Text: Peter Tepe | Bereich: Allgemeines zu „Kunst und Wissenschaft“
Übersicht: Der VAST wird auf zwei Ebenen betrachtet: Auf Ebene 1 handelt es sich um ein Training der aesthetic sensitivity, das sich an diejenigen wendet, welche Götz’ Leitvorstellung von Ausgewogenheit teilen – nicht um ein mit wissenschaftlichem Anspruch auftretendes Testverfahren. Auf Ebene 2 geht es demgegenüber um die Frage, was zu tun ist, wenn man den VAST in einen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Test verwandeln will; dazu werden konkrete Vorschläge gemacht.
An der Diskussion über den von Karl Otto Götz in den 1970er Jahren entwickelten Visual Aesthetic Sensitivity Test (VAST) haben sich in Runde 1 mehrere Psychologinnen und Psychologen beteiligt, auf deren Statements Karin Götz in Runde 2 reagiert hat. In Runde 3 sind eine Kommunikationswissenschaftlerin und ein Kunsthistoriker hinzugekommen In Runde 4 schalte ich mich nun als w/k-Herausgeber und Philosoph ein.
In der Gegenwart haben Kooperationen von Künstlerinnen und Künstlern mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Konjunktur. Um der Zukunft willen lohnt es sich, auf die Vergangenheit zurückzublicken, in der eine solche Zusammenarbeit Seltenheitswert besaß. Auf besonderes Interesse stößt zweifellos die Kooperation zwischen einem Maler ersten Ranges, der sich zu dieser Zeit in der Geschichte der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts längst einen herausgehobenen Platz gesichert hatte, und zwei renommierten Psychologen, nämlich Daniel E. Berlyne und Hans-Jürgen Eysenck.
Zum veröffentlichten Test
Das 1981 im Düsseldorfer Concept Verlag erschienene Heft enthält 42 von Götz gestaltete Bildpaare. Einige sind grafische Konstruktionen, wie man sie in Tests häufiger findet. In anderen Paaren wendet Götz hingegen die von seinen Gemälden her bekannte informelle Malweise ein; durch sie bekommt der VAST einen besonderen ästhetischen Reiz. Hinzugefügt sind zwei lose Blätter: die Instruktion und der von denen, die den Test absolvieren wollen, auszufüllende Vordruck. In der Instruktion erläutert Götz sein Konzept:
„Jedes Bildpaar besteht aus zwei ähnlichen Motiven, wovon das eine immer besser gestaltet ist als das andere. Es ist harmonischer, das heißt ausgewogener u. gleichmäßiger in der Linienführung und in der Anordnung seiner Formelemente. Wenn Sie genau und lange genug hinsehen, so werden Sie bemerken, dass im Vergleich dazu das unausgewogenere Motiv kleine graphische ‚Störungen’ enthält. […] Ihre Aufgabe ist es nun, bei jedem Bildpaar herauszufinden, welches Motiv das ausgewogenere ist. Manchmal ist es das linke, manchmal das rechte Motiv. Schauen Sie bitte genau hin und nehmen Sie sich Zeit. Wenn Sie Ihre Entscheidung getroffen haben machen Sie auf dem Vordruck ein R (rechts) oder ein L (links) hinter die Nummer des entsprechenden Bildpaares.“
Götz ist auch bestrebt, ein Missverständnis auszuräumen:
„Beachten Sie, dass Sie nicht etwa danach urteilen, welches Motiv Ihnen besser gefällt. Dies ist hier nicht die Frage. Denn besser gefallen kann manchmal auch das unausgewogenere Motiv, nämlich dann, wenn es interessanter erscheint als das ausgewogenere.“
Der VAST tritt nicht mit dem Anspruch auf, ein wissenschaftlicher Test zu sein, der den Ansprüchen der zeitgenössischen Testpsychologie genügt. So fehlt z.B. jeder Bezug auf Fachliteratur. Götz legt nicht dar, von welchen theoretischen Voraussetzungen er ausgeht und wie sich diese zu konkurrierenden Ansätzen verhalten; er diskutiert auch keine Methodenfragen. Wie lässt sich seine Vorgehensweise beschreiben?
- Er setzt bei seiner eigenen Erfahrung an, der zufolge ein Motiv oder Bild (im weiteren, vorkünstlerischen Sinn) ausgewogener als ein anderes sein kann. Entsprechend legt er den Test an.
