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Hans-Heinrich Dittrich: Gestalt-Prinzipien als Inspiration

Ein Gespräch mit Irene Daum | Bereich: Interviews

Übersicht: Hans-Heinrich Dittrich arbeitet als freier Künstler in Bonn. Bei der Konzeption seiner Arbeiten setzt er sich, aufbauend auf seinem Studium der Psychologie und seiner langjährigen Tätigkeit als Diplom-Psychologe, mit Erkenntnissen der Gestaltpsychologie und ihrer Bedeutung für die bildende Kunst auseinander.

Herr Dittrich, bei der Beschreibung Ihrer Arbeiten beziehen Sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie, insbesondere der Gestaltpsychologie.  Könnten Sie diese Bezüge konkretisieren?
Ausgehend von meiner Ausbildung als Diplom-Psychologe mit klinischem Schwerpunkt und meiner Arbeit als Gestaltpsychotherapeut habe ich bei meiner künstlerischen Tätigkeit Parallelen zu Theorien der Gestaltpsychologie – einer der Wurzeln der Gestaltpsychotherapie – in meinen abstrakten Arbeiten entdeckt. Ich konzentriere mich aber nicht auf wissenschaftliche Theorien, sondern würde mich wie bei meiner Ausrichtung auf therapeutische Arbeit eher als Pragmatiker bezeichnen. Am ehesten würde ich mich als wissenschaftsaffin arbeitenden Künstler bezeichnen. Wesentliche Erkenntnisse der Psychologie wurden für mich vor allem durch Einzelfallanalysen und Introspektion gewonnen, weniger durch empirische Untersuchungen großer Populationen.

Welche Theorien und Erkenntnisse der Gestaltpsychologie sind für Ihre künstlerische Arbeit von besonderer Bedeutung?
Neben den von Max Wertheimer postulierten Gestaltgesetzen, die die Wahrnehmung von Objekten und deren Interaktion beschreiben, möchte ich hier besonders die Figur-Grund-Wahrnehmnung bei der Erfassung der ganzheitlichen Gestalt hervorheben. Bei der selektiven Wahrnehmung tritt das, was als wichtig erachtet wird, als Figur in den Vordergrund, alles andere wird zum Hintergrund. Dabei kann es auch zur Umkehr kommen. Dieses Figur/Grund-Geschehen wird bei der Gestalttherapie auf emotionale Prozesse übertragen. Das wichtigste Bedürfnis taucht als die offene Gestalt aus dem Hintergrund auf und wird im Vordergrund zur Figur. Diese Gestalt kann wieder in den Hintergrund eintauchen und einer neuen Gestalt Platz machen. Besonders wichtig: Das Ganze ist nicht nur mehr, sondern auch anders als die Summe seiner Teile. 

Wie würden Sie Ihre künstlerische Entwicklung beschreiben? Haben Sie sich schon in der Schule oder während des Studiums mit Kunst beschäftigt? Warum haben Sie sich für ein Studium der Psychologie entschieden? Welche Themen interessierten Sie während des Studiums am stärksten?
Ich habe mich in der Tat schon in der Schule und während des Studiums mit Kunst beschäftigt. Der Einstieg erfolgte durch einen Film über Max Ernst. Während des Studiums habe ich sowohl Aktzeichenkurse als auch Kalligraphiekurse besucht. Das Interesse an einem Psychologiestudium entstand auf der Grundlage der ausführlichen Lektüre der Schriften von Sigmund Freud. Auch meine Familiengeschichte hat wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Eine früh verstorbene Tante, die ich nicht mehr kennengelernt habe, litt an Schizophrenie und ich habe mich eingehend mit Schizophrenieforschung beschäftigt. In diesem Zusammenhang habe ich mich intensiv mit dem systemischen Ansatz in der Psychotherapie auseinandergesetzt. Dabei hat mich das Buch von Mara Selvini-Palazzoli mit dem Titel Paradoxon und Gegenparadoxon am meisten beeindruckt. Im Studium lernte ich durch meinen damaligen Professor für Klinische Psychologie Alf Däumling die Schriften von C. G. Jung kennen und war fasziniert von seiner Lehre der Archetypen, Bildern der Seele, die ähnlich in allen Kulturen auftauchen und seinem Konstrukt des kollektiven Unbewussten.

Welche Faktoren prägten Ihre Entscheidung für Ihren beruflichen Werdegang nach dem Studium?
Nach dem Studium führte ich zunächst die im Studium bereits begonnene Gestaltpsychotherapie-Ausbildung fort und praktizierte in eigener Praxis. Aus ökonomischen und familiären Gründen musste ich die Praxis jedoch wieder aufgeben und landete als Quereinsteiger in der IT. Neben meiner Berufstätigkeit habe ich immer wieder künstlerisch gearbeitet und mich damals hauptsächlich mit dem weiblichen Akt beschäftigt.

