Text: Wulf Noll | Bereich: Rezensionen
Übersicht: Wulf Noll bespricht Heinrich Geigers Werk „Chinesische Ästhetik im 20. Jahrhundert. Das Schöne und die Frage nach der Identität“[1] und untersucht dabei die Entwicklung der chinesischen Ästhetik als philosophische Disziplin. Er beleuchtet die Spannungen zwischen chinesischer Tradition und westlichen Einflüssen, insbesondere von Kant, Schopenhauer und Nietzsche, sowie die Debatte um Moderne und Postmoderne in China. Im Zentrum steht die Frage nach kultureller Identität zwischen jahrtausendealter Tradition und globalisierter Gegenwart.
Eine chinesische Ästhetik, das klingt reizvoll und schürt die Erwartungen. Den Begriff des Schönen (mei) gab es schon immer in China, aber die Ästhetik als philosophische Disziplin und als Wissenschaft ist neu und geht unter westlichem, besonders unter deutschem Einfluss auf das 19. Jahrhundert zurück. Die Künste in China (die Malerei, die Tuschemalerei, die Oper, der Tanz, etc.) haben ihre eigene Ausdruckswelt, reduzieren ihre Vorstellungen aufs Wesentliche, auch aufs Schöne, ohne das eigene Denken in Systeme zu überführen, wie das seit Baumgarten und Kant im Zeitalter der Aufklärung geschah. In Japan vollzog sich mit der Meiji-Reform (1868) die Rezeption westlicher Ideen etwas früher als in China, doch beide Kulturen reagieren seitdem verstärkt auf westliche Einflüsse und deren Verarbeitung, wobei sich dringend die Frage nach der eigenen Identität stellt, welche die jeweilige Tradition mit der Moderne verbindet … Nach der eigenen Identität, hier der chinesischen, wird gefragt, denn das Umgekehrte geschieht selten: Im Westen waren Werke aus China und Japan exklusiv vor allem der feudalen Gesellschaft vorbehalten; man sprach von Chinoiserien, von Japonismus. Als sich deren Rezeption vor und nach 1900 weit öffnete, kam es zum Exotismus, zur zum Teil abenteuerlichen Flucht in die Malerei und in die Literatur anderer Kulturen.

Heinrich Geiger, der Sinologe und Philosoph ist, kennt die chinesische Kunst, chinesisches Denken und die Archäologie. Seine Zugänge zur chinesischen Ästhetik sind einschlägiger und kenntnisreicher als die vieler Westler, die Ostasien noch immer gern aussparen. Von Geiger sind seit 1987 zahlreiche Einzelstudien zur chinesischen Kunst erschienen, auch eine erste Ästhetik kam von ihm im Jahr 2005 heraus: „Die große Gradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne“.[2] Dort ist sie jetzt angekommen, in der Moderne, auch in der Postmoderne, wie Geiger im Verlauf seiner Abhandlung aufzeigt.
Geiger erläutert zunächst die Grundbegriffe wie meixue (Ästhetik), mei (das Schöne), yi (Kunst), meishu (schöne Künste), yishu (Kunstfertigkeit), ziran (Natur). Da die Malerei und die Schriftkultur eine große Rolle spielen, kommt es auch zu Begriffen, die wir im Westen kaum kennen wie bifa (Pinselführung), welche in ihrer höchsten Perfektion nicht künstlich, sondern natürlich (ziran) ausfallen muss. An Begriffen fehlt es nicht; jingjie bedeutet „ästhetische Welt“, und die Beschäftigung mit dieser brachte phasenweise vor allem seit den 1980er-Jahre so etwas wie ein „Ästhetikfieber“ (meixue re), englisch „aesthetics craze“, in den künstlerisch orientierten Debatten hervor.[3] Meinen Erfahrungen in Japan und China nach hat der Begriff „Ästhetikfieber“ längst Eingang ins Alltagsleben, zumindest in das der modisch bewussten, jungen Leute und der jungen Literatur gefunden. In Japan waren das die Shinjinrui (neue Menschen), in China die Build-Your-Dream-Generation, eine selbstbewusste junge Generation, die ich während meiner Zeit als Sprach- und Literaturlehrer sowie als Schriftsteller 2009–2011, 2012 und 2017 an den Universitäten und auf Reisen durch weite Teile des Landes kennen lernen konnte. Auf angenehm-harmonische Weise wurde ich ins „Ästhetikfieber“ eines jungen und neuen Chinas und seiner Lebenswelt verstrickt, was meinerseits zu einem modern-postmodernen Ästhetikfieber und zu einer literarischen China-Trilogie auf tausend Seiten führte.[4]
