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Katrin von Lehmann: Zeichnen mit Handlungsanweisungen

Ein Gespräch mit Peter Tepe | Bereich: Interviews | Zeichnung zwischen Wissenschaft und Kunst

Übersicht: Im Gespräch erläutert Katrin von Lehmann die vielfältigen Wissenschaftsbezüge ihrer zeichnerischen Arbeit. 

Welche Wissenschaft ist oder welche Wissenschaften sind für Ihre künstlerische Arbeit relevant?
Naturwissenschaften, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte.

Naturwissenschaften faszinieren mich, da sie die chaotisch anmutenden Lebensphänomene mit logischen Zusammenhängen zu erklären suchen. Dafür entwickeln sie Modelle, die wie eine weitere Realität verhandelt werden. Die Naturwissenschaftler*innen zeigen große Experimentierfreudigkeit. Eine wissenschaftliche Erkenntnis gilt so lange, bis neue Experimente die vorherige Erkenntnis widerlegen. Manchmal wird dann noch mal völlig neu angesetzt.

Naturwissenschaften haben fast eine Monopolstellung bei der Frage, wie Leben erklärt wird. Ich sehe dies kritisch. Denn es existiert nur das, was gemessen werden kann. Das, was nicht messbar ist, existiert für sie nicht. In die naturwissenschaftliche Forschung fließen viele öffentliche und private Gelder.

Philosophische Fragen, die beleuchten, wie alles miteinander zusammenhängt, interessieren mich. Bin aber nie tiefer in Philosophie eingestiegen.

Wissenschaftsgeschichte hatte ich während der Artist-in-Residence 2012 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte kennen- und sofort schätzen gelernt. War fasziniert von den präzisen Fragen, die sie zu bestimmten Themen entwickelt. Es ist wichtiger, genaue Fragen zu stellen als sofort Antworten zu liefern. Das erinnert mich an meine künstlerische Praxis. Neu war für mich, dass Wissenschaftshistoriker*innen kritisch auf ihre eigene Arbeitsmetoden schauen. Die Texte von Hans-Jörg Rheinberger z.B. über Experimentalsysteme habe ich interessiert gelesen.

Auf welche Theorien/Methoden/Ergebnisse dieser Wissenschaft(en) beziehen Sie sich in Ihrer künstlerischen Tätigkeit?
Mich interessieren Notationen, Daten, Archive und mit welcher Methode Prozesse verschriftlicht, notiert, verbildlicht oder in andere Formen gebracht werden, um so mit diesem Fixierten zu forschen. Dieses Fixierte ist in der Naturwissenschaft nicht der Forschungsgegenstand an sich, sondern eine Übersetzung des Forschungsgeschehens. 

Folgende vier wissenschaftliche Themen mit Arbeitsweisen sind Beispiele für die Fokussierung meiner künstlerischen Arbeiten, die ich weiter unten noch genauer beschreiben werde:   

Wolkenaufzeichnung in der Meteorologie. Der wissenschaftliche Name der Wolkenbeobachtung ist Augenbeobachtung. Hier hat mich diese Methode interessiert, wie die wandelnden Formationen der Wolken, also die Übergänge mit dem menschlichen Auge und nicht mit technischen Geräten klassifiziert werden. Daraus sind die Augenbeobachtungen entstanden (siehe unten).

Katrin von Lehmann: Augenbeobachtung 1 (2010). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Augenbeobachtung 1 (2010). Foto: Bernd Hiepe.

Katrin von Lehmann: Detail aus Augenbeobachtung 1 (2010). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Detail aus Augenbeobachtung 1 (2010). Foto: Bernd Hiepe.

Wissenschaftsgeschichte: Dokumente zum Thema menschliche Vielfalt/historische Rassentheorien: Die partikularen Untersuchungen am Menschen vernachlässigen eine Gesamtsicht auf den Menschen. Daraus sind die mehrschichtigen, perforierten Zeichnungen entstanden (siehe unten).

Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 1-23 (2012/2013). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 1-23 (2012/2013). Foto: Bernd Hiepe.

