Text: Ingrid Hoepel | Bereich: Grenzgänger, wissenschaftsbezogene Kunst
Übersicht: Ingrid Hoepel ist sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch tätig – eine Grenzgängerin zwischen beiden Bereichen. Der Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Forschung – die Emblematik in allen ihren Erscheinungsformen – ist auch Gegenstand ihrer Kunst. Das ist eine besondere Form wissenschaftsbezogener Kunst.
Blick auf historische Embleme
Ich beziehe mich in meinen Bildern und Bild-Text-Collagen auf die Kunstform des Emblems, die ich zu Beginn vorstellen möchte. Der kunst- und literaturgeschichtliche Fachbegriff bezeichnet eine Verbindung von Bild und Text, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts parallel zur Erfindung des Buchdrucks entsteht. Sie formuliert Lebensweisheiten und macht allgemeine Aussagen über Natur, Liebe, Tod, Krieg, Macht, Flucht und Vertreibung. Ihre Quellen sind antike Autoren, Mythologie, Naturkunde und Bibel. Die Themen der Emblematik der frühen Neuzeit sind auch unsere heutigen Themen, aber die Bewertung politisch-sozialer oder naturkundlicher Phänomene ist heute eine andere. Die klassische Form des Emblems ist dreiteilig: Motto (Überschrift, Inscriptio), Pictura (Bild als Holzschnitt, Kupferstich oder Radierung) und Subscriptio (Epigramm) stehen auf einer Buchseite und werden manchmal von Übersetzungen in andere Sprachen, mehrseitigen Kommentaren, Anmerkungen, Zitaten oder Noten begleitet.
Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein produzierten Hunderte von Autor*innen, Künstler*innen und viele Verlage die Bücher in ganz Europa. Sie wurden in hohen Auflagen gedruckt, nachgedruckt, immer wieder erfolgreich neu ediert, nachgeahmt, sie erschlossen sich neue Themenbereiche. Beim Publikum waren Emblembücher beliebt – nach dem Motto von Horaz „utile et dulci“ konnten sie belehren und unterhalten. Für die Verlage bedeuteten sie über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg ein profitables Geschäft. Aufgrund ihrer Bekanntheit, Beliebtheit und weiten Verbreitung übernahmen Bauherren und politisch Verantwortliche Embleme in die Architektur ihrer Schlösser, Rathäuser und Kirchen und nutzten die Embleme zur Repräsentation, Selbstdarstellung und Meinungsbildung.1 Bei Geselligkeiten und Festen dienten sie als Redeanlässe, und ähnlich wie Flugblätter und die ersten Zeitschriften waren Embleme ein wichtiger Bestandteil der Medienkultur und Informationspolitik. Anders als Flugblätter nahmen sie nicht offen Partei, sondern positionierten sich als ethisch-moralische Instanz, die allgemeine Kriterien für richtiges Verhalten propagierte. In dieser Form wurden Embleme auch von Geistlichen in Kirchen als didaktisches Mittel eingesetzt.
Manuskript und Typoskript als Collage-Material
Als Kunst- und Literaturwissenschaftlerin arbeite ich seit den 1970er Jahren über die verschiedenen Erscheinungsformen der Emblematik, sowohl im Buch als auch in der Architektur und auf Alltagsobjekten.2 Beim Verfassen von Publikationen und Vorträgen liegen zwischen der ersten Niederschrift als Manuskript und der Druckfassung viele verschiedene Fassungen. Vor der Arbeit mit dem PC galt: Die verworfenen, überarbeiteten Versionen oder die auf spätere Publikationen verschobenen Exkurse bewahrte ich auf, um sie später wissenschaftlich weiterzuverwenden.3 Zusammen mit fotokopiertem Material aus Emblembüchern, Reprints und anderer wissenschaftlicher Sekundärliteratur sammelte sich bis in die 1990er Jahre ein großer papierener Fundus an.