Nun ist China aber China, eine Hochkultur ohnegleichen, mindestens fünftausend Jahre alt. Wer will, wer kann sich mit diesem Kosmos in archäologischer, kultureller und ästhetischer Hinsicht überhaupt befassen? Das bisschen Neuzeit, das bisschen Moderne wird dem chinesischen Kosmos nicht gerecht. Der Wert des Altertums, der Wert der Anciennität ist unschätzbar. Der romantische Philosoph und Dichter Friedrich Schlegel erfasste diese Wertschätzung als „ästhetische Anciennität“, um sie dem nur progressiven ästhetischen Denken seiner Zeit entgegenzusetzen. Heinrich Geiger schränkt seinerseits den modernen Blick etwas ein und erweitert seine Sichtweise vorsichtig aufs Alte:
„Auf das Zeichen mei stoßen wir erstmals über tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, eingeritzt auf yin-zeitlichen (13.–11. Jh. v. Chr.) Orakelknochen. In der vorklassischen Periode kommt es mit Abstand am häufigsten im Buch der Lieder (Shijing) vor. In der klassischen Periode der chinesischen Philosophie der Prä-Qinzeit (Qinzeit: 221–206 v. Chr.) ist der Begriff mei dann im Zusammenhang mit Fragestellungen anzutreffen, die wir aus unserer heutigen, unter anderem durch die griechische Klassik und den deutschen Idealismus geprägten Perspektive als ‚ästhetisch‘ bezeichnen.“[5]

Doch eine solch weitreichende Ästhetik wird es wohl erst in der Zukunft geben. Auch für Heinrich Geiger geht es um die neuere Ästhetik, vor allem um das 20., auch ums 19., mit Ausblick aufs 21. Jahrhundert. Die Kultur Chinas war bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend abgeschottet. Westliche imperiale Mächte erzwangen unter militärischem Einfluss die Öffnungen Japans und Chinas. Mit dieser Öffnung breiteten sich auch westliche philosophische Ideen aus, englische, französische, deutsche, die ihrerseits zu einer Öffnung im ostasiatischen Denken und zu einer veränderten Interessenlage führten. Der Einfluss der westlichen Aufklärungsphilosophie, auch der Ästhetik als philosophischer Disziplin und als Wissenschaft, rief Veränderungen im Denken hervor. In China kam es mit Wang Guowei (1877–1927) und dessen Kant-, Schopenhauer- und Nietzscherezeption zu neuen Positionen. Die Kriterien wurden aus dem Westen übernommen, besonders von Kant, dessen systematisches Denken wie auch das Denken in Disziplinen großes Interesse erweckte. Das Systemdenken war das eine, doch unter dem Einfluss Schopenhauers und Nietzsches, die das Systemdenken ablehnten, bildeten sich ein Kontrast und eine Gegenposition heraus.
Zwar gibt es beim alten, bereits dialektisch denkenden Philosophen Mozi (Me-ti), er lebte im späten 5. Jahrhundert v.u.Z., Ansätze zum systematischen Denken, doch die praktische und pragmatische Ausrichtung überwog wie auch bei Konfuzius (ungefähr 551–479 v.u.Z.), der wie Sokrates die mündliche Lehre vorzog, und bei vielen anderen alten Philosophen auch. Sowohl Mozi und Konfuzius, aber auch Laotse und Zhuangzi, werden bis heute mit wechselnden Deutungen rezipiert. Den Einfluss Mozis auf Bertolt Brecht und dessen Gesellschaftlehre konnte ich bis in die Motive hinein untersuchen.[6] Obwohl sich in China das philosophische Systemdenken nicht wirklich etablierte, gewannen ab 1911 marxistische Denker einen immer größeren Einfluss in der jungen Republik. Dem marxistischen Systemdenken in Verbindung mit einer neuen Gesellschaft und entsprechendem Handlungsinteresse gewann man offenbar mehr ab als dem philosophischen „Transzendentalismus“, der das Gegebene hinterfragt, und dem „interesselosen Wohlgefallen“ Immanuel Kants, obschon es bis heute auch eine kantianische Richtung in der chinesischen Philosophie gibt. Kants Idee vom „ewigen Frieden“ wirkte auf chinesische Denker ein, hier ist Kang Youwei (1858–1927)[7] zu nennen.