Tafelzeichnungen der Naturwissenschaftler*innen zum Thema Wechselwirkung Atmosphäre/Meer: Eigenhändige Tafelzeichnungen der interviewten Naturwissenschaftler*innen haben mehr Potenzial komplexe Gedankengänge zu kommunizieren als eine digital ausgearbeitete Visualisierung, weil es den bisherigen Forschungsstand grundsätzlich in Frage stellte.  Ich stellte meine Forschung zur Zeichnung auf den Prüfstand, indem ich mich in ein Experiment begab: Daraus sind die Blackboard Drawings entstanden (siehe unten).

Katrin von Lehmann: Blackboard Drawing 2 (2015). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Blackboard Drawing 2 (2015). Foto: Bernd Hiepe.

Genetik: Das Ergebnis des internationalen GenomForschungsprojekts von 2003 brachte die Wissenschaftscommunity damals in Aufruhr, weil es den bisherigen Forschungsstand grundsätzlich problematisierte. Ich stellte meine Forschung zur Zeichnung auf den Prüfstand, indem ich mich in ein Experiment begab: Ich entwickelte 2015 die Proxy-Zeichen-Technik (PZT), mit der ich bis heute arbeite. Das Projekt heißt Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr.

Katrin von Lehmann: Arbeitsmaterial für die Proxy-Zeichen-Technik (2019). Foto: Bernd
Hiepe.
Katrin von Lehmann: Arbeitsmaterial für die Proxy-Zeichen-Technik (2019). Foto: Bernd Hiepe.

Wie war Ihr Interesse an Kunst in der Schulzeit?
In meiner Kindheit und Jugend habe ich intensiv gezeichnet und Klavier gespielt. Rückblickend sehe ich, dass das Klavierspielen einen Einfluss auf meine künstlerische Entwicklung nahm: Ich arbeite oft gleichberechtigt mit linker und rechter Hand. In der Proxy-Zeichen-Technik von 2015 habe ich festgelegt, dass ich mit linker und rechter Hand zeichne. Und mich sprechen Notationen und Daten an, die etwas über einen bestimmten Prozess aussagen, aber nicht der eigentliche Prozess sind. Basierend auf ihnen entwickle ich künstlerische Handlungsanweisungen.

Welches sind die wichtigsten für Ihre weitere künstlerische Entwicklung relevanten Einsichten, zu denen Sie während Ihres Studiums gelangt sind?
Während des Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in München hatte ich einen Job bei einem blinden Ehepaar, das selbstständig sein Leben führte. Die Begegnung mit den beiden hat meine künstlerische Entwicklung nachhaltig beeinflusst. Habe durch sie gelernt, dass wir in einer Welt leben, die von Sehenden bestimmt und geregelt ist. Und oft erlebt, dass unsere Wahrnehmung, besonders das Sehen selektiv ist. Wurde damals aufmerksam für das, was existent, aber nicht sichtbar ist. Ich hatte bis dahin intensiv das gezeichnet, was ich gesehen habe. Dann verlagerte sich mein Interesse auf Prozesse, die unter dem Sichtbaren liegen. Die sichtbare Oberfläche wurde immer seltener mein Anschauungsgegenstand. Zeichnete über Jahre mit geschlossenen Augen, zeichnete z.B. aus der Erinnerung Wegstrecken, die ich zurückgelegt hatte. Brachte Geräusche, Bewegungen und meine Blickrichtungen aufs Papier und weniger das, was ich gesehen hatte.

Katrin von Lehmann: Transição 22 (2006). Foto: Katrin von Lehmann.
Katrin von Lehmann: Transição 22 (2006). Foto: Katrin von Lehmann.

Was waren die entscheidenden Impulse für die weitere Entwicklung? Wie hat sich das Interesse an bestimmten Wissenschaften bei Ihnen herausgebildet? Welches sind bei Ihnen die entscheidenden Weichenstellungen in Richtung wissenschaftsbezogene Kunst?
Die Artist-in-Residence am Wettermuseum Lindenberg bei Frankfurt/Oder 2009 löste einen solchen Impuls aus. Sie brachte ein völlig neues Gebiet in mein Interessenfeld, nämlich die naturwissenschaftliche Forschung, deren Ziel es ist, Phänomene zu erklären. Ich versuchte zuerst den wissenschaftlichen Ansatz zu verstehen und entwickelte dann eigene Fragestellungen, die ich in meiner künstlerischen Praxis umsetzte. Mein Fokus war nach der Residence am Wettermuseum auf naturwissenschaftliche Institute europaweit gerichtet, an denen ich mal durch Einladungen, mal durch eigene Initiative künstlerische Projekte realisierten konnte.