Parallel arbeitete ich als Künstlerin zeichnend, malend und collagierend. Dabei habe ich handschriftlich in Zeichnungen und Collagen hineingearbeitet, aber auch Manuskript- und Typoskriptbruchstücke in figürliche Malerei integriert. Ende der 1980er Jahre – nach Abschluss meiner Dissertation – wurde aus solch eher zufälligen punktuellen Verbindungen meiner beiden Arbeitsfelder ein bewusstes systematisches Verfahren. Bei der Durchsicht der umfangreichen Vorarbeiten für die Druckfassung fiel mir die graphische Qualität meiner Typoskriptseiten auf – sie bestanden aus Streichungen, Verdickungen durch Korrekturband und der damals üblichen Schicht von Tipp-Ex, das mit dem Pinsel aufgetragen wurde, aus breiten Überklebungen, die mit Uhu oder Tesaband nachträglich formulierte Passagen einfügten, sie enthielten Ausrisse und neu collagierte Seiten. Zum Teil nahmen sie reliefartige Formen von mehreren Millimetern Stärke an. Verschiedenfarbige Textmarker oder handschriftliche Anmerkungen verstärkten die graphisch attraktive Gestalt, die keinen künstlerisch-ästhetischen Gesetzmäßigkeiten folgte, sondern wissenschaftlich-gedanklicher Spracharbeit. Unzulänglichkeiten erster Textfassungen verlangten nach manuellen Überschreibungen und Überklebungen. Meine Zweifel an der Endgültigkeit der Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit führten folgerichtig zu der Idee, diese Seiten einer weiteren Bearbeitung zuzuführen – aber jetzt einer unter ästhetischen Gesichtspunkten, weiterhin mit Klebstoff und Collagematerialien, aber zusätzlich mit Pinsel und Farben. Ich begann damit, die Seiten zu übermalen, zu überkleben, bestimmte Passagen hervorzuheben – nun Kriterien von Komposition und Farbigkeit folgend. Ein nächster Schritt bestand darin, die A4-Seiten zu zerstören: Ich zerriss die Seiten und fügte die Schnipsel mit Kleister zu größeren Bildformaten neu zusammen, Bildträger waren Leinwand oder Kartone. In den 1990er Jahren entstanden auf diese Weise Collagen aus gerissenen und geklebten Typoskriptseiten, die ich mit mehreren lasierenden Schichten aus Acrylbinder und Farbpigmenten übermalte. Die Pigmente hafteten an den Reißkanten und verliehen den Bildern dadurch ein charakteristisches Erscheinungsbild, das Assoziationen an vergilbte Buchseiten, halbtransparente farbige Fenster oder an räumlich-reliefartige Architekturen hervorrief.
„Durch die von Hoepel angewandte Lasurtechnik scheinen die Textteile der gerissenen Manuskriptseiten oder anderweitigen Papiere durch und werden so als gleichsam graphischer Untergrund in die Bildwirkung miteinbezogen. Werden durch das Collageverfahren die ursprünglichen Sinnzusammenhänge zerstört, können doch gleichzeitig durch das Stehenbleiben von Wortfetzen oder ganzen Sätzen überraschend neue, teils ungewollte, teils gewollte Aussagen entstehen, die sich der Betrachter erschließen mag.“4
Das Material – die Forschungen zur Emblematik – bestimmte die Collagen von Beginn an inhaltlich, ohne dass eine Lesbarkeit der Texte für mich wichtig gewesen wäre. Texte in verschiedenen Schriftarten und -größen bestimmten die Bildwirkung durch ihre graphische und farbliche Erscheinung, nicht als bedeutungshaltige Texte:
„Der Betrachter, der von ferne vielleicht nur Strukturen wahrnimmt und ahnt, dass hier Schrift sein könnte, wird zum Leser, wenn er näher tritt. Das Lesen wir ihm nicht leicht gemacht. Wie ein Archäologe, der aus Fragmenten einen Textzusammenhang konjiziert, begibt er sich an die Arbeit, kombiniert das eine Halbverstandene mit dem anderen, das durch die transluzide Farbe hindurch kaum noch Erkennbare mit den Wortfragmenten. Den Sinn konstruiert der Leser aus den Brocken immer wieder neu. So entstand eine Arbeit, die, wie die Embleme, die Emblemsammlungen, die Emblembücher selbst, auf Fortsetzung, auf Variation, Korrektur, Verfeinerung angelegt, in sich die Zeichen ihrer Unabgeschlossenheit und Rätselhaftigkeit birgt.“5
Meiner Einschätzung nach liegt in dieser Arbeitsphase eine Konstellation der Verbindung von Kunst und Wissenschaft vor, die Peter Tepe als Strukturverwandtschaft bezeichnet hat.6 Wie Dietrich Bieber und Ulrich Kuder es in den zitierten Passagen beschreiben, weisen die Bilder, die auf diese Weise mit wissenschafts-analogen Arbeitsverfahren entstanden sind, Eigenschaften auf, die in anderer Form auch den untersuchten Objekten, den Emblemen, eigen sind – Bild und Text verbinden sich zu hintergründig verrätselten Objekten einer notwendig verlangsamten Wahrnehmung.
