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Botanische Fiktionen 1: Das Herbarium als künstlerisches Medium

Text: Lena Geuer | Bereich: Biologie und Kunst

Übersicht: Die hier thematisierten Arbeiten des kubanischen Künstlers Yornel Martínez wurden im Rahmen der Ausstellung Pflanzen und Meteoriten: kosmobotanische Fiktionen vom 9. März bis zum 30. April 2023 in der Fakultät für Biologie der TU Dresden gezeigt. Das Ausstellungsprojekt entstand in einer interdisziplinären Kooperation zwischen dem Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, der Kustodie der TU Dresden und der Fakultät für Biologie. Der zweiteilige Beitrag untersucht darauf aufbauend die Bedeutung von Pflanzen in Martinez‘ Arbeiten. In Teil 1 wird die Werkreihe Jardín imaginario (imaginärer Garten) diskutiert. 

„Wie eine Pflanze war sie, ruhig, kühl und still; wie eine sich bewegende Pflanze. Ich war ihre ganze Heimat, ihr ganzer Raum, ihre ganze Welt. Sie hatte immer mit mir gelebt. In mir war sie gewachsen, und mehr als in mir, aus mir […]. Meine Blumen schienen sie zu erkennen […].“ (Dulce María Loynaz 1993 [1951], Üb. d. Vf.).[1] 

Im Rahmen seines künstlerischen Projekts Jardín imaginario, welches 2018 begann und bis heute andauert, hat Yornel Martínez ein poetisches Herbarium angelegt. Von Nutzpflanzen wie Kräutern über größere Sträucher und Bäume bis hin zu duftenden Zierpflanzen setzt sich das Pflanzenregister aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gewächse zusammen. Die Herbarbelege aus dem Jahr 2020 zeigen Blätter, Blüten, Stiele und teilweise auch die Samen der Pflanzen. Alle Belege sind mit dem Stempel „Ejemplar de Herbario. Jardín imaginario“, also „Herbarexemplar. Imaginärer Garten“ versehen und bestätigen beziehungsweise ironisieren dadurch ihren archivischen Charakter. Im unteren rechten Bildraum werden auf einem vorgefertigten Etikett Pflanzenname, Fundort, Datum und Sammler*in angegeben sowie literarische Referenzen handschriftlich notiert (Abb. 1–3): Es sind Zitate, welche dem Roman Jardín (1993) der kubanischen Schriftstellerin und Lyrikerin Dulce María Loynaz entnommen sind. Er erschien zuerst 1951 und erzählt die Geschichte einer Frau und ihres Gartens in Havanna. Die Auszüge klären die Besonderheit des Herbariums des Künstlers. Denn das literarische Werk diente Martínez als Ausgangspunkt für seine künstlerische Auseinandersetzung mit Pflanzen sowie mit dem Garten als einem Raum für kollektive Praktiken. 

Der im Buch verhandelte Garten existierte auch im realen Leben der Schriftstellerin. Er grenzte unmittelbar an ihr Wohnhaus, welches sich im bürgerlichen Viertel El Vedado in Havanna befindet. Durch ihr Alter-Ego Bárbara erzählt die Autorin im Roman auch ihre eigene Geschichte.  Loynaz wurde 1902 geboren und starb 1997. Als junge Witwe und alleinstehende Frau auf Kuba erlebte sie das gesamte 20. Jahrhundert samt all seinen historischen Wandlungen. Sie verfasste den Roman von 1928 bis 1935 in einem langjährigen Schreibprozess. Erst 1951 wurde das Buch in Spanien veröffentlicht. In der Erzählung werden Haus und Garten zu einem Rückzugsort, von dem aus Bárbara die Welt betrachtet. Neben ihrer eigenen Familiengeschichte erzählt sie die Geschichte der Pflanzen, die in ihrem Garten wachsen. Durch die Pflanzen wird eine andere Perspektive auf menschliche Welt- und Wert-Konstrukte eingenommen. Sie werden insgeheim zu den Protagonistinnen des Romans und beeinflussen nachhaltig das Leben der Erzählerin. Dieser Perspektivwechsel von der menschlichen hin zur pflanzlichen Wahrnehmung samt seinen ästhetisch-politischen Konsequenzen wird im Folgenden anhand der künstlerischen Arbeit von Martínez näher erörtert. 

Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Flamboyant/Flammenbaum, Johannisbrotgewächse) (2020). Foto: Yornel Martínez.
Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Flamboyant/Flammenbaum, Johannisbrotgewächse) (2020). Foto: Yornel Martínez.
Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Adelfa/ Oleander) (2020). Foto: Yornel Martínez.
Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Adelfa/ Oleander) (2020). Foto: Yornel Martínez.

Die zitierten Passagen aus Loynaz’ Roman – etwa über Rosen, Oleander, Jasmin, Rosmarin, See-Kiefer und Farne – illustrieren die vielfältigen Bedeutungen und Anwendungen der Pflanzen. Neben Mineralien und anderen organischen Stoffen liefern Pflanzen durch ihre besondere Substanz nicht nur ein grundlegendes Material für Malerei, etwa Farbpigmente, vielmehr erzeugen sie selbst eine leuchtende Farbquelle. Darüber hinaus berichtet Loynaz vom Duft der Pflanzen, von ihrem einerseits toxischen, andererseits auch heilenden Saft. Während See-Kiefern eine kurierende Wirkung haben, sei Oleandersaft giftig: „Einige sagen, sie sei mit Oleandersaft vergiftet worden“ (37), heißt es im Roman.

Martínez notiert das kurze Zitat – „Unos dicen que la envenaron con zumo de adelfas“ (Abb. 2) – unmittelbar neben der getrockneten Oleanderpflanze und verbindet damit die botanische Eigenschaft mit der literarischen Geschichte. Dadurch wird das fiktive Potenzial aus der Erzählung auf eine naturwissenschaftliche Praxis übertragen; Fakt und Fiktion vermischen sich. Die Mischung ruft unmittelbar die Frage nach der Beziehung zwischen menschlichen und pflanzlichen Wesen hervor und stellt damit zugleich die menschliche Vorherrschaft infrage. Darüber hinaus untersucht die Arbeit die Zusammenhänge zwischen Fiktion und Realität, beziehungsweise zwischen Kunst und Naturwissenschaft. 

Die verschiedenen Anwendungsgebiete und die Wirkkraft von Pflanzen – vom Gift zur Medizin über Rauschmittel, Schmuck und Gabe bis zur Nahrung und Kleidung – deuten schließlich auf ambivalente und zugleich auch mannigfaltige Relationen zwischen Pflanzen und Menschen hin. Nicht zu vergessen ist ihre Schönheit, ihre Perfektion in Form und Farbe sowie auch ihre zarte Vergänglichkeit, die Pflanzen ein eigenes Zeitgefühl verleiht. Bei genauerem Betrachten der Zitate auf den Herbarbelegen wird deutlich, dass Pflanzen aus dem menschlichen Leben kaum auszuschließen sind, dass sie vielmehr von Anfang an in grundlegende identitätsbildende Strukturen und Praktiken des Lebens eingebunden sind: Verweise auf Körper- und Zeitlichkeit, auf Nahrung und die Verbindung zwischen Flora und Fauna wie auch das durch Pflanzen bedingte Wohnen, sich Fortbewegen und Beheimatet-Sein in der Welt heben die verschiedenen und unverzichtbaren Eigenschaften von Pflanzen hervor. Doch ist das menschliche Bedingtsein durch Pflanzen weniger von Ehrfurcht als von Ausbeutung und Machtmissbrauch geprägt. Mit der europäischen Kolonialgeschichte beginnt die größte, systematische Ausbeutungsgeschichte sowohl natürlicher als auch sozialer Ressourcen. Hierunter muss auch die Ausbeutung und Kommerzialisierung von Pflanzen gezählt werden. Die Entstehung von Herbarien spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. Denn mit der Übertragung von natürlichen Vorkommnissen in ein sprachliches und visuelles Medium entsteht die Basis für eine Wissenskultur von Pflanzen.[2] Dieses Wissen kann, wie beispielsweise die ersten angelegten Kräuterbücher belegen, bis heute für medizinische Zwecke eingesetzt werden und Auskunft über Heilpflanzen geben. Durch die Anfertigung von Herbarien verfolgen Botaniker*innen jedoch über die Untersuchung von pflanzlichen Eigenschaften hinaus eine wissenschaftliche Kategorisierung, die sogenannte Systematik: Pflanzen werden untersucht, um sie erstens einer Gattung (Taxonomie) zuordnen und sie zweitens benennen (Nomenklatur) zu können (vgl. Kranz 2020). Die eigentliche Geschichte der Herbarien beginnt im 16. Jahrhundert in Europa. Durch die Kolonien breitet sich die botanische Forschung im 18. und 19. Jahrhundert rasant auf dem gesamten Globus aus. So bereiste etwa Alexander von Humboldt für seine Forschungen von 1799 bis 1804 die Länder Mittel- und Südamerikas. Er teilte das Erscheinungsbild der Pflanzen in achtzehn Vegetationsformen ein und berücksichtigte hierbei die jeweiligen Klimazonen von Pflanzen. Damit wurde Humboldt zum Begründer der Pflanzengeographie (Hurka/Neuffer 2011).