Augenbeobachtung ist der wissenschaftliche Begriff für Wolkenaufzeichnung. Das war meine erste künstlerische Arbeit mit Naturwissenschaftsbezug. Ich war fasziniert vom Meteorologischen Observatorium Lindenberg, das ich 2009 während der Artist-in-Residence am Wettermuseum Lindenberg kennengelernt hatte. Im Observatorium fiel mir die Kombination von High Tech und Basteln auf: schwarz gestrichene Räume mit großen Hochleistungsrechnern und Wetterballons, an denen Geräte provisorisch befestigt wurden.

Zu meiner Überraschung wird wissenschaftliche Wolkenbeobachtung mit den menschlichen Augen gemacht, da die Augen leistungsstärker als technische Geräte darin sind, in den sich ständig verändernden Formen der Wolken Muster zu erkennen.

Ich interessiere mich für die Klassifizierung der Wolken. Wer hat das heute gültige Klassifizierungsschema erfunden? Luk Howard 1802 in London. Nach wie vor finde ich es faszinierend, dass mit dieser Wolkenklassifizierung – einem konstruierten Schema – die hochkomplexen Formen der Wolken verständlich und kommunizierbar einzuordnen sind.

Zu meiner künstlerischen Vorgehensweise: Ich habe mir über einen Monat Daten der Wolkenaufzeichnung vom Observatorium besorgt. In Anlehnung an die Vorgehensweise der Augenbeobachtung entwickle ich ein künstlerisches Verfahren, das den Übergang von Beobachtetem in ein System beleuchtet.

Katrin von Lehmann: Ausdruck aus dem wissenschaftlichen Wolkentagebuch für den
Zeitraum von einem Monat (2010). Foto: Katrin von Lehmann.
Katrin von Lehmann: Ausdruck aus dem wissenschaftlichen Wolkentagebuch für den Zeitraum von einem Monat (2010). Foto: Katrin von Lehmann.

Katrin von Lehmann: Dokumentation des Arbeitsprozesses mit Ausdrucken des wissenschaftlichen Wolkentagebuchs (2010). Foto: Katrin von Lehmann.
Katrin von Lehmann: Dokumentation des Arbeitsprozesses mit Ausdrucken des wissenschaftlichen Wolkentagebuchs (2010). Foto: Katrin von Lehmann.

Katrin von Lehmann: Dokumentation des Arbeitsprozesses im Atelier (2010). Foto: Katrin von Lehmann.
Katrin von Lehmann: Dokumentation des Arbeitsprozesses im Atelier (2010). Foto: Katrin von Lehmann.

Den Blick in den Wolkenhimmel ersetze ich durch den Blick in das Wolkentagebuch, in dem die lateinischen Bezeichnungen der Klassifizierung stehen. Was sagen sie mir? Ich übersetze sie in Zeichnungen, ohne dabei an Wolken zu denken; die Zeichnungen sind freie Assoziationen zu den lateinischen Begriffen. Die so entstandenen Arbeiten falte ich jeweils nach dem gleichen Prinzip und schichte sie chronologisch.

Blick auf Vielfalt: 2012/2013 war ich Artist-in-Residence am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin bei der Forschungsgruppe Eine Wissensgeschichte der menschlichen Vielfalt von Veronika Lipphardt. Meine ersten Begegnungen mit Wissenschaftshistoriker*innen fand ich sehr spannend, da sie präzise Fragen zu bestimmten Themen stellen. Das Gewicht liegt auf dem sorgfältigen Fragenstellen und weniger darauf, schnell Antworten zu finden. Das hat mich angesprochen, da ich in meiner Arbeit Fragestellungen entwerfe, die ich künstlerisch bearbeite.