Textfragmente und Bilder – zwischen graphischer Struktur und Lesbarkeit
Das Betrachterverhalten veränderte sich, als ich gegen Ende der 1990er Jahre vergrößerte Textzeilen und Bilder zu verarbeiten begann – es handelte sich zuerst um Überschriften und Motti aus Emblembuchseiten mit Text und Bild, später kamen gezielt vergrößerte Zeilen aus Sprichwortsammlungen und Kopien von Sekundärliteratur mit Bildanhängen hinzu. Plötzlich fielen einzelne Worte und Bilder ins Auge, wurden durch ihre Schriftgröße oder die Bildqualität zu kompositionellen Schwerpunkten und begannen zugleich, inhaltliche Akzente zu setzen. Ich beobachtete, dass Betrachterinnen vergrößerten lesbaren Buchstaben innerhalb des Textgefüges die erste Aufmerksamkeit schenkten. Daraufhin begannen sie gezielt, die kleingedruckten Texte daneben zu entziffern und auf thematische Zusammenhänge zu befragen. Die als Thema erkannte Schrift rief die Erwartungshaltung hervor, dass die umgebenden Texte damit korrespondierten. Diesen Effekt verstärkte ich in thematischen Serien wie den zweiteiligen Emblem-Steinen, bei denen eine fast quadratische Pictura von einer querformatigen Leinwand in der Rolle der Subscriptio darunter begleitet und mit lesbaren Textfragmenten kommentiert wird.
Ähnliche Erfahrungen machte ich mit dem Eincollagieren von Bildern, sie gaben ein Thema vor, das wiederum die Wahrnehmung umgebender Bildelemente in eine bestimmte Richtung lenkt. Dabei werden Teilaspekte der emblematischen Picturae aktualisiert, anderes wird ausgeblendet:
„Ingrid Hoepel benutzt, isoliert, verändert, präzisiert diese Embleme so, dass der Betrachter veranlasst ist, ihren Sinn auch auf die heutige Gegenwart zu beziehen. Aufrühren, Aufruhr durch Trübung, selbst den Boden unter den Füßen verlieren und dann Feuer legen: Phänomene unserer Gegenwart, die IH notiert, reflektiert, auf ihre Ursachen hin befragt…“7
Gegenständliche Übermalungen auf Collagegrund
In der weiteren Entwicklung gewinnt die Übermalung von Collagegründen mehr Freiheit. Dabei spielen kleinformatige experimentelle Tagesblätter eine wichtige Rolle als Anregungsgeber. Tagebuchartig kombiniere ich ‚Schreibtisch- und Alltagsabfall‘ aller Art, zum Beispiel Reste ausgeschnittener Fotokopien, Negativformen, Verpackungspapiere und -kartone, Klebebänder, Transparentpapiere miteinander. Dazu kommen Overheadfolien, die nach der Dia- und vor der Beamer-Projektion als notwendiges Bildmaterial für Seminare und Vorträge dienten. Mit der Technik des Übermalens verbinde ich Frottage und Grattage, Fineliner, Permanent- und Boardmarker und Stempeldrucke – ein Bild-Tagebuch ergänzt das Geschriebene. Die Formate bleiben klein, collagierte Gründe verwandeln sich durch Übermalen in Landschaften, die Reißkanten werden zu Horizontlinien oder Baumsilhouetten. Schriftelemente übersetze ich in Fensterfassaden, mit gezielt eincollagierten emblematischen Figuren verbinden sie sich zu unerwarteten neuen Bedeutungen.
Andere Übermalungen konzentrieren sich auf ein einziges Emblem und kommentieren dessen Pictura durch andere Bildelemente, dazu gehört eine Serie, die sich auf Embleme von Gabriel Rollenhagen von 1611 bezieht, hier auf den angeblichen Rückwärtsgang des Krebses analog zu dessen Weltentwicklung.8 Bis auf bewusst platzierte Motto-ähnliche Zeilen verschwinden die Texte unter der Übermalung. In der Terminologie der Emblemwissenschaft könnte man vielleicht von einer Variante der Priorität der Pictura sprechen.