Die weltweite Erforschung der Pflanzenwelt schafft durch die Generierung von Wissenssystemen zugleich auch neue Wertesysteme, die wiederum für ökonomische Zwecke eingesetzt werden. In diesem Sinne weisen Bühler und Rieger darauf hin, dass die

„Wissensproduktionen über die Pflanze […] sich von vornherein niemals allein auf dem Feld der wissenschaftlichen Botanik [bewegt]. Das Wuchern der Pflanzen ist immer zugleich auch ein Wuchern des Wissens, ob auf dem Feld der Taxonomie, Morphologie, Physiologie, Naturgeschichte, Medizin, Psychologie, Kommunikationstheorie, Ökonomie, Politik, Anthropologie, Philosophie, Technik oder gar der Unterhaltungsindustrie.“ (Bühler/Rieger 2009: 12)

Die in den ehemaligen Kolonialländern entstandenen Monokulturen, etwa Plantagen von Tabak-, Bananen-, Kaffee- oder den kubanischen Kontext so prägenden Zuckerrohrpflanzen, verdeutlichen vor diesem Hintergrund die komplexen Zusammenhänge einer epistemischen, ökonomischen und geopolitischen Geschichte der Pflanzen. Wie Martínez durch sein literarisches Herbarium jedoch zeigt, sortieren, strukturieren und definieren Pflanzen das menschliche Leben in derselben Art und Weise, wie Botaniker*innen[3] mit den ersten Herbarien den Versuch machten, das Wissen über die Pflanzenwelt zu ordnen, zu erforschen und zu archivieren. Im Medium des Herbariums drückt sich demnach auch jene Wechselbeziehung zwischen Pflanzen und Menschen aus. 

Was hat es also mit dem Herbarium genau auf sich? Die Biolog*innen Barbara Neuffer und Herbert Hurka verstehen unter einem Herbarium „eine Sammlung von getrockneten und zwischen Papierbögen gepressten und aufbewahrten Pflanzen, die für wissenschaftliche Zwecke erstellt wird“  (Hurka/Neuffer 2011: 142). Herbarien konnten erst dann umfangreich angelegt werden, als mit der Erfindung des Buchdrucks auch die Papierherstellung anstieg und das Material dadurch erschwinglicher wurde (vgl. ebd.). Aus diesem Grund geht der Entstehungsgeschichte der Herbarien bereits eine wirtschaftliche Produktionsgeschichte von Pflanzen voraus; und zwar die Verarbeitung pflanzlicher Fasern zu Papier. Heute werden Herbarien als bedeutende Archivmaterialien herangezogen, um die Biodiversität sowie die durch den Klimawandel provozierten Floraveränderungen zu erforschen. Darüber hinaus sind mit der technischen Entwicklung in der Molekularbiologie Herbarien seit den 1990er Jahren zu bedeutenden DNA-Archiven geworden (vgl. ebd.: 158).

Auch wenn sich Martínez in seiner künstlerischen Methodik an botanischen Vorgehensweisen orientierte und für die Erstellung seines Herbariums den Botaniker Alejandro Palmarolla konsultierte, unterscheidet sich sein Herbarium wesentlich von den naturwissenschaftlichen. Statt auf wissenschaftliche Erkenntnisse ausgerichtet zu sein, resultieren seine Pflanzenstudien aus einem künstlerischen Projekt und begründen sich demnach in einem ästhetischen Interesse. Das Herbarium des Künstlers ist in keinem offiziellen Verzeichnis registriert.[4] Es gliedert sich damit auch nicht in die internationalen, stark westlich dominierten Infra- und Forschungsstrukturen der Wissenschaft ein.[5]