- Er verwendet die Wörter ‚ausgewogen’ und ‚harmonisch’, wie aus der zitierten Formulierung hervorgeht, weitgehend oder sogar gänzlich gleichbedeutend.
- Götz betrachtet es als Erkenntnisleistung „herauszufinden, welches Motiv das ausgewogenere ist“.
- Diese Erkenntnisleistung grenzt er ab vom Gefallensurteil ‚a gefällt mir besser als b’.
- Götz beruft sich auf eine „Gruppe von Malern und Graphikern“, die den Test vorab geprüft hat. Erstens sind offenbar alle darin übereingekommen, welches die ausgewogeneren Motive sind, und zweitens haben sie Götz’ Aussage zugestimmt, dass das unausgewogenere Motiv jeweils „kleine graphische ‚Störungen’ enthält“. Belege dafür werden nicht gebracht; bei einem mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Test würden solche Belege wohl zum Standard gehören.
- Die genannte Erkenntnisfähigkeit wird von Gruppe 1 in allen Fällen, von Gruppe 2 in den meisten Fällen, von Gruppe 3 nur in wenigen Fällen und von Gruppe 4, die vielleicht ungefüllt bleibt, in keinem einzigen Fall gezeigt. Mithilfe der vorgesehenen Angaben zum Alter und zum Geschlecht können diese Gruppen und ihre unterschiedliche aesthetic sensitivity genauer eingegrenzt werden.
Aufgrund dieser Beschreibung ordne ich den VAST folgendermaßen ein: Es handelt sich um einen ungewöhnlicherweise von einem (berühmten) Künstler entworfenen Formunterscheidungstest, der auf den angeführten Erfahrungen und Annahmen beruht, die als hinlänglich plausibel betrachtet und nicht diskutiert werden. Da Götz nicht angestrebt hat, einen Test zu erzeugen, der die wissenschaftlichen Ansprüche der zeitgenössischen Testpsychologie erfüllt, sollte der VAST zunächst einmal nicht mit wissenschaftlichen Maßstäben gemessen werden. Er wendet sich an diejenigen, welche Götz’ Erfahrungen und Annahmen teilen. Solche Individuen können den Test auch heute noch nutzen, um ihre Urteile über Ausgewogenheit zu prüfen und zu schärfen – der Test stellt ein Training für diese Art von aesthetic sensitivity dar. Und das Ziel, die visuell-ästhetischen Kräfte im Alltag zu stärken, ist sinnvoll.
Die Frage nach der Relevanz des VAST für die aktuelle Psychologie ist gesondert zu behandeln. Auf der wissenschaftlichen Ebene kann sich z.B. herausstellen, dass eine Annahme, von der Götz ausgeht, verfehlt oder einer konkurrierenden Annahme unterlegen ist. Hier ist über das zu diskutieren, was Götz aufgrund seiner intuitiven Vorgehensweise, die in der Kunst unproblematisch ist, aber in der Wissenschaft zu Fehleinschätzungen führen kann, nicht genauer untersucht.
Zwei Formen der Kooperation mit Wissenschaftlern
Berlyne, Eysenck und andere Psychologen waren nicht an der Entwicklung des VAST beteiligt, sie haben ihn nur, wie aus Karin Götz’ Bericht hervorgeht, begeistert rezipiert und für ihre wissenschaftlich-psychologischen Zwecke genutzt. Würde jemand heutzutage beginnen, einen mit dem VAST vergleichbaren Test zu entwickeln, so wäre es sinnvoll, dies gleich zusammen mit Fachleuten zu tun, um einen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Test zu erzeugen. Das schließt nicht aus, dass neben der umfangreicheren Veröffentlichung, die sich an ein Fachpublikum wendet, auch eine abgespeckte Fassung publiziert wird, die sich wie Götz’ Heft an ein breiteres Publikum richtet, um bestimmte ästhetisch relevante Fähigkeiten zu trainieren.