Oft integriere ich inzwischen nicht nur eigene Texte, sondern auch Bild-Selbstzitate, digitale Drucke früherer Bilder oder Teile davon. Im Zusammenhang mit einem Artikel über die emblematischen Bedeutungen der Eule habe ich sie als Bild für sexuellen Missbrauch entdeckt und immer wieder neu in Collagen thematisiert.9
Der Zugriff auf ein Thema erfolgt aus der Analogie zwischen Emblembedeutung und aktueller gesellschaftlich-politischer Problematik, die sich an einem Ereignis festmachen kann, aber nicht muss. Durch Wiederholungen und Selbstzitate, durch lebenslanges Festhalten an bestimmten mir wichtigen Themen ist inzwischen eine Art eigener emblematischer Kosmos gewachsen, der sich immer wieder auf frühere Bilder und Texte zurückbezieht, aber ständig neue Anregungen verarbeitet. Aus den vielen Varianten stelle ich abschließend zwei Serien mit verschiedenen thematischen und formalen Schwerpunkten vor.
Emblematische Reliefs mit Windows-Charakter
Seit 2009 bis heute entstehen Monitore und Reliefs. Die illusionistische dreidimensionale Wirkung der Reißcollagen veranlasste mich, Dreidimensionalität real werden zu lassen und einzelne Bildelemente vor die Fläche zu setzen. Wie auf einem Bildschirm scheinen sich einzelne Fenster zu öffnen, die sich überlagern, überschneiden, den Bildrahmen aufbrechen, etwas verdecken und verrätseln, aber auch durch unerwartetes Nebeneinander neuen Sinn ergeben können.
Zum Thema Jugendarmut geht das Relief … fliegt die Liebe zum Fenster hinaus von einem Jungen aus, der einen Reifen treibt – mit der Bedeutung, dass der Reifen, einmal in Bewegung gesetzt, unbeherrschbar werden kann.10 Die um die Pictura herum erscheinenden Sprichwörter kreisen um das Thema der Folgen von Armut. Wie zufällig ergibt sich dabei Fragmentierung durch Überschneidungen, die zugleich erhellendes Nebeneinander von Disparatem produzieren. Die Analogie der Form zu heutiger Forschungsarbeit am PC liegt im Windows-Prinzip – eine Website öffnet sich neben oder über der ersten, weitere Links führen in tiefere Ebenen, manche schärfen Auge und Gehirn durch Fokussierung, andere verunklären, führen auf Nebenwege. Die nahezu unbegrenzt erscheinende Verfügbarkeit von Inhalten verändert Wahrnehmung und Arbeitsweise der Wissenschaftlerin. Seiten gedruckter Emblembücher des 16. Jahrhunderts lassen sich neben ihre Adaption in Bürgerhäusern oder Kirchen legen. Dabei kann die zielstrebige Suche aber auch der Ablenkung erliegen, dazu verführen, sich von Fenster zu Fenster treiben zu lassen, sodass eine neue Variante des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft entstehen mag. Das Fenster-Prinzip, das im Alltag, aber auch von der Wissenschaft genutzt wird, übertrage ich zurück in die Materialität von Papier und Karton. Die traditionelle Form des Reliefs wird zur eingefrorenen Veranschaulichung virtueller Überlagerungen und Verfügbarkeiten. Vielleicht lässt sich dies Vorgehen als eine weitere Form von Strukturverwandtschaft zwischen Wissenschaft und Kunst bezeichnen – auf jeden Fall symbolisieren die Reliefs ein alltägliches und wissenschaftliches Verfahren am PC.
Dreiteiligkeit als bindende Form
Einen neuen Ansatz verfolge ich seit 2016. Ich erforsche die dreiteilige Form Emblem mit künstlerischen Mitteln auf ihre Tauglichkeit für künstlerisch formulierte Kommentare zu heutigen gesellschaftlich-sozial-politischen Problemen. Dieser Serie habe ich bewusst enge Regeln gegeben: Ich gestalte Embleme in ihrer idealen dreiteiligen Form mit Motto, Pictura und erläuterndem subscriptionalen Text. Jedes Blatt der Serie bezieht sich thematisch auf ein gezielt ausgewähltes historisches Emblem. Jeweils eine DinA4-Seite beginnt mit dem Motto des historischen Emblems in Originalsprache, eine Fußnote übersetzt und verweist auf das Original. Darunter folgt ein zweites Motto, das sich auf die neue Bedeutung bezieht. Die Pictura besteht aus einer übermalten Collage. Die Subscriptio benennt in möglichst knapper Sprache die neue Bedeutung aus heutiger Perspektive. In Anlehnung an die Vorbilder verwende ich ein in Wortwahl und Satzstellung altertümlich klingendes, rhythmisiertes Deutsch, das manchmal befremden mag. Unten auf der Seite stehen Anmerkungen, wie es sie auch in den historischen Emblembüchern gibt. Die A4-Seite wird als digitaler Druck vervielfältigt. Geplant ist, die bisher 25 Einzelseiten zu einem Emblembuch zusammenzufassen. Ein Beispiel: Auf die weltweite Zunahme von Flucht und Vertreibung habe ich 2016 mit dem ersten Emblem in dieser neuen Form reagiert.