Zu den neuen Ästhetikern in China zählen Zhu Guangqian und Zong Baihua, beide sind 1897 geboren und 1986 verstorben. Sie sind, so Geiger,
„aufgrund ihres langjährigen Studienaufenthaltes im Ausland mit den Diskursen in der zeitgenössischen westlichen Ästhetik vertraut und eröffnen auf deren Basis der chinesischen Ästhetik eine Bühne, auf der das Schöne (mei), aber auch alle anderen traditionellen Begriffe mit ästhetischer Bedeutung thematisiert werden können.“[8]
Zhu Guangqian ist ein Denker,
„der mit dem Gedanken der philosophischen Systembildung […] sympathisierte und deswegen auch das große System des Historischen Materialismus durchaus schlüssig und konsequent in sein Werk aufnehmen konnte. Zong Baihuas Anliegen war es hingegen, die unendliche Distanz zu überwinden, die zwischen der traditionellen chinesischen Ästhetik und der modernen, westlich geprägten Ästhetik liegt; er versuchte West und Ost, Tradition und Moderne miteinander zu versöhnen.“[9]
Zong bleibt Kant verbunden und steht damit in der Tradition Wang Guoweis; er richtete seinen Blick gleichzeitig aber auch auf Goethe, Schopenhauer und Nietzsche. Diese Doppelbindung lässt ein differentes interkulturelles Verstehen zu. Es geht aber nicht nur um bloße Theorie, der Blick aufs Kunstwerk ist für Zhu und Zong gleichermaßen wichtig, ohne dass die Ästhetik auf eine „Philosophie der Kunst“ reduziert werden soll, obwohl sie ihre „wertvollsten Energien aus der Begegnung mit Kunst“ gewinnen kann.[10] Ästhetik wird also nicht so abstrakt gedacht, sie bleibt an Lebensverhältnisse und geschichtliche Zusammenhänge gebunden; vor allem lässt sie das „ästhetische Genießen“ zu. Eine Ästhetik, die das ästhetische Genießen verbannt, wäre sozusagen ein totes Geistesprodukt.
Heinrich Geiger, der um einen objektiven Blick bemüht ist, ist freilich auch Schriftsteller. So eröffnet er seine Schrift zur Ästhetik mit selbstgesetzten Metaphern und zwar mit dem ‚Lotos‘ und mit der ‚Maus‘. Die „Hoffnung aufs Glück“ wird durch die Lotosblume versinnbildlicht. Die unsterbliche He Xiangu, eine der acht daoistischen Götter, hält eine Lotosblüte in der Hand. Darauf verweist ihr Name He, obschon he auch Harmonie bedeuten kann … Die ‚Maus‘ gehört zu den geringsten Wesen. Aber stimmt das auch? Ist nicht jedes Wesen gleich wesenhaft, wenn das Leben von derselben Substanz ist, an der alles Lebendige partizipiert? Heinrich Geiger provoziert mit der Sichtweise der Maus an die alten hochkulturellen Konzepte:
„Die Maus repräsentiert mein Gefühl, mich bei meiner Beschäftigung mit der chinesischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts an einem Schwellenort zu befinden. ‚Liminal spaces‘. Damit sind leere Flure, Treppenhäuser, Durchgänge, Unterführungen, und so weiter gemeint. Alles Orte, an denen sich Mäuse bewegen. Die Orte sind unheimlich, sie vermitteln kein Gefühl von Geborgenheit“.[11]
Da Heinrich Geiger nicht nur von Moderne, sondern auch von Postmoderne spricht, lässt sich hier sein „postmoderner Blick“ verorten, zumal er die Maus selbst mit eigener Tuschemalerei einführt und dann auf die eine oder andere Weise mit zerfließender Tusche durchs Buch geistern lässt.