Wie kam es zur Entscheidung, sich intensiv der Kunst zu widmen? Wie würden Sie Ihren Werdegang als Künstler beschreiben? Welche Rolle spielten Ihre Erfahrungen als Gestaltpsychologe für diese Entwicklung?
Erst seit etwa vier Jahren, nach Abschluss meiner beruflichen Karriere als Unternehmensberater in der IT, habe ich meinen Lebenstraum verwirklichen können und mein Leben ganz der Kunst gewidmet. Nach einem anfänglichen experimentellen Stadium bin ich von der Aktmalerei immer mehr zur abstrakten Gestaltung gekommen. Im kontinuierlichen Dialog über philosophische und psychologische Themen mit dem Galeristen Christoph Noebel erkannte ich, dass meine Wurzeln als Psychologe und Gestalttherapeut in meinem Werk immer deutlicher zutage treten. Scheinbar unzusammenhängende und heterogene Objekte oder Figuren erscheinen im Verhältnis zueinander und zusammen mit dem Hintergrund als eine ganzheitliche Gestalt, wobei sich unterschiedliche Gesetze der Gestalttheorie nachvollziehen lassen wie z.B. das Gesetz der Nähe, das impliziert, dass sich in räumlicher Nähe befindliche visuelle Elemente als zusammengehörig wahrgenommen werden. Am wichtigsten ist jedoch das Figur/Hintergrund-Phänomen, das sowohl beim Malprozess als auch bei der Wahrnehmung des Betrachters eine Rolle spielt. Aus verschiedenen Blickwinkeln und Entfernungen betrachtet, können aus dem Hintergrund unterschiedliche Figuren in den Vordergrund treten, ein Beispiel dafür ist meine Arbeit vanities. Figuren können wieder zum Hintergrund werden und andere Figuren zum Vorschein bringen. Diese Prozesse können auch durch emotionale Zustände beeinflusst werden und wiederum emotionale Zustände hervorrufen.

Hans-Heinrich Dittrich: vanities (2024). Foto: Irene Daum.

Gibt es Künstler und insbesondere wissenschaftsbezogen arbeitende Künstler, die Ihr eigenes künstlerisches Schaffen beeinflusst haben?
Mein Interesse an der Kunst ist in meiner Jugend durch den Maler Max Ernst geweckt worden. Der Surrealismus hat sich damals parallel zur Psychoanalyse und der Entdeckung des Unbewussten entwickelt. Im Rahmen des Surrealismus entstand das automatische Schreiben (Écriture automatique) von André Breton als Gegenstück zur freien Assoziation. Dabei versuchte man die rationale Zensur durch einen Zustand der Trance auszuschalten und unbewusste traumhafte Sequenzen zu Papier zu bringen. Die von Max Ernst entwickelte Frottage ist das bildnerische Pendant dazu. Er nennt seine Methode den gesteuerten Zufall. Faszinierend finde ich auch nach wie vor die Werke von M. C. Escher, der das Prinzip der Kippfiguren (wie z.B. der Rubinsche Becher) in höchster Präzision in seine Werke (z.B. Vogel-Fisch) eingebracht hat. Aufgrund seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Möbiusbändern, Kristallformen, Spiegelungen, optischen Verzerrungen und Fraktalen wurde er von Mathematikern sehr geschätzt und nicht selten zu Vorträgen eingeladen.

Können Sie Ihren Arbeitsprozess an einem Beispiel veranschaulichen? Arbeiten Sie eher intuitiv oder sequenziell-analytisch? Welche Wirkung möchten Sie beim Betrachter erzielen?
Am Anfang stehen meistens eine oder mehrere Skizzen, in denen ich zum Teil auch schon die zu verwendenden Farben benutze. Ich übertrage die Skizzen in der Größe, die für das fertige Gemälde geplant ist, auf dickes Kartonpapier und schneide im Anschluss daran die Formen aus. Den Scherenschnitt übertrage ich dann auf den Malgrund (Papier, Büttenpapier oder Leinwand). Dann male ich zunächst den Hintergrund und im Anschluss daran benutze ich die Matrize, um die Objekte per Spachtel auszufüllen, wobei ich von außen nach innen arbeite. Im Verlauf dieses Prozesses arbeite ich intuitiv, indem ich Lücken lasse, die zum Hintergrund innerhalb der Figur werden. Danach arbeite ich weiter mit verschiedenen Kreiden und lasse mich von der Interaktion der verschiedenen Elemente und der Wechselwirkung mit dem Hintergrund inspirieren. So entstehen Gesten und kalligraphische Botschaften wie z.B. in der Arbeit mental overflow. Dabei benutze ich den Farbverlauf bzw. die unterschiedliche Struktur und Dicke der Farbe, die beim Spachteln entsteht. Je nach Beschaffenheit des Malgrundes ritze ich Zeichen in die noch nicht trockene Farbe. Beim Betrachter möchte ich den Effekt erzielen, dass sein Blick im Bild hin- und herschweift und dass er sein Augenmerk von der ganzheitlichen Gestalt auch auf Details richtet. Ich möchte keine Lösung anbieten, sondern eher ein Rätsel präsentieren. Auch die Titel sollen keine Hilfe bei der Interpretation bieten, sie sind eher paradox gesetzt wie close your eyes and see, finally unlimited limitations oder the game is over – this is no game.