Nachrichten und Bilder von Flüchtlingen bewegten mich, darunter das des syrischen Kindes Aylan Kurdi, dessen Leichnam an der türkischen Küste an Land gespült wurde.11 Eine Pictura der Embleme von Alciatus aus dem Jahr 1621 zeigt im Vordergrund einen Delphin, der an der Küste gestrandet und verendet ist, mit dem Motto: „In eum, qui truculentia suorum perierit“ (Auf einen, den die Gleichgültigkeit der Seinen ins Verderben gebracht hat). Die Subscriptio folgt der Anthologia Graeca und führt sinngemäß aus, dass der Delphin, ein Tier des Meeres, vom Meer selbst – „von den Seinen“ – getötet worden ist; das sei ein schlechtes Omen für alle Menschen, die sich auf einem Schiff dem Meer anvertrauen. In meiner Pictura verbinde ich den Delphin des Emblems mit dem auf der Flucht ertrunkenen Kind und gebe dem neuen Emblem das Motto: „Mausoleen für Kinder“. Ort des Geschehens war Bokrum, heute im Südwesten der Türkei, und ausgerechnet dort soll der persische Satrap Mausolos II. sein Grabmal errichtet haben, das bis heute als Mausoleum bekannt ist. Mit diesem Wissen formulierte ich eine neue Subscriptio, die völlig andere Schwerpunkte setzt als die für Alciatus‘ Delphin.
Forschungsansatz und Fragen
Der Gegenstand meiner wissenschaftlichen Forschung – die Emblematik in allen ihren Erscheinungsformen – ist auch Gegenstand meiner Kunst und bestimmt ihre Form. Über die Kenntnis von Emblembüchern und angewandter Emblematik, über das Schreiben von Artikeln zu bestimmten Themen, über Hinweise von Kollegen gehen die Inhalte in meine Kunst ein. Ich gehe dabei von der Hypothese aus, dass die Emblematik des 16. bis 18. Jahrhunderts für die Menschen eins der Medien darstellte, in dem sie ihre Weltsicht formulierten und über das sie miteinander kommunizierten – dem entsprechen heute Internet, Presse, soziale Medien, Fernsehen. Die damals behandelten Themen entsprechen im Kern den heutigen. Das Emblem war aber auch eine Form der Bild- und Sprach-Kunst. Meine eigene Kunst verstehe ich als ein Medium, mit dem ich meine Sicht auf die Welt und ihre Probleme formulieren und mitteilen möchte. Embleme haben für mich aber auch einen starken Aufforderungscharakter – ihre Verrätselung reizt zum fragend-forschenden Entschlüsseln, es macht mir Freude, ihre zeitbedingt moralisierenden Aussagen zu hinterfragen, sie aus heutiger Sicht neu zu bewerten, festgelegte Rollenbilder aufzubrechen, gesellschaftlich-sozial oder geschlechtlich begründetes genormtes Verhalten aus heutiger Sicht in Frage zu stellen, Alternativen anzubieten. Künstlerische Mittel scheinen mir dafür geeigneter als wissenschaftliche Aufsätze. Meine künstlerische Praxis begleite ich durch eine Vielzahl von Fragen, die ich hier nur beispielhaft stellen kann. Sie beziehen sich sowohl auf die Bedeutung meiner wissenschaftlichen Forschung für die Kunst als auch auf den Einfluss der künstlerischen Arbeit auf meine Emblemforschung. Im Folgenden lege ich den Schwerpunkt auf die erste Fragerichtung.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung meiner künstlerischen Arbeit habe ich zwei Verbindungen auf der Herstellungsebene bereits genannt – die analogen Strukturen bei der Verarbeitung des angefallenen Materials, das Aufgreifen der Präsentation von Bildern und Texten auf dem Bildschirm und im Relief. Beide künstlerischen Vorgehensweisen wären ohne meine wissenschaftliche Arbeit nicht denkbar. Der Schnittstelle von wissenschaftlichem Umgang mit dem Emblem und künstlerischem gilt mein weiteres Forschungsinteresse, dazu eine kleine Auswahl von Fragen:
- Der didaktische Impetus des Emblems kontrastierte immer mit dem verrätselnden Spiel, diese Diskrepanz ist auch in meinen Bildern spürbar – sie wollen eine Meinung vertreten, aber ohne Hintergrundwissen entziehen sie sich dem Verständnis. Lässt sich die Kunstform von ihren zeitgebundenen Antworten auf moralisch-ethische Fragen lösen?