Ursprünglich hatte ich nicht vor, mich an der Diskussion über den VAST zu beteiligen. Einfach deshalb, weil die Leitfrage „Ist dieser Test für die aktuelle Psychologie, sofern sie sich mit der ästhetischen Dimension befasst, noch relevant?“, sich primär an Psychologen richtet, zu denen ich nicht gehöre. Mittlerweile bin ich jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass vor dem Hintergrund der von mir 2019 vorgelegten Theorie der ästhetischen Erfahrung[1] einige Probleme, die der VAST aufwirft, einer besseren Lösung als bisher zugeführt werden können.
„Dieses Bild hängt schief“
Ich setze an bei einem Beispiel, das in Diskussion mit Karin Götz über den VAST gegeben wird, und das auch im Sinne von Karl Otto Götz sein dürfte:
„Ich habe in nicht wenigen Wohnungen Bilder an den Wänden gesehen, die schief hingen: Wenn ich dann sagte: ‚Dieses Bild hängt schief’, dann schauten mich erstaunte Gesichter an, und es wurde gesagt: ‚Das habe ich gar nicht gesehen.’“
Karin Götz spricht von der „Fähigkeit, genau hinzugucken“. Einige Menschen bemerken sofort, dass das Bild oder der Spiegel oder das Familienfoto an der Wand schief hängt, andere sehen dies erst, wenn sie von anderen darauf aufmerksam gemacht werden.
Dieses Beispiel ordne ich im Rahmen meiner Theorie zunächst der einfachen sinnlichen Erfahrung zu, die allen Menschen vertraut ist. Ein Aussage bzw. ein Urteil wie „Dieses Bild hängt schief“ artikuliert dann eine einfache sinnliche Erfahrung. Es handelt sich um ein elementares Erkenntnisurteil, das wahr oder falsch ist. Bezweifelt jemand, dass das Behauptete zutrifft, so kann z.B. durch Nachmessen oder durch Anlegen einer Wasserwaage geklärt werden, ob das Bild tatsächlich schief hängt.
Im Kontext alltäglicher Kommunikation ist jedoch meistens mehr im Spiel als die einfache Feststellung, dass das Bild schief hängt – implizit wird in der Regel auch mitgeteilt, dass man das Schiefhängen des Bildes missbilligt, es unschön findet. Diese Missbilligung beruht auf einer ästhetischen Norm, die man etwa so explizieren kann: Spiegel, Familienfotos, Bilder usw. sollten gerade aufgehängt werden. Die schiefe Hängung ist zu vermeiden.
Ich stelle die beiden Erfahrungen und die daraus resultierenden Urteile einander gegenüber: Im ersten Fall sieht A etwas, was B nicht sieht, ohne eine Aufforderung damit zu verbinden – es wird nur etwas festgestellt. Im zweiten Fall sieht C etwas, was B nicht sieht – und verbindet implizit eine Aufforderung damit, die auf einer ästhetischen Norm beruht. A kann man eine Sensibilität bzw. Wahrnehmungsfähigkeit zusprechen, die B abgeht, aber erst bei C sollte von einer ästhetischen Sensibilität gesprochen werden.
Ausgewogener als …
Ich kehre nun zu Götz’ Instruktion zurück und ziehe eine wichtige Konsequenz aus der gerade eingeführten Differenzierung. Aufgabe der Testpersonen ist es, „bei jedem Bild herauszufinden, welches Motiv das ausgewogenere ist“. Auch dann, wenn man sagt ‚Motiv a ist ausgewogener als Motiv b’, bezieht man sich – und das ist meine erste kritische These –implizit auf eine bestimmte ästhetische Norm (die als Ausgewogenheits- oder Harmonienorm bezeichnet werden kann).
Götz hat seinen Leitbegriff der größeren oder kleineren Ausgewogenheit nicht weiter analysiert und verschiedene Deutungen diskutiert. Nach Karin Götz’ Auskunft hat er über die theoretischen Grundlagen des Tests, zu denen die Wahl bestimmter Leitbegriffe gehört, nicht intensiver nachgedacht – er ist von seinem intuitiven Verständnis von Ausgewogenheit/Harmonie ausgegangen und hat den Test diesem entsprechend aufgebaut. Das besagt, wenn man sich an der Unterscheidung von zwei Bedeutungen der Äußerung „Dieses Bild hängt schief“ orientiert: Götz scheint das Herausfinden der ausgewogeneren Abbildung nach dem Muster der einfachen Feststellung des Schiefhängens gedacht zu haben – und nicht nach dem Muster der mit einer ästhetischen Norm verbundenen Feststellung des Schiefhängens. Das Urteil „Dieses Bild hängt schief“ ist bei C nicht bloß eine Feststellung wie bei A, es impliziert vielmehr „Das Bild sollte gerade hängen“ – es ist verbunden mit einer nicht verbalisierten Aufforderung, das Bild gerade zu hängen. Nach meiner Auffassung ist es nicht korrekt, den Begriff der Ausgewogenheit so zu behandeln, als sei dieser ein deskriptiver Begriff; ‚ist ausgewogen’ besagt nicht ‚hat die und die Eigenschaft’, sondern ‚entspricht einer bestimmten ästhetischen Norm’.