Trotz der dargelegten Differenzen gibt es in der Erstellung eines Herbariums auch Momente, in denen sich naturwissenschaftliche mit poetologischen Verfahren mischen. Gemeint ist das Moment der Sprache, in der Pflanzen beschrieben und auch benannt werden. Wie die Literaturwissenschaftlerin Isabel Kranz hervorhebt, beinhaltet die Nomenklatur, also die Namensgebung der Pflanzen, stets auch ein poetisches Moment (vgl. 2020): Auch aus dieser Perspektive lassen sich zwischen Loynaz‘ Roman Jardín und Martinez‘ künstlerischer Arbeit Verbindungen finden, die allesamt auf botanischen Fiktionen beruhen. Im Herbarium von Martínez ist durch seinen Rückgriff auf den Roman die poetische Sprachpraxis von Anfang an miteingeflochten. Da sich sein Herbarium nicht nur mit der spanischen und lateinischen Sprache befasst, sondern auch afrokubanische Pflanzennamen miteinschließt, werden neben verschiedenen Sprachformen insbesondere auch unterschiedliche Kulturformen wie das Afrokubanische verhandelt. Das Herbarium von Martínez eröffnet daher eine transkulturelle Perspektive auf die Bild- und Sprachgeschichte von Pflanzen. In seine Forschungen hat der Künstler auch Fidel Hechavarria miteinbezogen, der Experte für die afrokubanische Heilpflanzenkunde ist. In diesem Zusammenhang darf ein weiteres literarisches Werk, welches sich mit der afrokubanischen Pflanzenkultur befasst, nicht unerwähnt bleiben: In ihrem 1954 verfassten Buch El Monte widmet sich die kubanische Schriftstellerin und Anthropologin Lydia Cabrera der afrokubanischen Kultur und hängt ihrer ausführlichen Studie ein Pflanzenregister an. Dabei wird nicht nur die medizinische Qualität der Pflanzen berücksichtigt, sondern auch ihre spirituelle Bedeutung in Form von ausführlichen Kommentaren zu den Vorlieben und Gaben der Orishas[6] dargelegt. Einigen Pflanzenbeschreibungen folgen fiktive Geschichten, welche auf die afrokubanische Religion zurückführen. 

Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Yagruma/Ameisenbaum) (2020). Foto: Yornel Martínez.
Yornel Martínez: Jardín imaginario/Herbarium (Yagruma/Ameisenbaum) (2020). Foto: Yornel Martínez.

Dies kann am Beispiel der Yagruma-Pflanze (lat. Cecropia peltata) erläutert werden. Yagruma ist die vernakuläre – also vor Ort historisch herausgebildete – Bezeichnung im Spanischen. Cecropia peltata bezeichnet im Lateinischen die 1759 von Carl von Linné benannte Gattung Cecropia. Diese umfasst ungefähr fünfundsechzig bis dreiundachtzig Arten – eine davon ist peltata. Carl von Linné hat die Gattung der Familie der Cecropiaceae (Ameisenbaumgewächse) zugeordnet (Hortpedia 2023). Dieser gängigen europäischen Taxonomie folgt in Cabreras Pflanzenkunde nun die afrikanische Namensgebung sowie ihre Einordnung in rituelle und medizinische Praktiken. Sie benennt die Pflanzen auf Lukumi (Lucumí) und auf Habla Congo, letztere liturgische Sprache ist vermutlich den Bantusprachen und damit den Niger-Kongo-Sprachen zuzurechnen. Lukumi ist ein Dialekt des westafrikanischen Volkes Yoruba, dessen Angehörige unter der Kolonialherrschaft versklavt und unter anderem nach Kuba verschleppt wurden. Die Yagruma-Pflanze wird auf Lukumi mit Iggi, Oggugú und Láro übersetzt. Die Übersetzung ins Congo lautet Matitit sowie Kandólao, Moratafo und Feniliyé. Die letzten drei Begriffe erfuhr Cabrera von einem Yerbero, einem Medizinmann und Heiler aus Havanna (vgl. Cabrera 1993: 523).