- Eignet sich die Kunstform Emblem mit ihrem allegorisch-symbolischen Weltzugang und ihren Erscheinungsformen in Buch und Architektur dafür, die Sicht auf die heutige Welt künstlerisch zu gestalten?
- Inwieweit verträgt zeitgenössische Kunst ein Aufgreifen traditioneller Formen?
- Welche Wege sind möglich – die Kommentierung einer Pictura durch andere Bild- und Textelemente mittels Collage und Übermalung? Oder die strenge Adaption der historischen dreiteiligen Form?
Dazwischen liegen viele weitere mögliche Verfahren, die ich bisher nur angedacht, aber nicht ausgeführt habe.
Beitragsbild über dem Text: Andreas Alciatus: Emblematum libellus, Paris 1542, Emblem XLV. Foto: Reprint Darmstadt 1980 nach dem Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Signatur: 31/175: 106/107.
[1] Vgl. William S. Heckscher und Karl-August Wirth: Emblem, Emblembuch, in: Reallexikon der Deutschen Kunstgeschichte, Bd. V, München 1959: 85–228.
[2] Vgl. Ingrid Hoepel: Verzeichnis der Publikationen zur Emblematik, o. D., http://ingrid-hoepel.de (abgerufen: 4. November 2024).
[3] Ein Beispiel: Meine Dissertation Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch, Frankfurt am Main 1987 enthält ein Kapitel: „Sprichwort und ‚Sinnbild‘ als moralisch verbindliche Zeichen“ bei Justus Georg Schottelius, S.165–90. Zu dieser Thematik habe ich 1999 einen Vortrag gehalten, der sich mit einem Emblembuch von 1643 beschäftigt, zu dem Schottelius das Vorwort geschrieben hat: „Elster, Kanone und Fledermaus. Zum Verhältnis von Sprache und Moral in den Dreiständigen Sinnbildern von 1643″. Der Text wurde 2002 gedruckt: Wolfgang Harms/Dietmar Peil (Hgg.): Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik, Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies, Frankfurt am Main 2002: 635–655. Für diesen Artikel griff ich auf Material zurück, das ich teilweise bereits 1980-85 vorformuliert hatte. Mit dem Druck des Artikels wurde Typoskriptmaterial überflüssig.
[4] Zit. Dietrich Bieber: Collage und Emblem im Werk von Ingrid Hoepel, in: Brigitte Hartel, Bernfried Lichtnau und Berenika Partum (Hgg.), Bildende Kunst der Gegenwart in Norddeutschland und Nordpolen, Frankfurt am Main 2008: 113–126, h.114.
[5] Zit. Ulrich Kuder: Ingrid Hoepel – ungeliebt und ungezogen, Kiel 2006: 1–6, h. 3 [https://ingrid-hoepel.de/images/downloads/2006%20Ulrich%20Kuder%20-%20ungeliebt%20und%20ungezogen.pdf].
[6] Vgl. Peter Tepe: Strukturverwandt & philosophiebezogen, 8. November 2022, https://wissenschaft-kunst.de/strukturverwandt-und-philosophiebezogen (abgerufen: 4. November 2024).
[7] Zit. wie Anm. 5: 2.
[8] Vgl. Gabriel Rollenhagen: Nucleus Emblematum… Centura secunda, Arnheim 1613: II/61.
[9] Vgl. Ingrid Hoepel: Eulen in der Emblematik – von Weisheit, Verschwiegenheit und Blindheit, Kauzbrief 28/32 (2020): 10–22.
[10] Vgl. die Pictura bei Roemer Visscher: Sinnepoppen, Amsterdam 1614: 145.
[11] Mein Dank gilt Rubem Amaral, der zuerst auf diesen Zusammenhang hinwies: Emblem of the month n.007. https://emblemstudies.com/2016/03/eotm007/ (abgerufen: 10. November 2024).
Zitierweise
Ingrid Hoepel (2024): Embleme – Emblemforschung – Emblemkunst. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d19521
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