In der Auseinandersetzung mit dem Thema menschliche Vielfalt/ historische Rassentheorien habe ich eine neue Technik entwickelt: das Perforieren meiner Zeichnungen. Ich hatte Zugang zu dem digitalen Archiv mit historischen Dokumenten zu menschlicher Vielfalt/ historische Rassentheorien und schaute es mir genauer an. Dabei fiel mir auf, dass immer bestimmte Details behandelt wurden wie z.B.: Vermessen der Schädel, Darstellungen der Augen-, Ohr- oder Nasenformen, Blutgruppentabellen, Landkarten mit Sprachzuweisungen. Im Atelier habe ich mit allen Stiften aus der Buntstiftkiste eine abstrakte Zeichnung in grober Assoziation zur menschlichen Vielfalt gemacht und darüber ein Blatt Papier gelegt, das ich vorher perforiert hatte. Die darunter liegende Zeichnung war durch die Löcher sichtbar.

Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 1-4 (2012/2013). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 1-4 (2012/2013). Foto: Bernd Hiepe.

Diese Technik erwies sich als eine sehr spannende Vorgehensweise, denn je mehr ich ein Blatt Papier mit oder ohne Zeichnung perforiere, desto näher gelange ich an einen nicht vorhersagbaren Moment, bei dem sich das Papier in die dritte Dimension wölbt. Es entstehen fragile, dreidimensionale Papierarbeiten. Es interessiert mich, was dabei mit dem Motiv der Zeichnung passiert.

Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 5-9 (2015). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Blick auf Vielfalt 5-9 (2015). Foto: Bernd Hiepe.

Blackboard Drawings: 2015 war ich als Artist-in-Residence am Geophysikalischen Institut in Bergen/Norwegen, in dem auch das Bjerkness Center for Climate Research untergebracht ist. Habe Wissenschaftler*innen in ihrem jeweiligen Arbeitsraum aufgesucht, um uns gegenseitig die Arbeit vorzustellen. Um mir ihre komplexe Arbeit verständlich zu machen, ging jede/r Wissenschaftler*in von sich aus an die Tafel und fertigte dort Skizzen an. Ich war überrascht, dass sie die spontanen, eigenhändigen Zeichnungen an der Tafel dem Medium der fertig ausgearbeiteten Visualisierung am Rechner vorgezogen hatten. Das zeigt, welches kommunikative Potenzial die spontane Zeichnung in einem Gespräch hat.

Mit den Tafelzeichnungen der Wissenschaftler*innen habe ich die Serie Blackboard Drawings entwickelt: Ich wische Bereiche der Skizzen an der Tafel mit einem feuchten Schwamm weg und fotografiere die übrig gebliebene Zeichnung in verschiedenen Phasen des Trocknens. Die so entstandenen Fotografien loche ich mit dem Stanzeisen und lege sie übereinander.

Katrin von Lehmann: Blackboard Drawing 4-01 (2015). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Blackboard Drawing 4-01 (2015). Foto: Bernd Hiepe.

Serien aus dem Projekt Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr

Das Projekt Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr ist der offen angelegte Versuch, mit einer aus den Naturwissenschaften entlehnten Methode – der der festgelegten Verfahren oder Regelwerke – das Feld der Zeichnung neu aufzurollen. Gelange ich zu neuen/anderen Bildern, wenn ich diese Vorgehensweise über einen langen Zeitraum praktiziere? Ich nenne sie die Proxy-Zeichen-Technik (PZT): Ich limitiere die zeichnerische Tätigkeit auf einfache, sich wiederholende, schnelle Bewegungen der rechten und linken Hand. Die Auswahl der zu nutzenden Farben entfällt, da ich alle Buntstifte des Kastens verwende, die in einer zufälligen Reihenfolge liegen.

Hanne Loreck schreibt dazu in textura performativa 5 auf Seite 63:

„Ein (natur-) wissenschaftliches Experiment lässt sich auf mindestens zwei Weisen beobachten. Einmal steht die Kontrolle des Ablaufs hin zum Eintreffen des vorangenommenen Ergebnisses im Vordergrund, das andere Mal lenken die Beobachter*innen alle Aufmerksamkeit auf den Ablauf selbst. Die Bestätigung der Hypothese bildet den einen Pol, die Abweichungen im ‚Normalverlauf‘ zu registrieren den anderen. Solche Unregelmäßigkeiten sind es, die zieloffen und entgegen jeder wissenschaftlichen Forderung von Wiederholbarkeit eines Experiments Neues und Unbekanntes denkbar werden lassen: Als Pfad – oder auch Methode begriffen, heißt Methode/méthodos doch ‚Weg zu etwas hin‘ – zweigen sie aus dem Geplanten ab und führen in, im Wortsinn, Unvorhergesehenes.

