziplin(ierung) geben kann. Für die Definition von Wissenschaft orientiert sich diese Disziplinierung an dem epistemologischen Ansatz, wie ihn Foucault in Die Ordnung der Dinge und Archäologie des Wissens beschrieben hat.
Als grundlegende Formationsregel betrachtet Foucault, wie ein Wissenschaftsdiskurs seinen Untersuchungsgegenstand konstituiert. Dabei geht er von der Annahme aus, dass ein Diskurs die Objekte, von denen er spricht, zunächst und allererst erzeugt. Am Beispiel der Medizin verdeutlicht er: Leute mit unterschiedlichem Verhalten gibt es schon vor der Ausbildung des medizinischen Diskurses, aber erst dieser erklärt manche von diesen Leuten zu Wahnsinnigen. Auf ähnliche Weise verfahren die in Die Ordnung der Dinge analysierten Wissenschaften der Ökonomie, Biologie und Grammatik, die den Menschen als ein Wesen, das arbeitet, lebt und spricht, erschaffen. Die Moderne, so Foucault, zeichnet ein besonderes Bild des Menschen, das trotz aller negativen Erfahrungen über menschliches Verhalten immer wieder von humanistischen Idealen überlagert wird. Über diese Doublette trifft Foucault die vieldiskutierte Aussage, diese könne wieder verschwinden, wie ein in den Sand gezeichnetes Gesicht am Meeresufer. [4]
Wie aber formiert die künstlerische Forschung ihren Untersuchungsgegenstand? Um diese Frage zu beantworten, wäre zunächst einmal zu klären, was der Untersuchungsgegenstand der künstlerischen Forschung überhaupt ist. Bislang ist die künstlerische Forschung diejenige Wissenschaftsdisziplin, welche am meisten Schwierigkeiten hat, ihren Untersuchungsgegenstand einzugrenzen.
Als weitere Formationsregel beschreibt Foucault, welche Begriffe und Konzepte die wissenschaftlichen diskursiven Formationen verwenden oder umdeuten, wie zum Beispiel den Begriff der Gattung in der Biologie. Welche Begriffe verwendet die künstlerische Forschung? Sie setzt sich zuerst mit dem Begriff der Forschung, speziell dem der künstlerischen Forschung und also mit sich selbst auseinander. Dabei gelangt sie allerdings kaum zu einem Konsens. Künstlerische Forschung wird mal als Wissenschaftstheorie, mal als eine künstlerische Praxis, mal als eine pädagogische Methode verstanden. Dies zeigt, dass das Feld der künstlerischen Forschung offensichtlich nicht konfliktfrei verhandelt werden kann.[5] Andererseits sollte diese Verhandlung nicht zum Selbstzweck werden, sondern das Prinzip der Selbstreflexion eher auf Basis der Methode der künstlerischen Forschung angewendet werden.
Frage 5:
In welchem Verhältnis steht Ihre Methodologie der künstlerischen Forschung zum Bologna-Prozess?
Die künstlerische Forschung macht sich den (wissenschaftlich belegten) Flow-Zustand zunutze: einen Tätigkeitsrausch, die völlige Konzentration auf und Absorption in das, was man tut. Nicht nur beim Rappen und nicht nur im künstlerischen Vorgehen, auch in der sprachlichen Verdichtung sollte dies der anzustrebende Aggregatzustand im laufenden Prozess sein. Ob hier der Bologna-Prozess mit seiner extremen Modularisierung förderlich ist, sei dahingestellt.
Fragenkomplex 6:
a) In welchem Verhältnis steht Ihre Methodologie der künstlerischen Forschung zu denjenigen Künstlern, welche sich dieser Richtung zuordnen: Soll eine Begründung für diese Kunstrichtung oder für einige ihrer Varianten geliefert werden?
b) Im positiven Fall: Beruht diese Begründung auf bestimmten normativen Prämissen und wenn ja, auf welchen?
Nein, meine – leicht ins Utopische kippende – Skizzierung strebt keine Begründung für eine bestimmte Kunstrichtung an.
Beitragsbild über dem Text: Fernand Hörner. Foto: Eib Eibeshäuser.
[1] Ulrike Bergermann: Occupy Wissen. Institutionalisierungsfragen zur „Forschung aller“. In: Sibylle Peters (Hrsg.): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Bielefeld 2014, S. 239–255, hier S. 245.
[2] Da eine Programmatik der künstlerischen Forschung ebenso die Kenntnisse anderer Programmatiken voraussetzt, sei insbesondere auf folgenden Aufsatz verwiesen: Florian Dombois: Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen. In: Hochschule der Künste Bern HKB (Hrsg.): HKB 2006. Bern 2006, S. 21–29.
[3] Charles Sanders Peirce: Guessing. In: The Hound and Horn 2 (1929), S. 267–285.
[4] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 2009, S. 462.
[5] Sven Beckstette, Tom Holert, Jenni Tischer: Vorwort. In: Texte zur Kunst: Artistic Research. Heft Nr. 82, Juni 2011: https://www.textezurkunst.de/82/vorwort_82/.
Zitierweise
Fernand Hörner (2021): Fragen an die Künstlerische Forschung: Fernand Hörner. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d14943
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