Meine These lautet: Das Herausfinden des jeweils ausgewogeneren Motivs ist eine Tätigkeit, die von einer bestimmten Ausgewogenheits- oder Harmonienorm gesteuert wird – sie stellt keine einfache Feststellung dar. Diese Intervention führt zu einer Präzisierung des von Götz Gesagten, die für den Test zunächst einmal nicht bedrohlich ist: Das Herausfinden des jeweils ausgewogeneren Motivs wird jetzt genauer bestimmt als eine Tätigkeit, der eine Ausgewogenheitsnorm zugrunde liegt. Etwas als ausgewogen zu bezeichnen, setzt eine ästhetische Norm voraus, welche eine bestimmte Gestaltung fordert. Ein ästhetisches Urteil dieser Art ist nicht wahr oder falsch wie ein aufgrund einfacher sinnlicher Erfahrung gefälltes Urteil – es hält die bessere oder schlechtere Umsetzung einer ästhetischen Norm fest.
Akzeptiert man die vorgeschlagene Präzisierung, so ergibt sich daraus auch eine genauere Bestimmung des Aufbaus des Tests: Dieser ist so aufgebaut, dass jeweils ein Bild bzw. Motiv dieser Ausgewogenheitsnorm besser entspricht als das andere – es ist im Sinne dieser ästhetischen Norm „besser gestaltet“. Die Fähigkeit, die getestet wird, ist somit diejenige, die Ausgewogenheitsnorm auf eine Menge von Beispielen anzuwenden, um jeweils das der Norm besser entsprechende Bild herauszufinden.
Gefallen und Erkennen
Götz schreibt in seiner Instruktion: „Beachten Sie, daß Sie nicht etwa danach urteilen, welches Motiv Ihnen besser gefällt.“ ‚Bild a gefällt mir besser als Bild b’ kann als (weitgehend) gleichbedeutend mit ‚Bild a finde ich schöner als Bild b’ behandelt werden. Das Gefallensurteil, welches eine solche Präferenz artikuliert, wird auch als Geschmacksurteil bezeichnet. Götz nimmt offenkundig an, dass verschiedene Individuen häufig einen unterschiedlichen Geschmack haben, was bezogen auf den VAST bedeutet, dass die einen Bild a schöner finden, die anderen hingegen Bild b. Es ist ein Test denkbar, dessen Ziel es ist, die unterschiedlichen Schönheitserfahrungen und deren Hintergründe genauer zu beleuchten, aber der VAST ist anders ausgerichtet.
Götz geht es, wie Karin Götz formuliert, um ein „ästhetische[s] Erkenntnisurteil, in dem die Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit einer visuellen Struktur erfaßt wird“. Die vorgeschlagene Präzisierung ermöglicht es nun, die Opposition zwischen Erkennen und Gefallen zu verteidigen:
- Dass Bild a der Ausgewogenheitsnorm besser entspricht als Bild b, ist eine rein kognitive, eine Erkenntnisleistung.
- Diese Art der Erkenntnis misst konkrete Fälle an einer Norm. Das ist von der elementaren empirischen Erkenntnis zu unterscheiden, die z.B. etwas Gesehenes spontan als Auto im Allgemeinen und als BMW im Besonderen identifiziert, d.h. in Sekundenschnelle erlernte Begriffe auf das sinnlich Wahrgenommene anwendet. Im VAST geht es demgegenüber, wenn man der Präzisierung folgt, um die Anwendung einer ästhetischen Norm auf das sinnlich Wahrgenommene.