Hans-Heinrich Dittrich: mental overflow (2023). Foto: Irene Daum.

Hans-Heinrich Dittrich: close your eyes and see (2020). Foto: Irene Daum.

Hans-Heinrich Dittrich: finally unlimited limitations (2024). Foto: Irene Daum.

Hans-Heinrich Dittrich: the game is over – this is no game (2021). Foto: Irene Daum.

Gibt es eine Werkgruppe Ihrer Arbeiten, die für Sie persönlich von besonderer Bedeutung ist?
Die Werkgruppe Ideenschatten, alle Arbeiten gemalt auf grauem Büttenpapier, steht für einen Wendepunkt in meiner künstlerischen Arbeit. Sie beginnt mit dem Gemälde Forgotten Pieces. Dieses Gemälde steht auch für den Beginn meiner Konzeptuellen Kunst, die ich GESTALT-ART nenne. Die von der Gestaltpsychologie untersuchten Wahrnehmungsprozesse, die von der Gestalttherapie auf eine emotionale Ebene gehoben werden, übertrage ich auf den künstlerischen Schaffensprozess. Entscheidend ist neben der Interaktion der einzelnen Objekte untereinander die Beziehung zwischen den Objekten und dem Hintergrund. Angefangen mit der Planung der Komposition von Objekten auf einem Hintergrund gehe ich beim kreativen Prozess immer mehr intuitiv und spontan vor. Das ist so weitgehend, dass aus dem Hintergrund weitere Figuren entstehen können und in den Figuren wiederum Hintergründe auftauchen, bis sich aus dem Ganzen eine Gestalt ergibt. So findet beim Malprozess ein ständiger Wechsel zwischen Figur und Hintergrund statt. Zwischen den Figuren untereinander und zwischen Figuren und Hintergrund entstehen Gesten, die ihre Spuren im Hintergrund und auch auf den Figuren hinterlassen. Deswegen hat der Begriff der GESTALT noch eine weitere Bedeutung -> GEST AL T = gestural alternative traces. Dies bedeutet übersetzt in etwa alternative Spuren/Zeichen gestischer Natur, denn ich hinterlasse auf meinen Bildern Spuren, die scheinbar in eine bestimmte Richtung weisen, die jedoch mannigfaltige alternative Bedeutungen haben können.

Hans-Heinrich Dittrich: Forgotten Pieces (2021). Foto: Irene Daum.

Welche künstlerischen Ziele verfolgen Sie bei Ihrer Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Gestalt-Psychologie? Gibt es aktuelle Forschungsfragen, die Sie besonders beschäftigen?
Die Ziele meiner künstlerischen Arbeit gehen über die Erkenntnisse der Gestalt-Psychologie hinaus. Ich betrachte meine Kunst als Wahrnehmungsexperiment. Die Spannungen, die zwischen den Figuren untereinander und den Figuren mit dem Hintergrund entstehen, betrachte ich als Gesten, die sich auf dem Hintergrund als Zeichen und Botschaften materialisieren und sich in ambivalenten und paradoxen Symbolen mit unbestimmter Bedeutung kundtun. Die Symbole sind paradox, weil sie scheinbar wie kalligraphische Elemente wirken oder an Hieroglyphen erinnern. Es sind jedoch intuitiv und spontan entstandene gestische Spuren, die in Interaktion mit anderen Objekten treten. Die Symbole entstehen zum Teil aus Lücken im Gemalten. Deswegen ist nicht  das, was ich male, wesentlich, sondern das, was ich weglasse.

Die Gestaltpsychologie hat vorrangig kognitive Wahrnehmungsprozesse untersucht und beschrieben. Mich interessieren aktuell mehr die emotionalen und soziokulturellen Aspekte der Wahrnehmung. Wie wird die Wahrnehmung durch emotionale Zustände und den sozialen Hintergrund des Betrachters beeinflusst? Welche Emotionen werden bei der Betrachtung eines Bildes hervorgerufen und wie führen sie zur Veränderung des jeweiligen Blickwinkels und der Wahrnehmung der Figuren, die in den Vordergrund treten? Wie groß muss der Anteil des Bekannten gegenüber dem Unbekannten sein, um sich weiter mit einem Kunstwerk zu beschäftigen? Wie wirkt sich die Umgebung, der jeweilige Raum, in dem die Kunstwerke präsentiert werden, und das gesamte Publikum auf die Bereitschaft aus, zu sehen und dabei Gesamtzusammenhänge, aber auch Details wahrzunehmen? 

Herr Dittrich, ich danke Ihnen für das interessante und aufschlussreiche Gespräch.

Beitragsbild: Hans-Heinrich Dittrich vor seiner Werkserie Ideenschatten (2022). Foto: Irene Daum.

Zitierweise

Irene Daum (2024): Hans-Heinrich Dittrich: Gestalt-Prinzipien als Inspiration. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d19379

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