Im Kapitel „Moderne und Postmoderne“, das mich besonders interessiert, argumentiert Geiger eher vorsichtig. Zu Recht wird die Rezeption Nietzsches in Anspruch genommen. In China reagiert man gegenüber Auflösungserscheinungen und Dekonstruktionen besorgt; das betrifft den Poststrukturalismus und den Dekonstruktivismus, aber nicht die postmoderne Kunst und Architektur. Der „doppelte Code“ und das vielschichtige „Zitat“ aus früheren Epochen von Charles Jencks im postmodernen Diskurs thematisiert, von Künstlern und Architekten gern aufgegriffen, lassen Verbindungen und künstlerische Motive aus dem alten mit dem neuen und zukünftigen China ebenso selbstverständlich zu, wie das im Westen der Fall ist. Eine chinesische Ästhetik, ein chinesischer Diskurs könnte hier besonders materialreich ansetzen. Dabei denke ich auch an die von Wolfgang Kubin herausgegebenen, übersetzten und kommentierten „Klassiker des chinesischen Denkens“, welche die chinesische Vorstellungswelt aktualisieren und verständlich machen, wobei postmoderne Perspektiven im Sinne der Maus und des Geringsten aktualisierbar sind.[12]
Dass auch Heinrich Geigers chinesische Ästhetik letztendlich westlich ausfällt, liegt in der Natur der Sache. Zwar liebt Geiger das alte China, doch sich auf dieses zu versteifen, würde eine weltabgewandte Haltung begünstigen … Eine umfassende chinesische Ästhetik dürfte eine Aufgabe für universell denkende chinesische Gelehrte sein, die den Faden aus der vorgeschichtlichen Zeit bis in die Gegenwart spinnen, aber die Kunst im Blick behalten. Während Altertumsforscher unter sich bleiben, wollen Ästhetiker wirken und etwas bewirken, was zur zeitgenössischen Aufklärung über Vergangenheit und Gegenwart und zur interkulturellen Horizonterweiterung führt. Chinesisches Denken kennen zu lernen und chinesische Sensibilität durch Literatur und Kunst zu verspüren, wäre für alle im 21. Jahrhundert ein unendlicher Gewinn. Interkulturelle Beiträge, ob sie nun aus Japan oder aus China kommen, haben zugenommen, und sie sind auch dann wichtig, wenn sie in der jeweiligen Landessprache oder der lingua franca, dem Englischen, als Wissenschafts- und als Verkehrssprache veröffentlicht werden.
Meine eigenen Untersuchungen zur ästhetischen Sicht auf „Moderne und Postmoderne“ gehen auf meine Zeit in Japan zurück, als ich mich an den Universitäten Tsukuba und Okayama in den 1980er und 1990er Jahren mit der international, aber westlich ausgerichteten Postmoderne befasste. Die Veröffentlichung dazu konnte in Deutschland erst stark verspätet erfolgen.[13] Japan selbst gehört zu den Vorreiternationen in puncto Postmoderne. Was in Japan und in den westlichen Ländern aktuell ist, wird in China nicht mehr übersehen. Modern oder postmodern? Oder einfach nur ästhetisch? Heinrich Geiger gewichtet Li Zehou (1930–2021) zu Recht als besonders einflussreichen Ästhetiker. Dieser hat etwas von dem erhofften universellen Gelehrten an sich, welcher den Bogen am weitesten spannt. So schreibt Geiger:
„[Li Zehou,] der bereits in der Ästhetikdiskussion der Jahre 1957 bis 1962 hervorgetreten war, veröffentlichte mit feinem Gespür für diese Entwicklung [zwischen Moderne und Postmoderne] in den 1980er Jahren das […] Buch Die Geschichte des Schönen (Mei de licheng) und den ersten Band der zweibändig konzipierten Geschichte der chinesischen Ästhetik (Zhongguo meixue shi). Die erstgenannte Publikation beginnt im Neolithikum und endet in der Qing-Zeit (1644–1911), die zweitgenannte umfasst den Zeitraum des frühen Altertums bis zu den Jahrhunderten um die Zeitenwende. Beide sind im Geiste der ‚erweiterten‘ Ästhetikgeschichtsschreibung, die gleichermaßen die Zeugnisse der materiellen und der geistigen Kultur zu ihrem Gegenstand hat, verfasst.“[14]