Durch Hinweis auf die Voraussetzung, dass im VAST die Fähigkeit der Anwendung einer Ausgewogenheitsnorm auf Bildpaare getestet wird, kann also der Anspruch, der VAST frage „nach einem visuellen Erkenntnisurteil“, verteidigt werden. Die Testergebnisse zeigen nach der von mir vorgeschlagenen Interpretation, dass die Testpersonen in unterschiedlichem Ausmaß über die Fähigkeit verfügen zu erkennen, dass jeweils ein Bild der Ausgewogenheitsnorm besser entspricht als das andere.
Zur Weiterentwicklung des VAST
Will man den VAST so überarbeiten, dass er denjenigen Ansprüchen genügt, die an wissenschaftliche Tests gestellt werden, so bietet sich hinsichtlich der Ausgewogenheitsnorm zweierlei an. Erstens sollte die Harmonienorm so klar wie möglich definiert werden, um die Testpersonen darüber zu informieren, worum es im Test hauptsächlich geht, nämlich um die Anwendung genau dieser ästhetischen Norm. Zweitens sollte an mindestens einem Beispiel demonstriert und im Detail begründet werden, wie die korrekte Anwendung der Norm auf ein konkretes Bildpaar aussieht: Dadurch wird nachgewiesen, dass das eine Bild der Harmonienorm in dieser oder jener Hinsicht besser entspricht als das andere. Damit sind in fachsprachlicher Terminologie die Gesichtspunkte der Reliabilität und der Validität angesprochen.
Eine die Anforderungen voll erfüllende Testperson hätte, wenn man diese Weiterführungen berücksichtigt, erstens die Harmonienorm und zweitens deren beispielhafte Anwendung auf ein Bildpaar richtig verstanden und wäre drittens in der Lage, alle Bildpaare des Tests entsprechend zu behandeln. Durch diese Hinzufügungen wird verhindert, dass Testpersonen ein anderes Verständnis von Ausgewogenheit und ein andere Art der Normanwendung als die verlangte zur Geltung bringen. Durch die Explikation einer Voraussetzung, von der Götz ausgeht, wird so zugleich auf eine Lücke hingewiesen, die auf wissenschaftlicher Ebene gefüllt werden sollte. Aus der Explikation von Voraussetzungen, die bei der Konstruktion eines Tests stillschweigend gemacht werden, können sich Konsequenzen ergeben, die vom Testentwickler nicht bedacht worden sind.
Welchen Status hat die Ausgewogenheitsnorm?
Ich habe zu zeigen versucht, dass Götz, ohne diesen Zusammenhang in seiner Instruktion klar herauszuarbeiten, die Fähigkeit testet, eine bestimmte Ausgewogenheitsnorm auf eine Vielzahl von Bildpaaren anzuwenden. Dass er mit einer stillschweigenden Voraussetzug arbeitet, hat zur Folge, dass er die Frage nach dem Status dieser ästhetischen Norm nicht diskutiert. Es gibt nun grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Ausgewogenheitsnorm zu denken:
Option 1: Es handelt sich um eine überzeitlich gültige ästhetische Norm.
Option 2: Es handelt sich um eine ästhetische Norm, die zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten soziokulturellen Kontext in diesem oder jenem Ausmaß akzeptiert wird. Demnach ist mit mehreren Ausgewogenheitsnormen zu rechnen.
Ob Option 1 oder 2 vorzuziehen ist, kann in meinem Artikel nicht ausführlich diskutiert werden;[2] ich begnüge mich damit, eine Überlegung vorzubringen, die für Option 2 spricht. Hätte sich Götz an einer Definition der von ihm vorausgesetzten Ausgewogenheitsnorm versucht, so wäre ihm wahrscheinlich aufgefallen, dass diese Definition Elemente enthält, die für eine bestimmter Zeit und einen bestimmten soziokulturellen Kontext typisch sind, sodass es nicht möglich ist, diese Norm im Sinne von Option 1 als eine überzeitlich gültige Norm aufzufassen. Zwar ist die Erkenntnis der mehr oder weniger großen Normadäquatheit vom Fällen eines Geschmacks- oder Gefallensurteils zu unterscheiden, aber die Ausgewogenheitsnorm, auf die man sich bezieht, kann sich ändern. Ich deute meine Auffassung in diesem Kontext nur an: Gestaltungsprogramme für Gebrauchsgegenstände schließen Ausgewogenheitsnormen ein, die auch Stimmigkeitsnormen sind – was im Rahmen von Programm a unstimmig erscheint, kann im Rahmen von Programm b stimmig sein. Entsprechendes gilt dann auf einer weiteren Ebene für Kunstprogramme.