Loynaz (1903–1997) und Lydia Cabrera (1899–1991) waren Zeitgenossinnen. Die Kubanerinnen gehörten einer privilegierten, weißen Oberschicht an. In ihren Büchern Jardín und El Monte, die fast zeitgleich in den 1950er Jahren erschienen, widmen sie sich einer kubanischen Pflanzengeschichte. Doch der Ausgangspunkt ihrer Bücher zeugt von wesentlichen Differenzen. Während sich Loynaz mit der Realität des Gartens auseinandersetzt und sich damit in einem kultivierten, abgegrenzten und privaten Raum situiert, bezieht sich Cabrera auf den natürlichen, freien und öffentlichen Raum des Waldes.[7] In dieser Setzung manifestieren sich unterschiedliche politische Parameter, die auf verschiedene kulturelle Narrative Bezug nehmen. In Loynaz’ Roman wird die Geschichte eines weißen Subjekts – Bárbara – erzählt, welches auf den ersten Blick von ihrer Umgebung isoliert existiert. Bárbaras ganze Heimat ist, wie am oben angeführten Zitat expliziert, der Garten. Cabrera hingegen fokussiert die afrokubanische Kultur und Religion, deren Glauben und Wertevorstellungen im Monte begründet sind: „Los santos están más en el monte que en el cielo“ (Cabrera 1993 [1954]: 17).[8] So erzählt auch Cabrera – ganz im Sinne von Fernando Ortíz – eine transkulturelle Geschichte der Pflanzen.[9] Sowohl Loynaz als auch Cabrera lassen Pflanzen auf verschiedene Art und Weise sprechen. Sie bekräftigen damit ihren hybriden und vielfältigen Charakter. 

Ausgehend von Martínez’ Herbarium, welches kubanische Pflanzen aus dem 21. Jahrhundert visuell und poetisch dokumentiert und archiviert, werden die Pflanzen-Erzählungen aus dem 20. Jahrhundert nun in eine neue Zeitlichkeit übertragen. Diese stellt im Kontext des Klimawandels die Pflanzenwelt vor neue ökologische Herausforderungen. Jedoch verfügen Pflanzensamen über eine ganz eigene Zeitform, da sie sich über Jahrhunderte hinweg konservieren und je nach klimatischer Bedingung zu jeder Zeit erneut aufkeimen können.[10] Für ein tieferes Verständnis von Pflanzen in der Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte Kubas müssen demnach sowohl transkulturelle Erzähl- und Kulturformen – Jardín und Monte – als auch den Pflanzen ‚eigene‘ Zeit- und Raumkonzepte berücksichtigt werden. 

Im Rahmen seiner partizipativen Aktion Siembra (Aussaat) besuchte Martínez im Jahr 2019 mit einer Gruppe von Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Umweltaktivist*innen den inzwischen verwahrlosten Garten von Loynaz.[11]  

Siembra comunal: Garten von Dulce María Loynaz, Havanna (2019). Foto: Irving Alfaro. 
Siembra comunal: Garten von Dulce María Loynaz, Havanna (2019). Foto: Irving Alfaro. 
Siembra comunal: Garten von Dulce María Loynaz, Havanna (2019). Foto: Irving Alfaro. 
Siembra comunal: Garten von Dulce María Loynaz, Havanna (2019). Foto: Irving Alfaro. 

Gemeinsam pflanzten sie die im Roman als Jardín benannten Pflanzensorten erneut an. Durch diese Aktion wurde Loynaz’ Garten  zu einem kollektiven, öffentlichen und politischen Projekt, in welchem Pflanzen ein besonderer Wert sowie eine neue Sichtbarkeit verliehen wurde. In Kooperation mit den Architekt*innen Lizbett Villegas und Orlando Inclán plant Martínez den zukünftigen Umbau der Villa Loynaz zu einem öffentlichen Kulturzentrum.

Literaturverzeichnis

Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan (2009). Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens. Frankfurt a. M.

Cabrera, Lydia (1993 [1954]). El Monte. Havanna.

Foucault, Michel (1974). Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.

Geuer, Lena (2021). Thinking ‚aesthetics of renunciation‘ through indigenous knowledge. Mogaje Guihu – painting and narrating la selva, Conference: Worldviews – Latin American Art and the Decolonial Turn. Panel: The Poetics of Abya Yala: Towards a Non-Colonial History of Contemporary Art. https://www.youtube.com/watch?v=6IXZ6d8vM34. (27.02.2023).

Hortpedia (2023). Hortpedia. https://de.hortipedia.com/Cecropia_peltata. (20.02.2023).

Hurka, Herbert/Neuffer, Barbara (2011). Geschichte und Bedeutung von Herbarien. https://www.zobodat.at/pdf/Osnabruecker-Naturwiss-Mitt_37_0141-0160.pdf. (19.02.2023).