Vom Neolithikum bis zur Qing-Zeit …, in Ningbo konnte ich die Ausgrabungsstätte Hemudu besuchen, in der sich das Faszinosum einer neusteinzeitlichen Hochkultur abzeichnet![15] Sowohl im Museum der Ausgrabungsstätte als auch in den Ningboer Museen konnte ich Objekte aus neolithischer Zeit betrachten. Hier zeigt sich, dass die Kriterien von Moderne und Postmoderne unpassend sind, um das universelle und doch zusammengesetzte Geschehen der chinesischen Kultur zu erfassen. Es wäre einfacher, Li Zehou als bedeutenden Ästhetiker zu gewichten, obschon den Wiederbelebungsversuchen der Postmoderne keine Grenzen gesetzt sind. Nach der ästhetischen Theorie von Charles Jencks sind die Doppel- und Mehrfachcodierung sowie das „Zitat“ aus einer anderen Zeit und Epoche möglich, also auch der neolithischen … Noch bahnbrechender ist in dieser Hinsicht Vilém Flusser, dessen postmoderner Blick mittels digitaler und instrumentalisierter Methoden Altes, auch Uraltes, und Neues zu verbinden weiß. Das ist nicht chinesisch? Doch! Troglodyten haben kaum eine Ahnung davon, wie technologisch hochentwickelt die chinesische Kultur ist. Fast jedes bedeutende Museum ist digitalisiert und lässt unerwartete Kombinationen aus unterschiedlichen Zeiten zu. Da erscheint, um es krass zu sagen, eine digital auferstandene Schöne aus dem Neolithikum mit Elfenbeinschmuck im Haar, fröhlich neben einer Punk-Lady oder einem Manga-Mädchen. Und was ist das? In dieser Hinsicht ist das postmodern.[16]
Das mag Skepsis sowie Skrupel hervorrufen, die Kultur in ihrer Breite als Spielwiese gelten zu lassen. Heinrich Geiger und die philosophische Ästhetik gewichten daher die Tradition stärker als das künstlerische Experiment. Doch Geiger schließt die experimentelle Postmoderne nicht aus. Die Provokation gehört zur neuen Kunst dazu, nur die ältere und die politisch gewollte Kunst setzen auf Repräsentation … Beiden Richtungen lässt sich etwas abgewinnen; die Erzählung dessen, was Chinas Geschichte ist, was sie gewesen ist und wieder sein wird, ist eine ernsthafte Sache und dürfte heutzutage mehr als nur eine nationale Herausforderung sein … Der Dekonstruktivismus und drastische Aktionen wirbeln in China nur Staub auf, kommen allerdings vor und haben Eingang in die chinesische Kunst gefunden. Beim Spaziergang durch Beijings Künstlerviertel 798 (Dashanzi) bekam ich Zugang zur aktuellen Künstlerszene. Ich konnte meine Erfahrungen festhalten[17]. Was die experimentelle Postmoderne anbelangt, führt Geiger selbst ein provokantes Beispiel an, indem er sich auf Huang Yongping (1954–2019) und seinen „Durchmischungsvorgang in einer Waschmaschine“ bezieht.
Der post-avantgardistische Künstler Huang Yongping wusch und durchmischte 1987 die Arbeiten „Eine Geschichte der chinesischen Malerei“ und „Eine kurze Geschichte der modernen Malerei“ in einem zweiminütigen Waschprozess in einer Waschmaschine. Geiger interpretiert den künstlerischen „Waschvorgang“ wie folgt: Huang vollzieht
„die Entwertung der Geschichte seiner eigenen wie die der westlichen Kunst und die Entwertung von Werken, die durch die offizielle, parteikonforme Geschichtsschreibung in China legitimiert waren. Aus ästhetischer Perspektive ist dies ein radikal immanenter Vorgang, da er auf jedwede Art der Versöhnungsleistung zwischen Individuum und teleologischen oder dialektischen Deutungsmustern in der Geschichtsschreibung verzichtet.“[18]
Der Konzept- und Installationskünstler Huang konnte 1989 im Centre Georges-Pompidou die Ausstellung „Magiciens de la terre“ präsentieren. Er blieb in Frankreich, lebte seitdem in Paris, wo er 2019 verstarb.