Daraus ergibt sich eine weitere Differenzierung: Dass Motiv a einer bestimmten Ausgewogenheitsnorm besser entspricht als Motiv b, ist zwar eine Erkenntnis bestimmter Art, aber diese besagt nicht, dass man die definitiv richtige Ausgewogenheitsnorm erkannt hat, sondern nur, dass man eine von mehreren Ausgewogenheitsnormen richtig angewandt hat.
Anderer Status des VAST
Vor diesem Hintergrund gewinnt der VAST einen anderen Stellenwert als in Götz’ Selbstverständnis. Er bezieht sich auf eine von ihm selbst akzeptierte und in verschiedenen Bevölkerungsschichten, vor allem aber in seinem künstlerischen Umfeld verbreitete Ausgewogenheitsnorm und testet die Fähigkeit, diese korrekt auf eine Vielzahl von Bildpaaren anzuwenden. Er testet demnach nicht die Fähigkeit, die eine, überzeitlich gültige Ausgewogenheitsnorm korrekt auf eine Vielzahl von Bildpaaren anzuwenden. Durch die neue Interpretation gewinnt der VAST somit eine neue Bedeutung.
Daraus ergibt sich auf wissenschaftlicher Ebene die Möglichkeit, weitere Tests zu entwickeln, die in vergleichbarer Form die Anwendung von Ausgewogenheitsnormen erproben, welche sich in anderen Kontexten herausgebildet haben. Es gibt demnach nicht das eine ästhetische Urteilsvermögen, sondern mehrere Formen des ästhetischen Urteilsvermögens, welche sich auf verschiedene Ausgewogenheitsnormen – und auf weitere ästhetische Normen, die ebenfalls wandelbar sind – beziehen.
Wenn gilt, dass Normen im Allgemeinen und ästhetische Normen im Besonderen immer erlernt werden – häufig im primären Sozialisationsprozess – , so kann es keine Menschen geben, die, wie Karin Götz formuliert, „von Natur aus ein gutes visuell-ästhetisches Urteilsvermögen haben“. Wohl aber gibt es Menschen, die eine bestimmte erlernte Ausgewogenheitsnorm sicher und in Sekundenschnelle anwenden können.
Fazit: Ich schlage vor, den zweifellos eine Pionierleistung darstellenden VAST auf zwei Ebenen zu betrachten:
- Auf Ebene 1 handelt es sich um ein Training der aesthetic sensitivity, das sich an diejenigen wendet, welche Götz’ Leitvorstellung von (größerer oder kleinerer) Ausgewogenheit ganz oder weitgehend teilen. Die Instruktion ist als Einführung in das Trainingsprogramm angelegt, nicht als Einführung in ein mit wissenschaftlichem Anspruch auftretendes Testverfahren. Ein solches Training kann ferner differenzierter als im ersten VAST aufgebaut werden: Zur Klärung, ob die Ausgewogenheitsnorm richtig angewandt wird, kann z.B. die Ermittlung hinzukommen, wie lange jemand zur richtigen Anwendung braucht.
- Auf Ebene 2 geht es demgegenüber um die Frage, was zu tun wäre, wenn man den VAST in einen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Text verwandeln will. Dazu habe ich folgende Vorschläge gemacht: Als Leitbegriff ist derjenige der Ausgewogenheitsnorm zu verwenden; die Anwendung ästhetischer Normen ist von der Anwendung deskriptiver Begriffe zu unterscheiden. Dass Motiv a besser als b mit dieser Norm übereinstimmt, stellt eine Erkenntnisleistung besonderer Art dar, die von einem Gefallens- oder Geschmacksurteil abzugrenzen ist. Zu rechnen ist indes mit mehreren Ausgewogenheitsnormen, die jeweils zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten soziohistorischen Kontext mehr oder weniger breit akzeptiert werden – zumeist in der Form einer stillschweigenden Hintergrundüberzeugung.
Beitragsbild über dem Text: Verschiedene Testbilder aus dem VAST (1970—1981). Foto: Till Bödeker.