‚Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr‘ (seit 2015) zählt zur zweiten Gruppe, wenn Katrin von Lehmann das Setting einer (natur-) wissenschaftlichen Versuchsanordnung auf ihre künstlerische Praxis überträgt. Die Künstlerin eignet sich also den allgemeinen Referenzrahmen für die Erforschung bestimmter (wissenschaftlich brisanter, aktueller) Phänomene an, um dann zweierlei zu erwirken: Mittels der Eckdaten für eine solche Untersuchung stellt sie eine neue, eigene Wirklichkeit her. Diese ‚neue‘ Wirklichkeit manifestiert sich als ein Kunstwerk, sie ‚ist‘ ein autonomes ästhetisches Objekt. Die Wirklichkeit des Ästhetischen bleibt aber zugleich eine visuelle und methodische Verweisstruktur, in der die Übertragung des Experimentalsystems auf eine künstlerische Produktion etwas über wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung an sich sagt. Thematisch gelten die ästhetischen Analogien dem komplexen molekularbiologischen Feld mit seiner Erforschung der Struktur-, Funktions- und Ausdrucksweise des Gens.“  

Zu meiner künstlerischen Vorgehensweise: Der Bauplan des Lebens soll in den Paaren der Basen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C) enthalten sein. Die Genetik übernimmt in meinem Projekt die Rolle eines Referenzraumes und verweist auf etwas Zukünftiges, noch nicht Benennbares. Ich wählte die Buchstaben A, T, G und C als Ausgangsmotiv für die ersten Proxy-Zeichnungen.

Nach ca. 1,5 Jahren fange ich an, in der PZT runde Formen zu zeichnen. Ich assoziiere runde Formen mit kleinsten Lebensformen wie Molekülen oder Zellen, aus denen Lebewesen entstehen. Nach weiteren Jahren spürte ich, dass meine körperliche Zeichenweise der PZT in den physischen Raum will. Ich bin mit Darstellungen von Buchstaben oder runden Formen nicht mehr zufrieden. Ich strebe an, dass die eigentliche zeichnerische Aktion in der PZT zum Motiv wird und nicht einem Motiv folgen soll. So montiere ich Papiere an Balken eines temporären Arbeitsraumes und zeichne in der PZT auf die dreidimensionalen Papiere. Oder ich montiere Papiere auf eine Wand, die mir durch ihre glatte und rauhe Oberflächen auffällt. Die jeweils neue physische Situation vor Ort fordert mich heraus, die Vorgehensweise der PZT an die räumliche Situation anzupassen und somit zu variieren. Dieses Experimentieren bringt mir viel Freude.

Katrin von Lehmann: Proxy 1-01 (2015). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Proxy 1-01 (2015). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Proxy 8-3 (2017). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Proxy 8-3 (2017). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Proxy 18-2 (2019). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Proxy 18-2 (2019). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Ausstellungsansicht feldern.zusammentun und auseinandersetzen im ZAK der Zitadelle Spandau (2021). Foto: Lutz Bertram.
Katrin von Lehmann: Ausstellungsansicht feldern.zusammentun und auseinandersetzen im
ZAK der Zitadelle Spandau (2021). Foto: Lutz Bertram.

Als ich von 2021 bis 2024 als Artist-in-Residence der Young Academy for Sustainability Research (YAS) am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) zum Thema Nachhaltigkeit gearbeitet habe, entwickelte ich meine ersten Wandzeichnungen. Dazu ein Zitat von Anja Gerdemann aus Ist Nachhaltigkeit nah oder fern, bunt oder schwarz-weiß?, S. 2–6:

„Wie ging Katrin von Lehmann mit ihrer Technik (der PZT) auf das Thema Nachhaltigkeit zu? Die Künstlerin bezog bei ‚Proxy 38‘ die physische Umgebung direkt mit ein. Die linke und rechte Hand wechselnd, zeichnete sie auf die 8 Meter lange Wand ihres Freiburger Ateliers – einem ungenutzten Raum im FRIAS Institut – und löste die Zeichnung vom Papier. Auf einer auf dem Zeichentisch liegenden, begrenzten Papierfläche ist die Proxy Zeichen Technik schon körperbezogen, ein performativer Akt. Bei den Zeichnungen der DNA-Basen bewegte sich die Künstlerin um den Tisch und zeichnete aus allen Richtungen. Das Auftragen von Buntstiftlinien mit wechselnden Händen auf die Ausmaße einer acht Meter langen, dazu statisch vor der Zeichnerin befindlichen Wand, beansprucht den gesamten Körper. Sechs Buntstiftkästen nutzte die Künstlerin für ‚Proxy 38‘. Wenngleich die Künstlerin keine konkreten/sichtbaren Motive in eine Zeichnung überträgt, ergeben sich durch die experimentelle Proxy -Zeichen-Technik dennoch überraschend konkrete Formen. Wahrnehmbar sind Linienscharen, kreisförmige Felder und Knäuel, ein Durcheinander von Strichen, spannende Überschneidungen und Überlappungen. Quadratische Leerstellen treten hervor. Sie entstanden durch übriggebliebene leere Papierstücke, die die Künstlerin auf der Wand befestigte, überzeichnete und wieder von der Wand entfernte.

Katrin von Lehmann hat sich schon für frühere Arbeiten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausgetauscht. Neu ist beim hiesigen Projekt, dass erst die Zeichnung entstand und die Künstlerin dann auf verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des YAS und FRIAS zuging, um, in Anlehnung an die geschichtswissenschaftliche Methode der Oral History, sogenannte ‚Gesprächsexperimente‘ zu führen.[1] Die Künstlerin traf ihre Gesprächspartnerinnen und -partner vor der Wandzeichnung ‚Proxy 38‘. Die Interviews wurden gefilmt und sind nun im Zusammenschnitt bzw. anhand von sieben QR-Codes im T66 zu sehen.[2] Katrin von Lehmann lud vor allem Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der YAS und des FRIAS zu den Interviews ein. Durch die von der Künstlerin sorgfältig vorbereiteten Fragen entfaltete sich aus den ganz unterschiedlichen fachlichen Perspektiven ein gemeinsames Nachdenken über Nachhaltigkeit mit spannenden Erkenntnissen. Der Politikwissenschaftler Dr. Benjamin Schütze stellt fest, dass – wie bei von Lehmanns einzelnen Linien und Strichen – erst viele kleine, einzelne Schritte nötig sind, um im großen Ausmaß Nachhaltiges entstehen zu lassen. Neues zu entdecken ist Dr. Rita Sousa Silva zufolge nicht zwangsläufig planbar. Das stellt sie in ihrem Forschungsfeld der Urban and Forest Ecology fest. Genau wegen der Überraschungen, sind sich von Lehmann und Silva einig, empfinden sie beide den Forschungsprozess so spannend und lebendig. Berührend ist der Moment für die Gesprächsteilnehmenden, wenn die Kulturanthropologin Dr. Sarah May für die Beschreibung ihrer Nachhaltigkeitsforschung Begriffe, wie ‚dicht‘, ‚fasrig‘, ‚diffus‘, ‚überlappend‘ und ‚überschneidend‘ verwendet, die auch im Werk von Lehmanns eine wichtige Rolle spielen. May sieht in ‚Proxy 38‘ den Prozess der Nachhaltigkeit visualisiert und wünscht sich, ‚da zu stehen, bei dem kleinen, schlagenden Ball, wie ein Meteorit. Dann wäre es so einfach und die Energie wäre auf etwas Bestimmtes gerichtet.‘

Das gemeinsame, konzentrierte Nachdenken über etwas ermöglicht dem Philosophen Dr. Christoph Durt zufolge grundsätzlich neue Aussagen und Ideen. Die Kunsthistorikerin und -kritikerin Isabelle Graw nennt dies ‚etwas Drittes, was sonst nicht stattgefunden hätte. Und das ist bis heute meine Forderung an Interviews, nämlich, dass dort Gedanken entstehen sollen, die nur durch das Zusammenkommen von zwei Personen im Gespräch überhaupt möglich werden.‘[3] Setzt man Katrin von Lehmanns Wandzeichnung zu diesen Aussagen in Bezug, ist der Entstehungsprozess durch eine fertige Zeichnung nicht abgeschlossen oder begrenzt, sondern kann fortgeführt, auf eine andere Ebene gebracht werden, neue Impulse bekommen. Vollendet ist die Zeichnung der Künstlerin zufolge erst, wenn sie betrachtet wird.