Die Debatte um die Postmoderne wurde auch in China oder mit Blick auf China im auf mehrere Bereiche erweiterten Zusammenhang geführt. Davon zeugt die von Arif Dirlik und Xudong Zhong im Jahr 2000 herausgegebene Anthologie „Postmodernism and China” mit vielen chinesischen und internationalen Beiträgen zur kulturellen Situation. Sie erschien allerdings in den USA (Durham: Duke University Press). Die Beiträge sind weit gefasst, berühren Geschichte und das postindustrielle Zeitalter. Eine Engführung auf die Ästhetik kommt nicht vor, doch der Blick aufs Ästhetische ist integriert. Ich erwähne einige Titel wie „The Mapping of Chinese Postmodernity“ von Wang Ning, Sheldon Hsiao-peng Lus „Global POSTmodernIZATION: The Intellectual, the Artist, and China’s Condition“, „Imagined Nostalgia“ von Dai Jinhua oder Zhang Yiwus „Postmodernism and Chinese Novels of the Nineties“. Dazu stammt von den beiden Herausgebern eine kluge Einleitung: „Introduction: Postmodernism and China“ und von Xudong Zhang ein „Epilogue“.[19]
Halten wir fest, dass auch die chinesische Postmoderne aus einer Mischung aus traditionellen und modernen Elementen besteht. In den Künsten, in Architektur, Literatur, auch im Film findet eine Gegenüberstellung und Verschmelzung alter Motive mit modernistischen und postmodernen Techniken statt. Bleiben wir bei der Literatur; Autoren wie Lu Xun, Qian Zhongshu, Hong Yin und auch Mo Yan greifen gern auf Mittel wie Ironie, Satire und Parodie zurück, wobei Hong Yin und Mo Yan als postmodern gelten können. Die genannten stilistischen Mittel bewirken eine Distanz zu den Gegebenheiten. Die Postmoderne, auch in China, setzt ihrerseits auf Fragmentierung und Vielfalt in Erzählweise und Form. Es kommt zu vielfältigen Realitäten und unterschiedlichen Sichtweisen. Dieser Ansatz spiegelt die pluralistische Erfahrung des modernen Lebens in den hochentwickelten Gesellschaften weltweit wider … Identität ist nicht einfach zu behaupten, kann nicht in romantischer oder in nationaler Rückbesinnung imaginiert werden. Eine „neue Identität“ lässt sich zwar anstreben, doch ein bloßer Rückfall in überholte Muster kann nicht gemeint sein. Um mit sich und der Kultur, die Menschen umgibt, identisch zu sein, bedarf es längst eines qualitativen Sprungs. Diese „neue Identität“ ist pluralistisch zusammengesetzt und kann nicht mehr wie bei einer klassischen Skulptur in Bronze oder Erz gegossen werden.
Traditionalisten, auch solche in China, beklagen den „Verlust der Mitte“, was der Westen bereits hinter sich hat. Sich in der eigenen Kultur abzuschotten, besonders wenn sie so virtuos wie die chinesische ist, kann zwar gelegentlich von Künstlern und Schriftstellern[20] versucht werden, wird aber als Haltung auf Dauer nicht erfolgversprechend sein … Heinrich Geiger lässt seine chinesische Ästhetik dennoch in der Frage nach der Identität münden. Strenge Traditionalisten behaupten, dass kein Westler die chinesische Kultur je verstehen kann, und dass das Bemühen darum sinnlos sei … Aber China, ein Land, das flächenmäßig so groß wie Europa ist und dreimal mehr Bewohner aufweist, hat sich geöffnet und ist wirtschaftlich und kulturell einer der wichtigsten „global players“ geworden. Das wird in Deutschland noch immer nicht voll gesehen oder, wenn doch, ruft es Ängste hervor, weil man sich vermutlich abgehängt fühlt. Kein Wunder, die Verhältnisse in Ostasien scheinen bildungs- und ausbildungsmäßig, sowie wirtschaftlich und technologisch, denen im Westen längst überlegen zu sein.