Kranz, Isabel (2020). Zur Poetik der Pflanzennamen in der Botanik. Carl von Linné. Poetica 50/1-2: 96–118. 

Kravagna, Christian (2017). Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts. Berlin.

Loynaz, Dulce María (1993 [1951]). Jardín: Novela lírica. Havanna.

Paton, Alan/Antonelli, Alexandre/Carine, Marc (2020). Plant and fungal collections. Current status, future perspectives. Plants, People, Planet 2: 499–514. 

Villegas, Lizbett/Inclán, Orlando (2000). Jardín imaginario

https://tu-dresden.de/gsw/phil/ikm/ressourcen/dateien/institut/ausstellungen/Jardin-imaginario.pdf?lang=de. (03.03.2023).

Zeuske, Michael (2007).  Kleine Geschichte Kubas. München.


[1] Im Original „Como una planta era ella, tranquila, fría y silenciosa; como una planta movible. Yo era toda su patria, todo su espacio, todo su mundo. Junto a mi había vivido siempre. En mi había crecido, y más que en mí, de mí […]. Mis flores parecían reconocerla […]“.

[2] In Die Ordnung der Dinge hat der französische Philosoph und Poststrukturalist Michel Foucault die Entstehung von Wissen sowie die Übertragung von Wissenskulturen in Machtstrukturen ausführlich untersucht (vgl. Foucault 1974).

[3] Isabel Kranz verweist auf die Tatsache, dass in der frühen Neuzeit zu Beginn der Botanik viel mehr Botaniker als Botanikerinnen aktiv waren (vgl. 2020: 116). Aus diesem Grund muss in der Entstehungsgeschichte der Herbarien und in der Prägung der botanischen Sprache die dominante männliche Perspektive kritisch mitbedacht werden.

[4] Beispielsweise zählt das Index Herbariorum als offizielles und international anerkanntes Online-Verzeichnis.

[5] Die größten Sammlungen von Herbarien befinden sich laut den Statistiken von Hurka und Neuffer in europäischen und nordamerikanischen Großstädten. Eine Ausnahme bildet die zweitgrößte Sammlung in Sankt Petersburg ( 2011: 147). Auch jüngere Forschungsquellen belegen, dass Europa über die größten Herbar-Archive verfügt (vgl. Paton et al. 2020).

[6] Orishas bezeichnet die Gött*innen in der Religion des westafrikanischen Volkes Yoruba. Durch die Versklavung afrikanischer Menschen haben sich religiöse und kulturelle Praktiken der Yoruba auch auf dem amerikanischen Kontinent verbreitet (vgl. Zeuske 2007: 106ff.).

[7] Da das heutige Konzept von Wald oder forest diesen nicht mehr als Lebensraum begreift, lässt sich „El Monte“ nicht einfach mit „Der Wald“ übersetzten. Monte bezeichnet vielmehr den natürlichen sowie spirituellen Lebensraum, den auch indigene Gemeinschaften nach wie vor als Habitat (Wohnort) begreifen (vgl. Geuer 2021).  

[8] „Die Heiligen befinden sich eher im Wald als im Himmel“ (Üb. d. Vf.). 

[9] Fernando Ortiz war ein kubanischer Schriftsteller und Anthropologe, der mit seiner Forschung das Konzept der Transkulturalität begründete. Zu seinen bekanntesten Werken zählt Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar von 1940. In seinen Überlegungen zur Transmoderne bezieht sich der Kunsthistoriker Christian Kravagna u.a. auf die herausragenden Schriften des kubanischen Intellektuellen (vgl. Kravagna 2017: 92 ff.).  

[10] Künstler*innen wie Lois Weinberger oder auch Maria Thereza Alves haben sich in ihren Arbeiten intensiv mit der Überdauerung und auch Mobilität von Pflanzensamen beschäftigt. 

[11] Zum heutigen Zustand des Gartens siehe das in die Ausstellung integrierte Interview mit dem Garten (vgl. Villegas/Inclán 2000).

Beitragsbild über dem Text: Siembra comunal: Garten von Dulce María Loynaz, Havanna (2019) Foto: Irving Alfaro.

Zitierweise

Lena Geuer (2023): Botanische Fiktionen 1: Das Herbarium als künstlerisches Medium. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d18727

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