Welche Leichtigkeit und Neugierde doch darin liegt, Regeln zu definieren, Grenzen aufzuheben oder neu zu setzen! Wenngleich es widersprüchlich klingt: Genau darin liegt die Freiheit der zeichnerischen Praxis Katrin von Lehmanns.“ 

Katrin von Lehmann: Über den Rand gehen 1, (2023). Foto: Bernd Hiepe.
Katrin von Lehmann: Über den Rand gehen 1, (2023). Foto: Bernd Hiepe.

Auskünfte über die aktuellen künstlerischen Projekte. 
Mein aktuelles Projekt zu dem Herbarium des österreichischen Botanikers Friedrich Welwitsch (1806–1872) befindet sich in der Recherchephase. Als Artist-in-Residence war ich im März/April 2024 am Lissaboner Naturkundemuseum, um zu Welwitsch zu forschen. Er war von 1853–1860 mit der finanziellen Unterstützung des damaligen portugiesischen Königs sieben Jahre in Angola, um dort die tropische Pflanzenwelt zu erforschen. Die gesammelten Pflanzen aus Angola befinden sich heute zu einer Hälfte im Lissaboner Naturkundemuseum und zur anderen Hälfte in London.

Katrin von Lehmann: Arbeitsraum im Naturkundemusem Lissabon, MUHNAC (2024). Foto: Eduardo Ribeiro.
Katrin von Lehmann: Arbeitsraum im Naturkundemusem Lissabon, MUHNAC (2024). Foto: Eduardo Ribeiro.

Zusammenfassend: Welche künstlerischen Ziele verfolgen Sie bei Ihrer Auseinandersetzung mit Wissenschaften?
Was mich an Naturwissenschaft interessiert: Naturwissenschaftler*innen erklären chaotisch anmutende Lebensphänomene mit logisch aufgebauten Modellen. Mich interessiert das Verhältnis von Ordnung und Unordnung zu untersuchen und dieses Spannungsfeld in eine ästhetische Form zu übersetzen.

Haben naturwissenschaftliche Daten noch eine weitere Qualität als die wissenschaftliche Information? Mein Fokus liegt auf der Wegstrecke. Der Prozess bringt das Ergebnis, das nicht geplant ist.

Ich brauche die Begegnung mit Menschen. Muss die Wissenschaftler*innen kennenlernen. Ausschließlich über das Lesen interessanter Texte kann ich keine künstlerischen Arbeiten entwickeln.

Möchte Bilder finden für etwas, das mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist, aber einen Bezug zu unserem Leben hat. Deshalb interessieren mich vor allem abstrakte Bilder.

Beitragsbild über dem Text: Katrin von Lehmann: Ausstellungsansicht Von Genen und Menschen. Wer wir sind und werden könnten im Deutschen Hygiene Museum Dresden (2023). Foto: David Brandt.


[1] Bezüglich des Interviews als wissenschaftliche Methode bezieht sich von Lehmann auf Dora Imhof und Sibylle Omlin: Interviews. Oral History in Kunstwissenschaft und Kunst, München 2010, sowie Anke te Heesen: Revolutionäre im Interview. Thomas Kuhn, Quantenphysik und Oral History. Berlin 2022.

[2] Durch die Präsentation der Filme in der Ausstellung bleibt Proxy 38 als Kunstwerk erhalten, denn der Raum im FRIAS, in dem sich die Zeichnung derzeit befindet, wird renoviert und die Zeichnung dabei vermutlich zerstört bzw. nur Fragmente können voraussichtlich herausgelöst und bewahrt werden.

[3] Gabriela Christen: Zwischen Celebrity Cult und produktiver Kontroverse. Isabelle Graw und Diedrich Diederichsen über Interviews. In: Dora Imhof und Sibylle Omlin: Interviews. Oral History in Kunstwissenschaft und Kunst, München 2010, S. 59-68, hier: S. 64.

Zitierweise

Peter Tepe (2024): Katrin von Lehmann: Zeichnen mit Handlungsanweisungen. w/k - Zwischen Wissenschaft & Kunst. https://doi.org/10.55597/d19405

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