Der interessierte Leser wird in Geigers Ästhetik auf zahlreiche weiterführende Anregungen stoßen. Geigers Ausführungen finden im Kapitel „Zur Geschichtsschreibung chinesischer Ästhetik“ besonders im Passus „Geschichtsschreibung und Identität“ einen gewissen Abschluss. Geiger bleibt seinen Gewährsleuten Wang Guowei, Zong Baihua, Zhu Guangqian und Li Zehou verbunden. Von letzterem gibt es eine „Chinesische Ästhetik“ (Huaxia meixue) aus dem Jahr 2002. Doch was ist chinesisch? … Die Frage nach der Identität nehmen die Konservativen ernster als die Modernisten und die Postmodernen, die mit dem Begriff ‚Identität‘ auf breiter geschichtlicher Grundlage literarisch und künstlerisch nur spielen. Die Partei, die nach einer betont liberalen Phase ihre Felle davonschwimmen sah, lässt ihr Interesse erkennen: Die KPCh und der Staatspräsident Xi Jinping hätten es gerne, wenn die chinesische Identität zum Thema würde … Xi Jinping sprach aus Anlass der Gründung des Chinesischen Geschichtsforschungsinstituts (Zhongguo lishi yanjiuyuan) am 3. Januar 2019 von Geschichte als einem Spiegel. In der Betrachtung des Vergangenen, ich folge den Zusammenfassungen Heinrich Geigers, müsse man die Gegenwart erkennen: „Sich die Errungenschaften der Vergangenheit zum Vorbild zu nehmen, gehöre zur einzigartigen Tradition der ‚mehr als fünftausendjährigen‘ Geschichte des chinesischen Volkes. Das neue Zeitalter eines ‚Sozialismus chinesischer Prägung‘ beruhe auf dieser Tradition und benötige deshalb den Rückhalt einer chinesischen Geschichtsforschung, die sich ihrer Wertvorstellungen sicher sei.“[21]
Wie auch immer sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse entwickeln, die Künste und die Ästhetik nehmen einen Anteil daran. Sie bilden das Gegebene nicht einfach ab. Ihnen wohnen ein Mehrwert und ein „ästhetischer Überschuss“ bei, indem eine eigene, auch unerwartete Dynamik zum Tragen kommt. Es ist Geigers besonderes Verdienst, unsere Sichtweise auf die chinesische Kultur und Ästhetik zu erweitern und damit den interkulturellen Diskurs, zumindest in Deutschland, anzuregen und zu beflügeln. Doch behalten wir Heinrich Geigers Intention hinsichtlich Chinas im Blick, wenn er schreibt:
„Kunstwerke gleich welcher Art […] können nicht problemlos in den Dienst der Gegenwart gestellt werden. Dennoch, es geht in der ästhetischen Ästhetikgeschichtsschreibung par excellence um die Erstellung von sinngebenden Narrativen, um ‚China‘ erzählen zu können.“[22]
Beitragsbild über dem Text: Heinrich Geiger: Chinesische Ästhetik: Abbildung S. 12, Yang Xin, Lotos, Tusche mit einem Text von Zhou Dunyi (1017–1073).
[1] Das Werk erschien 2025 im Verlag Karl Alber in der Nomos Verlagsgesellschaft in Baden-Baden. – Ich spreche von philosophischen Bemerkungen, nicht von einer Rezension, da ich wohl Fachphilosoph und Schriftsteller, aber kein Sinologe bin. Mein Interesse ist das eines interkulturell ausgerichteten Lesers am Thema, aber nicht das eines Fachwissenschaftler in Sinologie.
[2] Dieses Werk erschien ebenfalls im Verlag Karl Alber, damals in Freiburg 2005.
[3] Meixue re 美学热 (aesthetics craze) was „mainly brought about by the writings of prominent aestheticians such as Zhu Guangqian (1897-1986), siehe auch Karl-Heinz Pohl : ’Western Learning for Substance, Chinese Learning for Application’ , – Li Zehou’s Thought on Tradition and Modernity. Abrufbar: https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb2/SIN/Pohl_Publikation/Western_Learning_for_Substance_E.pdf
[4] Die Trilogie erschien im österreichischen Bacopa Verlag und wurde vom Sinologen, Übersetzer und Schriftsteller Wolfgang Kubin sehr positiv rezensiert: https://bacopa-verlag.at/autoren/wulf-noll
[5] Geiger (2025), 168.
[6] Wulf Noll, Bertolt Brechts Me-ti / Buch der Wendungen mit Blick auf Alfred Forkes Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke als Quelle, in: minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist, 32 (2020), Großheirath: OSTASIEN Verlag 2021, 233-291.