[1] P. Tepe: Schönheit im Alltag. Zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/pt_schoenheit.pdf – in w/k ist eine Zusammenfassung erschienen: https://wissenschaft-kunst.de/schoenheit-im-alltag/
Eine Verwandtschaft zwischen Karl Otto und Karin Götz’ Vorgehensweise und meiner in der Theorie der ästhetischen Erfahrung besteht in der Überzeugung, dass es richtig und wichtig ist, sich zunächst mit einfachen Erfahrungen, die mit aesthetic sensitivity zusammenhängen, zu beschäftigen und sich erst auf der Grundlage ihrer Analyse mit den komplexeren Erfahrungen zu befassen, die sich auf Kunstwerke beziehen.
[2] Hier eröffnet sich ein weites Diskussionsfeld, z.B. mit der von Gerhard Stemberger in Runde 1 vertretenen Position.
Zitierweise
Peter Tepe (2021): VAST: Die Karten neu mischen. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d15158
//Hinweis der Redaktion
Die Diskussion über diesen Beitrag wird auch im englischen Teil von w/k geführt, siehe: https://between-science-and-art.com/vast-a-new-ball-game/#comment-761
Lieber Herr Tepe
ich finde Ihren differenzierten Kommentar, die begriffliche Klärung und die konstruktiven Vorschlage sehr anregend.
Wichtig scheint mir auch der Hinweis darauf, dass bestimmte Normen ästhetischer Einschätzung im Alltag agefunden und überprüft werden sollten, etwa im Kontext von Geschichte und Soziologie von Gebrauchsgegenständen, die implizit bestimmten Normen entsprechen oder auch bestimmte Normen vermitteln wollen, etwa als erfolgreich prägende Stilrichtungen im Bereich des Dekorativen.
Sehr interessant ist sicher auch die Erforschung der Kinderzeichnung im Blick auf die Frage: Wie und wann, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck lernt ein Kind, ein „schönes“ Bild zu malen und beispielsweise als Muttertagsgeschenk anzubieten? Wie und wann und von wem erwirbt ein Kind Aufmerksamkeit für die räumliche Ausgestaltung der Fläche, auf der es malt? Was lässt sich für den Kunstunterrricht gewinnen? Viele Kinder und Jugendliche geben das Zeichnen, Malen und Gestalten auf, weil ästetische Ansprüche sie entmutigen. Sind auch „Ausgewogenheitsnormen“ entmutigend? Sie sind ja vermutlich ziemlich voraussetzungsvoll und setzen womöglich einiges an ästhetischer Erziehung voraus – oder doch nicht? Man könnte empirische Untersuchungen mit Kindern unterschiedlicher Milieus und in unterschiedlichem Lebensalter machen und Interesaantes über ein Vorhandensein oer Nicht-Vorhandensein ästhetischer Intuition gewinnen.
Man käme vielleicht auch zu Empfehlungen im Bereich Kunst-Didaktik.
Mit schönen Grüssen
Brigitte Boothe
Für einen Autor ist es erfreulich, wenn eine Diskussionsrunde mit einer positiven Reaktion beginnt. Zwischen Brigitte Boothe – die die VAST-Diskussion mit organisiert hat – und mir gibt es mehrere Übereinstimmungen. Die im Alltagsleben spontan erfolgenden ästhetischen Einschätzungen werden, so unsere gemeinsame Überzeugung, durch irgendwann erlernte ästhetische Werte und Normen gesteuert, die als stillschweigend akzeptierte Hintergrundannahmen wirken. Zu erforschen, welche ästhetischen Normen in der Alltagspraxis wie wirksam werden, ist eine lohnende Aufgabe, zu deren Bewältigung einige Wissenschaften beitragen können.
Die Einsicht in diese Zusammenhänge eröffnet auch die Möglichkeit, den VAST weiterzuentwickeln. Als jemand, der seinen Ausbildungsweg vor langer Zeit als Malereistudent bei Karl Otto Götz begonnen hat, ist es mir ein Anliegen, nach Aktualisierungsmöglichkeiten des von ihm entwickelten Tests zu suchen – und sie wenn möglich auch zu finden. Liebe Frau Boothe, Sie weisen nachdrücklich auf einige dieser Optionen hin.