[7] Kang Youwei: K’ang Yu-wei: Ta T’ung Shu. Das Buch von der Großen Gemeinschaft. [Hrsg. d. engl. Ausg.: Laurence G. Thompson. Aus d. Engl. übers. von Horst Kube. Hrsg. d. dt. Ausg.: Wolfgang Bauer]. M. e. Vorwort v. Wolfgang Bauer. Düsseldorf, Köln: Diederichs, 1974. ‒ Siehe auch Thomas Heberer: Die große Gemeinschaft. Der Reformer Kang Youwei, Esslingen: Drachenhaus 2021.
[8] Geiger (2025), 174 f.
[9] Ib., 180.
[10] Geiger (2025), 181.
[11] Ib., 19.
[12] Wolfgang Kubin, Klassiker des chinesischen Denkens: 10 Bände, Freiburg im Breisgau: Verlag Herder (2011-2020).
[13] Wulf Noll, Ästhetische Aspekte in der modernen und postmodernen Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine vergleichende Untersuchung zu Adorno, Jencks, Lyotard, Welsch, Flusser, Vattimo und Marquard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023.
[14] Geiger (2025), 117.
[15] Die neolithische Hemudu-Kultur bestand ab etwa 7000 v.u.Z. Ihre Blütezeit hatte sie von etwa 5200 bis 4500. Die Hemudu-Kultur kannte den Anbau von Nassreis, die Seidenraupenzucht, die Gewinnung und Verarbeitung von Lack, die Herstellung von Keramik; sie kannte Schmuck aus Knochen und Elfenbein, Flöten aus Bambus, lackierte Schüsseln und Holzschalen. Mit Beginn der Tierzucht und dem Nassreisanbau waren die Bewohner sesshaft geworden.
[16] In Guangzhou, dem ehemaligen Kanton, in der Provinz Guangdong, sah ich vom postmodern konzipierten „Canton Tower“ beim Blick nach unten aus auf Hochhäuser, die ihrerseits nochmals Aufbauten in einem anderen (zum Teil orientalisch anmutenden) Stil aufwiesen, während in der Nacht Laserstrahlen künstlerisch gebündelt am Himmel transparente Akzente setzten. ‒ Selbst noch in der Provinz der Inneren Mongolei, die in China als ein wenig rückständig gilt, sah ich in Hailar (Hulunbuir) postmoderne Gebäude, welche sich auf Regionales bezogen und z.T. Jurten und deren Stil, jetzt aus Beton, in die Architektur mit einbezogen. Nach Jencks – und denen, die das ästhetische Geschehen im Blick behalten, sind solche Innovationen postmodern.
[17] Wulf Noll, Pferd tritt Schwalbe. Durch Museen und Galerien im Reich der Mitte, in: minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist, 27.1 (2015), Großheirath: Ostasien Verlag 2016, 109-117.
[18] Geiger (2025), 123.
[19] Arif Dirlik und Xudong Zhang (Hg.): Postmodernism & China. Durham: Duke University Press, 2000. ‒ Aber auch in Deutschland kam es zu Publikationen; ich nenne nur Jens Damm und Andreas Steen als Herausgeber: Postmodern China, Chinese History and Society, Berliner China-Hefte – vol. 34, LIT Verlag Berlin u. andere Orte, 2008.
[20] Hier ist Lao She (1899–1966) und sein Werk „Vier Generationen unter einem Dach“ zu nennen. Herr Qi wohnt mit seiner gesamten Familie in einem der traditionellen Pekinger Hutongs (Wohnhöfen) und versucht an den alten Werten festzuhalten, während der chinesisch-japanische Krieg tobt. Der Blick aufs Haus, auf die Kinder und Enkel, der Blick auf selbstgezüchtete Blumen und Gewächse, bedeutet eine Welt, die nicht erhalten bleiben wird. Lao She, Vier Generationen unter einem Dach. Herausgegeben aus dem Chinesischen von Irmtraud Fessen-Henjes. Zürich: Unionsverlag 1998.
[21] Geiger (2025), 217.
[22] Ib., 220.
Zitierweise
Wulf Noll (2025): Philosophische Bemerkungen zu Heinrich Geiger: „Chinesische Ästhetik im 20. Jahrhundert. Das Schöne und die Frage nach der Identität“ . w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d20067
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